Kapitel 4 Vicky

V icky hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, und nur ihre Nervosität sorgte dafür, dass sie auf dem Weg vom Glasgower Flughafen nach Swinton-on-Sea hinter dem Steuer nicht einschlief.

«Was wollen Sie denn da?», hatte der nette Mann mit dem Rentierwollpullover verwundert gefragt, der Vicky die Schlüssel ihres Mietwagens ausgehändigt hatte.

Sie hatte etwas von Freunde besuchen gemurmelt, da ihr ein Blick auf Google Maps bereits gestern Abend gezeigt hatte, dass das Dorf, in dem Finlay und sein Vater wohnten, nicht unbedingt zentral gelegen war. Es befand sich im Grenzland zwischen England und Schottland, und besonders viele Menschen schienen hier nicht zu leben.

Newton Steward, die letzte Stadt, die Vicky passiert hatte, lag schon ein paar Meilen hinter ihr, und die Orte, durch die sie gefahren war, hatten den Namen Dorf nicht verdient - trotz ihrer Ortsschilder. Es waren eher Ansammlungen von Steinhäusern rechts und links der Straße gewesen. Einer Straße, die beunruhigend kurvig und schmal war und die von braunem Gestrüpp und schmutzig grünen Weideflächen gesäumt wurde, auf denen Rinder mit gelocktem Fell oder bunt gefleckte Schafe weideten.

Vicky schaltete einen Gang hoch, und das Getriebe des BMW ächzte. So kurzfristig hatte sie keinen Wagen mit Automatikschaltung bekommen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Fast elf. Sie lag bereits jetzt eine Stunde hinter ihrem Zeitplan. Und das kam nicht von ihrer Unfähigkeit, mit einer Gangschaltung umzugehen, sondern von den engen, holprigen Straßen und der schlechten Sicht.

Genervt starrte Vicky auf die verlassene Fahrbahn vor ihr. Hatte der Nebel gerade noch in zähen Fetzen auf Wiesen und Feldern gelegen, wurde er jetzt zu einer dichten, alles verschlingenden Suppe. Gab es nicht so etwas wie Nebelscheinwerfer? Vicky meinte sich daran zu erinnern. Leider hatte sie keine Ahnung, wo genau sie danach suchen sollte. Sie betätigte so ziemlich jedes Rädchen, jeden Schalter und jeden Hebel, den sie finden konnte, aber die Armatur des BMW machte der Schaltzentrale der Enterprise Konkurrenz. Vicky blieb nichts anders übrig, als anzuhalten und sich das Fahrzeugbuch vorzunehmen. Doch auch nachdem sie die Scheinwerfer gefunden und eingeschaltet hatte, verbesserte sich die Sicht nicht nennenswert.

Fantastisch! Vicky schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Zwar hatte sie in ihrem Handgepäckkoffer neben dem Zauberkasten und ein paar wenigen Toilettenartikeln auch Kleidung zum Wechseln, aber sie hatte eigentlich nicht geplant, in Schottland zu übernachten. Am liebsten wollte sie spätestens mit dem letzten Flieger noch heute zurück nach München. Hoffentlich mit einer äußerst seltenen und somit wertvollen Erstausgabe von Alice im Wunderland im Gepäck.

Inzwischen hatte sie sich über den Illustrator John Tenniel informiert. Viele Künstlerinnen und Künstler hatten es sich in den vergangenen hundertfünfzig Jahren zur Aufgabe gemacht, Alice im Wunderland zu illustrieren. Sogar Salvador Dalí hatte einen Beitrag geleistet. Aber keine Illustrationen waren so populär wie die einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnungen des exzentrischen britischen Illustrators.

Er hatte den Druck der Erstausgabe gestoppt, weil er mit der Qualität nicht zufrieden gewesen war. Nur zweitausend Stück existierten noch davon. Wenn der Junge wirklich eines dieser raren Bücher besaß, wäre das eine Sensation! Selbst ein Exemplar aus einer späteren von Tenniel illustrierten Auflage würde man für viel Geld versteigern können.

Wenn der Vater des Jungen ihr das Buch verkaufen würde … Aber das bezweifelte Vicky nach wie vor. Über den Wert des Buches schien er sich zumindest nicht im Klaren zu sein, denn wenn er davon wüsste, würde er das Buch wohl kaum einem Achtjährigen überlassen, der die Seiten mit seinen Schokoladenfingern vollschmieren oder sogar Risse hineinmachen konnte. Er würde es in einem Safe aufbewahren. Oder hätte es längst verkauft.

Eine kleine Chance bestand also. Und die würde sie nutzen. Musste sie nutzen. Geht nicht gibt’s nicht. Das war Huberts Leitsatz. Und mit ihm war er weit gekommen. Hindernisse waren dazu da, um überwunden zu werden. Oder platt gewalzt.

Genauso platt gewalzt hatte er Vickys Einwand, dass es ziemlich seltsam wirken würde, wenn sie Finlays Vater erst erzählte, dass sie der Brief seines Sohnes so sehr berührt hatte, dass sie unbedingt einen seiner Weihnachtswünsche erfüllen wollte. Nur um ihm im nächsten Moment ein großzügiges Angebot für das Buch zu machen …

«Der Mann ist Buchhändler!», hatte Hubert gesagt. «In diesem Job häuft man keine Reichtümer an. Er wird froh um jeden Cent sein, den er zusätzlich einnimmt, und von dem Geld, das wir ihm bieten, kann er seinem Söhnchen einen ganzen Lkw voller neuer Bücher kaufen!» Danach hatte er Vicky noch angewiesen, den größten Zauberkasten zu besorgen, der in München um diese Zeit noch erhältlich war, und den frühestmöglichen Flug nach Schottland zu buchen. Mit den Worten Melde dich, wenn du das Buch hast! war das Thema für ihn erledigt gewesen. Ein Scheitern würde Hubert ihr nicht verzeihen. Vicky atmete tief durch, um den Druck in ihrem Brustkorb zu verringern.

Ein Pferdewagen kam ihr entgegen, der von zwei zottigen Ponys gezogen wurde. Auf seinem Kutschbock saß ein Mann im schwarzen Mantel. Als das Gefährt im Nebel vor ihr auftauchte, fühlte Vicky sich an Outlander erinnert. Sie schwankte zwischen der Freude, dass es hier menschliches Leben gab, und der Befürchtung, auf dem Weg zwischen Glasgow und Swinton-on-Sea irgendwo unbemerkt in eine Zeitspalte gefallen zu sein.

Vicky ließ die Scheibe hinunter. «Ist es noch weit bis Swinton-on-Sea?»

Die wettergegerbten Züge des Kutschers verformten sich zu einem Lächeln.

«Gu striet ahied, lassie! », antwortete er in einem schauderhaften Englisch, das auch auf ihre Nachfragen hin nicht verständlicher wurde.

Vicky konnte nur hoffen, dass sie seine Worte richtig als Go straight ahead interpretieren konnte, also Immer geradeaus! Eine andere Wahl hätte sie ohnehin nicht gehabt. Wie eine Schlange wand sich die Straße einen Hügel hinauf, und das, ohne nach rechts oder links abzuzweigen. Wieso der Alte sie wohl mit Lassie angesprochen hatte? Vicky hatte diesen Ausdruck bisher nur in Verbindung mit einem Fernsehcollie gehört.

Sie reckte sich und warf einen Blick in den Innenspiegel. Abgesehen davon, dass ihre Wimperntusche unter dem rechten Auge ein bisschen verwischt war, sah sie eigentlich ganz normal aus. Sie befeuchtete ihren kleinen Finger und versuchte, die gräulichen Spuren zu beseitigen.

Im nächsten Moment schrie sie auf. Mitten auf der Straße stand ein Rind! Sie trat so abrupt auf die Bremse, dass der BMW ins Schlingern kam. Er rumpelte über den unbefestigten Straßenrand und kam erst zum Stehen, als das linke Vorderrad ein paar Zentimeter tiefer in einem Graben Halt fand. Das war gerade noch einmal gut gegangen! Vicky ließ sich in den Sitz sinken und atmete ein paarmal tief durch. Der Puls des Unfallverursachers dagegen schien sich nicht nennenswert erhöht zu haben: Das gelockte Rind stand immer noch auf der Straße.

Vicky hupte, um es zu vertreiben, doch das störrische Tier bewegte sich keinen Millimeter. Sie hupte noch einmal. Wenn in Nowosibirsk ein Floh hustete, hätte es dem Vieh nicht gleichgültiger sein können. Super! Nun konnte Vicky noch nicht einmal aussteigen und schauen, ob sie es entgegen aller Logik nicht vielleicht doch schaffen konnte, den Wagen unter Einsatz ihrer bescheidenen Armmuskeln aus dem Graben zu schieben. Sie ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken.

Irgendwann wurde es dem Rind zum Glück zu langweilig, und es trottete an dem BMW vorbei zurück auf die Weide. Vicky ließ die Scheibe hinunter. «Hättest du das nicht ein bisschen früher machen können?», rief sie dem Tier hinterher. Fast fünf Minuten hatte es dagestanden und sie angeglotzt, aber jetzt würdigte es sie keines Blickes.

Als das Rind sich weit genug entfernt hatte, entriegelte Vicky die Tür und setzte einen Fuß auf den Boden, nur um sofort mit dem spitzen Absatz ihrer Wildlederstiefel im Schlamm zu versinken. Wie hatte sie auch nur auf die schwachsinnige Idee kommen können, sich in ihrer normalen Kleidung in diese Wildnis zu begeben? Statt in hohen Schuhen, Bleistiftrock und Lammfelljacke wäre sie besser in Wanderschuhen, Jeans und Wachsjacke angereist.

Wieder tauchte etwas im Nebel auf. Doch dieses Mal war es zum Glück weder ein Rind mit Dauerwelle noch ein Pferdefuhrwerk, sondern ein schwarzer Wagen, der auf den ersten Blick wie eine Limousine aussah - auf den zweiten wie ein Leichenwagen …

Die getönte Scheibe auf der Fahrerseite wurde heruntergekurbelt. Vicky atmete auf, als das runde, vergnügte Gesicht eines Mannes von etwa fünfzig Jahren erschien und nicht der skelettierte Schädel von Gevatter Tod, der mit dem Leichenwagen herumfuhr, um verirrte Seelen einzusammeln.

«Haben Sie Probleme, Lady?»

«Ja, wie Sie sehen. Ich bin in den Graben gefahren … weil ein Rind auf der Straße stand.»

«Ich schaue mal, was ich machen kann.» Der Mann stieg aus. Er war einen halben Kopf kleiner als Vicky in ihren hochhackigen Schuhen, aber kräftig, und er trug einen Blaumann unter seiner derben Winterjacke. Hände, Kleidung und auch Teile seines Gesichts waren schwarz verschmiert. «Steigen Sie ein, und wenn ich jetzt sage, geben Sie Gas! Aber nicht zu viel!»

Aus dieser überraschend genauen Anweisung schloss Vicky, dass es nicht selten vorkam, dass Leute in dieser Gegend im Graben landeten. Kein Wunder bei diesen Straßen und den renitenten Rindern! Die Schafe verhielten sich Autofahrern gegenüber wahrscheinlich genauso respektlos!

Leider schaffte es der Mann trotz seines robusten Äußeren und seines offensichtlichen Sachverstands nicht, den BMW herauszuschieben. Immer wenn Vicky dachte, sie hätten es geschafft, rutschte der Wagen wieder in seine ursprüngliche Position zurück. Es wäre auch zu schön gewesen …

Der Mann kam um das Auto herum und schaute durch das Fenster zu ihr hinein. «Es hat keinen Zweck. Wir müssen Hugh anrufen.»

«Wer ist das?» Vicky strich sich die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Obwohl sie nichts weiter zu tun gehabt hatte, als das Gaspedal zu betätigen, hatte sie geschwitzt.

«Ihm gehört die Tankstelle. Aber er hat auch einen Abschleppwagen. Den hat ihm mal so ein Kerl aus Newton Steward dagelassen, der sein Benzin nicht bezahlen wollte.»

«Und der hat ihn nie wieder abgeholt?»

«Na ja, der Kerl ist frech geworden, und da hat Hugh ihm seinen Wagenschlüssel abgenommen und ihn hochkant rausgeschmissen. Wenn Sie Hugh sehen, werden Sie wissen, warum der Mann danach nie wiederkam.» Der Mann grinste. «Kommen Sie, Lady! Ich nehme Sie mit ins Dorf.»

«Nach Swinton-on-Sea?»

Er nickte. «Oder wollen Sie hier auf Hugh warten?»

Nein, das wollte Vicky ganz sicher nicht, nach dem, was sie gerade über diesen Menschen gehört hatte. Aber mit einem Leichenwagen mitfahren wollte sie eigentlich auch nicht so gerne. Letztendlich waren ihre Vorbehalte jedoch nicht so groß wie das mulmige Gefühl, das sie bei dem Gedanken beschlich, allein im Nebel vielleicht stundenlang auf einen Mann zu warten, der so furchteinflößend sein musste, dass jemand seinen Abschleppwagen bei ihm an der Tankstelle stehen ließ und danach nie wieder abholte.

«Steigen Sie ein!» Ganz Gentleman, hielt der Mann ihr die Beifahrertür auf, und Vicky versank im purpurfarbenen Samtpolster des Sitzes. Er nahm auf der Fahrerseite Platz und hielt ihr seine schmutzige Hand hin.

«Reginald McDonald. Aber so nennt mich nur meine Frau, wenn ich zu spät vom Pub heimkomme. Sagen Sie Reggie zu mir!»

Vicky nahm seine Hand. «Viktoria Lambach. Aber Viktoria nennt mich nur meine Stiefmutter. Leider auch dann, wenn ich artig bin.» Sie grinste. «Sagen Sie Vicky zu mir!»

Reggie McDonald gluckste. «Sie gefallen mir, Lady! Wo hätte die Reise denn hingehen sollen?»

«Dort, wohin wir gerade fahren. Nach Swinton-on-Sea.»

«Ach! Wegen der Bücher?»

Wegen der Bücher? Eigentlich nur wegen eines Buchs! Aber es war schon beunruhigend genug, dass Reggie das wusste. Hatte er vielleicht übersinnliche Fähigkeiten?

«Wie kommen Sie darauf?»