«Z um Ersten, zum Zweiten und … zum Dritten!»
Vicky schreckte hoch. Sie war doch tatsächlich eingenickt. Das war ihr ja noch nie passiert! Hoffentlich hatte es keiner gesehen. Sie schielte zu ihrem Vater hinüber. Doch der hatte seinen Füller von Montblanc in der Hand, den ihm Eva zum Geburtstag geschenkt hatte, und schrieb etwas auf den Block seiner Schreibmappe. Obwohl ihm die Höhe der einzelnen Gebote direkt nach der Auktion zusammen mit den Angaben zu den Käufern vorliegen würden, konnte er es nicht lassen, stets alles zu protokollieren. Er schlief nur ruhig, wenn er über alles und jeden die Kontrolle hatte.
Vicky rückte den Blazer ihres cremefarbenen Hosenanzugs zurecht und straffte die Schultern. Auf dem Tisch von Franz, der seit zwanzig Jahren alle Auktionen im Kunsthaus Lambach durchführte, stand das Objekt, das gerade ersteigert worden war: Es war eine Druckgrafik. Sie zeigte den Kopf einer jungen Frau, der auf dem Schoß eines älteren Mannes ruhte, der ihr tröstend die Hand auf den Rücken gelegt hatte. Vicky hatte die Zeichnung bei einem Vorstandsmitglied einer großen Autofirma entdeckt. Der Mann verfügte über den Nachlass seines Vaters, in dem sich eine Menge Werke von ganz unterschiedlicher Qualität befunden hatten. Der Name der Künstlerin, Sidonie Springer, hatte Vicky damals noch nichts gesagt, und sie glaubte auch nicht, dass ihr Bild viel Geld einbringen würde; auf tausendzweihundert Euro hatte sie den Wert der Grafik geschätzt. Aber etwas an dem Bild hatte sie berührt. Am liebsten hätte sie es dem Mann für diesen Preis selbst abgekauft, vielleicht hätte er es ihr sogar gegeben.
Vicky reckte den Hals, um zu sehen, für wie viel die Grafik versteigert worden war. 14500 Euro hatte Hubert in seiner steilen Handschrift notiert. 14500! Hatte ihr Vater vielleicht eine Null zu viel aufgeschrieben? Nein! Er machte niemals Fehler. Vicky setzte sich gerade hin. Bezog sich die Summe vielleicht auf das vorherige Objekt, und die Versteigerung der Grafik fing jetzt erst an? War sie vielleicht länger als nur für ein paar Sekunden eingenickt?
Nein, das war es auch nicht! Jetzt sah Vicky, dass die Druckgrafik durch einen Eichenholzblattschnitt aus dem 15. Jahrhundert ersetzt wurde, auf dem die heilige Veronika mit dem Schweißtuch Christi abgebildet war.
14500! Obwohl Vicky es immer noch nicht so recht glauben konnte, spürte sie, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Der Preis eines Kunstwerks ließ sich nicht objektiv bestimmen, es war immer so viel wert, wie jemand bereit war, dafür zu bezahlen. Ihr Instinkt, dass diese Druckgrafik etwas Besonderes war, hatte sie nicht getrogen. Auch wenn sie mit einem Gebot in dieser Höhe in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Und ausgerechnet diese Auktion hatte sie verpasst …
Vicky hatte in der Nacht nicht gut geschlafen, denn sie hatte wieder diesen Traum gehabt. Den Traum, den sie viel zu oft träumte. Darin saß sie auf der Fensterbank eines alten Hauses, das direkt am Meer lag, und schaute auf die regennasse Straße hinaus. Sie hielt eine Tasse Kakao in der Hand, und hinter ihr flackerte ein gemütliches Feuer. Trotzdem war ihr kalt. Vicky wusste, dass sie auf jemand wartete. Auf wen, das erfuhr sie in dem Traum nie.
Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Die letzte Zeit war anstrengend gewesen. Zweimal im Jahr fanden im Kunsthaus Lambach Auktionen statt: eine im späten Frühjahr und eine im späten Herbst, kurz vor Beginn der Adventszeit, wenn Kunstobjekte nicht zum Weiterverkauf, als Sammlerobjekt oder Kapitalanlage ersteigert wurden, sondern auch gerne einmal als Weihnachtsgeschenk. Über neuntausend Kunstwerke wurden in den letzten beiden Novemberwochen angeboten, allein Vicky, die die Abteilung für Druckgrafiken leitete, hatte tausendsechshundert davon bestimmen und katalogisieren müssen. Eine Woche vor den Auktionstagen hatten Interessenten außerdem die Möglichkeit, die einzelnen Objekte zu besichtigen und Fragen dazu zu stellen, was zusätzlich Zeit in Anspruch nahm.
Mit den Überstunden, die Vicky angehäuft hatte, hätte sie vier Wochen auf den Malediven verbringen können. Aber der nächste Urlaub würde noch eine ganze Zeit lang warten müssen.
Sie versuchte unauffällig, ihre verkrampfte Muskulatur zu lockern. Im September war sie wegen ihrer heftigen Rückenschmerzen bei einer Masseurin gewesen. Vickys Assistentin hatte den Termin ausgemacht, weswegen sie erst bei ihrem Besuch in der Praxis erfahren hatte, dass die Frau - sie sollte sie Abathi nennen - auch als Schamanin arbeitete. Die Luft in ihrem Behandlungszimmer war geschwängert gewesen von Sandelholz-Patschuli-Räucherstäbchen, an den Wänden hingen indische Tücher, und Abathi hatte darauf bestanden, zuerst bei einer Tasse Tee (Kaffee hatte sie nicht) ein eingehendes Gespräch mit ihr zu führen, anstatt sich ihren Verspannungen zu widmen. Als Abathi ihr dann am Ende der Sitzung auch noch eine chronische Anspannung als Grund für ihre Rückenprobleme diagnostiziert hatte anstatt einfach nur eine falsche Sitzhaltung, hatte Vicky sich geschworen, dort nie wieder hinzugehen. Das tat sie auch nicht. Die nächsten Termine in einem sterilen Physiotherapiezentrum hatte sie selbst ausgemacht, sie dauerten praktischerweise nur fünfzehn Minuten und fanden ganz ohne Tee und Gespräche statt.
Zum Abschied hatte Abathi ihr jedoch noch etwas mitgegeben, das Vicky nicht losließ. «In dir liegt viel Schmerz», hatte sie gesagt und ihr dabei beunruhigend intensiv in die Augen geschaut. «Aber dieser Schmerz schenkt dir große Empfindsamkeit. Du hast die besondere Gabe, tief in die Seele eines Kunstwerks zu schauen. Und du kannst sie den Menschen auch zeigen.»
Wie der Schmerz durch ihre verspannte Muskulatur sie zu so etwas befähigen sollte, konnte Vicky sich nicht erklären, aber die Fähigkeit, tief in die Seele eines Kunstwerks zu schauen - vielleicht hatte sie die ja wirklich, jedenfalls hatte sie schon öfter den richtigen Riecher bewiesen. Ob die Händler diese Seele zu würdigen wussten, war jedoch fraglich. Sie erwarben die Objekte schließlich nicht für sich selbst, sondern um sie in ihren Galerien weiterzuverkaufen. Auch ihren Vater würde Vicky mit Abathis esoterischem Geschwätz leider nicht dazu bringen können, ihr im nächsten Jahr die Leitung der Berliner Dependance anzuvertrauen. Und das war Vickys großes Ziel, der Grund, wieso sie mehr arbeitete als alle anderen im Auktionshaus - sogar mehr als ihr Vater – und sich niemals ein paar Tage freinahm.
Seit Hubert vor anderthalb Jahren - mit vierundfünfzig! - noch einmal Vater geworden war, lag ihm seine Frau Eva damit in den Ohren, die Berliner Dependance von jemand anderem leiten zu lassen. Momentan pendelte er nämlich mehrmals im Monat zwischen Berlin und München, und es gab Zeiten, in denen er Klein Carlos nur am Wochenende sah. Erst vor Kurzem hatte er nachgegeben und Eva versprochen, spätestens am traditionellen Firmen-Silvesterball seinen Nachfolger zu ernennen. Man sollte meinen, dass selbstverständlich Vicky als seiner Tochter diese Position zufallen würde, aber Hubert Lambach war niemand, der sich bei beruflichen Entscheidungen von Emotionen leiten ließ.
«Bist du vorhin kurz eingenickt?», fragte Hubert, als sie am Ende des langen Auktionstags das vanillegelbe Jugendstilgebäude verließen, in dem sich das Kunsthaus Lambach befand.
Natürlich hatte er es gemerkt! «Hättest du gedacht, dass die Springer-Grafik so viel Geld einbringen würde?», erkundigte sich Vicky. «13100 Euro mehr als der Schätzpreis.» Noch immer wurde ihr ganz warm bei dem Gedanken, dass sie es gewesen war, die diesen Rohdiamanten entdeckt hatte.
Ihr Vater nickte. «Das Porzellanservice von Meissen hat gestern 25000 gebracht statt der sechshundert, auf die Patrick es geschätzt hatte. Zwei Telefonbieter haben sich gegenseitig hochgeboten.»
Die Wärme in Vickys Innerem verschwand schlagartig, und sie fühlte sich, als hätte jemand einen Kübel Eiswürfel über ihr ausgekippt. Patrick, der Leiter der Porzellan-Abteilung, war derjenige, der sich mit ihr zusammen auf den Filialleiterposten in Berlin beworben hatte. Sie wartete ab, ob Hubert noch irgendetwas hinzufügte, doch es kam nichts. Kein ‹Das hast du gut gemacht! › oder zumindest so etwas wie ‹Die Springer-Grafik war aber auch eine erfreuliche Überraschung!›.
Ihr Magen zog sich zusammen. Solange er ihr nicht mindestens einen Fund wie die Welken Blätter zu verdanken hatte, würde sie kein Lob von ihm bekommen. Und die Filialleitung in Berlin auch nicht. Die Friedrich-Olivier-Zeichnung aus dem Jahr 1817 war 2014 bei ihrem Konkurrenten Bassenge auf 120000 geschätzt und für 2,6 Millionen versteigert worden.
«Soll ich dich mitnehmen?», fragte Hubert.
Vicky schüttelte den Kopf. Es waren nur knapp zwei Kilometer bis zu den Lenbachgärten - der Apartmentanlage, in der sich ihre Wohnungen befanden –, und sie ging gerne ein paar Schritte zu Fuß. Ganz im Gegensatz zu Hubert, der selbst diese kurze Strecke stets mit dem Auto zurücklegte.
Sie wich einer Bulldogge aus, die eine Frau im Wolford-Mantel hinter sich herzog. Man spürte deutlich, dass es bis Weihnachten nur noch vier Wochen waren. In der altehrwürdigen Brienner Straße ging es normalerweise recht ruhig zu, trotz ihrer Nähe zur Fußgängerzone. Doch heute musste Vicky sich im Slalom zwischen all den Passanten hindurchschlängeln, die meist nicht nur eine, sondern gleich mehrere Tüten von teuren Designern in den Händen hielten.
Vicky war froh, als sie die Prachtstraße hinter sich lassen und in den Alten Botanischen Garten einbiegen konnte. Obwohl er zwischen zwei viel befahrenen Straßen lag, war es darin herrlich ruhig. Wenn sie im Sommer durch den kleinen Park schlenderte, konnte sie neben dem Rauschen des Neptunbrunnens sogar Vögel zwitschern hören.
Sie bog vom Hauptweg ab. Etwas versteckt in einem Wäldchen lag der Kunstpavillon. Wenn sie Zeit hatte, schlenderte sie dort gerne vorbei, um zu schauen, welche Ausstellung gerade stattfand. Im Dezember war es die Jahresendausstellung der Freunde und Mitglieder des Kunstpavillons. Hin und wieder fand man darunter vielversprechende Talente. Manchmal dachte Vicky, dass sie gerne wieder in einer Galerie arbeiten würde, so wie sie es nach ihrem Studium in Wien getan hatte. Im Auktionshaus, wo sie fast ausschließlich mit Händlern zu tun hatte, fehlte ihr der persönliche Kontakt zu Künstlern und Kunden.
«Kunst ist kein Luxus!» - das Motto der Ausstellungen - stand in hohen, leicht schräg gestellten Metallbuchstaben über dem hölzernen Eingangsportal. Das würden die Obdachlosen, die auch im Winter die Bänke des Parks bevölkerten, wahrscheinlich anders sehen. Vicky passierte einen älteren Mann mit struppigem Bart. Auch er hatte mehrere Tüten bei sich. Anders als die der Passanten auf der Brienner Straße waren sie jedoch aus Plastik und trugen Logos von Discountern, und sie enthielten keine überteuerte Designerware, sondern Alkohol, Zigaretten, vielleicht auch ihre gesamten Habseligkeiten. In Momenten wie diesem spürte Vicky heftigen Widerwillen gegen die übergroße Kluft zwischen Protz und Armut, die in München herrschte.
Auf den Straßen gingen gerade Laternen und Adventsbeleuchtungen an. Vor dem Hotel The Charles , das sich direkt neben den Lenbachgärten befand, stand trotz der frostigen Temperaturen ein Klarinettist, der seine Hände notdürftig mit Fingerhandschuhen warm hielt. Vicky blieb kurz stehen und lauschte der sehnsuchtsvollen Melodie, die er seinem Instrument entlockte, bevor sie ihm ein paar Münzen in den mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Kasten warf. Eine Karte lag darin. Es gibt nur einen richtigen Weg. Den eigenen stand darauf.
Der Klarinettist nickte ihr kurz zu, und obwohl er weiterspielte, meinte sie, ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben. Seine zarten Töne verfolgten Vicky bis zum Eingang der Apartmentanlage, in der nicht nur sie, sondern auch Hubert, Eva und Klein Carlos wohnten. Sie dachte an die Karte in dem Klarinettenkasten. Es gibt nur einen richtigen Weg. Den eigenen. Ging sie den wirklich noch?
Natürlich, schalt sie sich. Welcher Weg sollte denn sonst der richtige sein?