Kapitel 8 Vicky

«A ch je! Ist Ihnen nicht wohl?» Eliyah musterte Vicky besorgt.

Nicht wohl … Wer unter achtzig redete denn heutzutage noch so. Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte Vicky sicher geschmunzelt. So konnte sie aber nur ein krächzendes «Es geht schon» herausbringen.

«Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Oder einen Tee?»

Immer noch benommen, schüttelte Vicky den Kopf. «Nein danke.»

«Dann vielleicht ein Glas Wasser?»

«Ein Wasser wäre nett.» Ihr Mund fühlte sich ganz trocken an.

«Kommt sofort.» Eliyah verzog sich.

Langsam ging Vicky durch das Zimmer. Der Kamin mit dem flackernden Feuer darin, die schweren Eichenmöbel, der raue Putz an den Wänden, die breite Fensterbank, auf der man es sich mit einer Tasse Kakao gemütlich machen und aufs Meer hinausschauen konnte … Es lag ein ganzes Stück weiter entfernt als in ihrem Traum, hinter den Marschwiesen, aber es war da, und bunte Boote tanzten darauf; das Wetter schien sich hier ganz schön schnell zu ändern. Genauso hatte es in dem Zimmer aus ihrem Traum ausgesehen.

Vicky ließ sich auf die Fensterbank sinken und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Sie hatte sich immer gefragt, woher der Traum wohl kam. Wenn sie in München oder in all den anderen Städten, in denen sie gelebt hatte, aus dem Fenster geschaut hatte, hatte sie stets nur auf die gegenüberliegende Fassade geblickt. Bei ihrer Mutter in Wolfratshausen sah sie Berge und Bäume. Natürlich hatte sie schon mehrere Male Urlaub am Meer gemacht, aber nie in alten Häusern, sondern immer nur in schicken Hotelanlagen. Und nun war sie hier.

Um das Gefühl von Unwirklichkeit loszuwerden, lehnte sie ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und schaute nach draußen. Minutenlang. In ihrem Traum war die Straße leer. Hier und jetzt durchquerten aber immer wieder Autos ihr Blickfeld. Schwarze, graue, weiße, sogar ein sonnengelbes war darunter. In ihrem Traum wartete Vicky auf ein rotes. Und wenn es endlich erschien, ließ sie voller Freude das Buch, in dem sie gelesen hatte, auf die Fensterbank fallen und stürmte nach unten.

Manchmal blieb sie auch sitzen, lauschte dem Geräusch der Schritte auf den knarzenden Bodenplanken und wartete darauf, dass die Türklinke heruntergedrückt wurde und jemand eintrat. So wie jetzt! Vicky fuhr herum, sie blickte in Richtung der Tür und sprang auf.

«Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten!» Ein Mann trat ein. Seine dunkelblonden, leicht gewellten Haare waren feucht vom Regen. Genau wie sein Tweedmantel. Ein paar Tropfen befanden sich auch auf seiner Brille. In der Hand hielt er eine kleine Flasche Wasser und ein Glas.

Vicky blinzelte. Sie wusste nicht, wen sie erwartet hatte, aber diesen Mann sicherlich nicht. War das etwa der schöne Graham? Er sah eher wie ein zerstreuter Professor aus als wie der goldkettenbehängte Gigolo, als den sie sich den Besitzer des Reading Fox vorgestellt hatte.

«Einen Augenblick noch!» Der Mann stellte Flasche und Glas auf einem schweren Mahagonischreibtisch ab - den Schreibtisch gab es in ihrem Traum nicht –, und er nahm seine Brille ab und polierte sie am Saum seines cremefarbenen Wollpullovers. Dann setzte er sie wieder auf. «Viel besser!» Er lächelte sie an, und auf einmal konnte Vicky verstehen, wieso die Frauen laut Reggie um seinen Laden flatterten wie Krähen um eine Vogelscheuche. Auf eine intellektuelle, leicht unbeholfene Art sah er wirklich gut aus. Seine Augen hatten das intensive Blau von Vergissmeinnicht.

«Graham Erskine.» Er reichte ihr die Hand.

«Viktoria Lambach.»

«Eliyah hat gesagt, dass Sie mich sprechen möchten. Was kann ich für Sie tun?» Er lehnte sich gegen die Schreibtischplatte. Die Schreibmaschine, von der Isla erzählt hatte, stand darauf.

«Ja, ähm, also …»

Graham sah sie erwartungsvoll an, aber Vicky wusste beim besten Willen nicht, was sie ihm antworten sollte. Ihr Kopf war wie leer gepustet. Sie schaute über seine rechte Schulter auf das Regal an der Wand. Ein paar Bücher waren so angeordnet, dass ihre Cover nach vorne zeigten: eine goldene, mit Schnörkeln verzierte Ausgabe von Moby Dick . Hemingways Der alte Mann und das Meer . Lees Wer die Nachtigall stört . Alle waren mit opulenten Covern ausgestattet. Und … Alice im Wunderland . Die Ausgabe von Alice im Wunderland ! Vicky konnte gerade noch ein Keuchen unterdrücken. Das Buch war so nah. Zum Greifen nah … Sie hätte nur einen Schritt nach vorne treten und die Hand ausstrecken müssen. Aber zwischen ihr und dem, was sie sich gerade am allermeisten auf der Welt wünschte, stand dieser Mann, und auf einmal purzelten, ohne dass sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, folgende Worte aus ihrem Mund: «Brauchen Sie für die Weihnachtszeit noch eine Aushilfe?»

«Ach! Dann hat die Agentur doch noch jemand gefunden?» Graham sah ausgesprochen erfreut aus.

Agentur?

«Ja, genau», antwortete Vicky aufs Geratewohl, obwohl sie keine Ahnung hatte, von welcher Agentur er sprach. Sie griff sich in die Haare, um sich eine Strähne um den Finger zu wickeln. Eine blöde Angewohnheit, die sie immer überkam, wenn sie nervös war. Ihretwegen hatte sie sich vor ein paar Wochen dazu entschlossen, sich die Haare auf Kinnlänge schneiden zu lassen.

«Wie schön!» Graham wirkte geradezu euphorisch. «Das ganze Jahr über kann ich mich vor Anfragen kaum retten, aber gerade in der Vorweihnachtszeit ist es schwierig, jemanden zu bekommen. Vor allem an den Wochenenden ist wahnsinnig viel Betrieb, und Eliyah ist lieber im Keller und sichtet Bücher, als sie zu verkaufen. Sie haben ihn ja bereits kennengelernt. Außerdem macht er die Buchführung. Wahrscheinlich haben Sie auch ein besseres Händchen für die Weihnachtsdekoration als er und ich.» Er goss ihr ein Glas Wasser ein, und Vicky nahm es dankbar an. «Wenn Sie ausgetrunken haben, führe ich Sie am besten erst einmal herum. Lassen Sie Ihre Tüte ruhig im Büro, hier klaut niemand etwas!»

Vicky nickte zustimmend. «Sehr gerne. Aber könnten Sie mir vorher noch zeigen, wo die Toilette ist?»

 

Auf der Mitarbeitertoilette, einem winzigen Raum mit einer funzeligen Glühbirne an der Decke, in dem Putzgeräte standen, schloss Vicky einen Moment die Augen und versuchte, gegen den Nebel in ihrem Gehirn anzukämpfen und wieder einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen. Graham Erskines Büro war ein Schock für sie gewesen, und sie hatte einen Moment lang wirklich das Gefühl gehabt, in ihren Traum katapultiert worden zu sein. Dabei war die Ähnlichkeit, mit etwas Abstand betrachtet, gar nicht so groß. Im Grunde beschränkten sich die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Räumen nur auf den Kamin mit dem prasselnden Feuer und das Fenster mit der breiten Holzbank davor, von dem aus man aufs Meer hinausschauen konnte. Rauen Putz und schwere dunkle Holzmöbel fand man sicher in einem Drittel aller Zimmer. Sie hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest.

Es war eine Schnapsidee ihres Vaters gewesen, sie mit einem Zauberkasten für den Jungen nach Schottland zu schicken und davon auszugehen, dass Graham ihr das Buch verkaufen würde. Selbst wenn ihm sein Wert vielleicht gar nicht bewusst war, hätte er doch spätestens bei ihrem Angebot Lunte gerochen. Sie wohnte schließlich nicht im Nachbardorf, sondern war seinetwegen erst zwei Stunden geflogen und dann weitere zwei Stunden mit dem Auto gefahren. Aber jetzt hatte sie die Möglichkeit, ihm dieses Angebot weit unauffälliger zu unterbreiten. Nicht als Viktoria Lambach, Tochter von Hubert Lambach, dem Eigentümer des Auktionshauses Lambach, sondern als Vicky Lambach, die Bücher liebte. Vor allem Alice im Wunderland . Isla hatte schließlich gesagt, dass bei Graham alles über das Persönliche lief. Vicky straffte die Schultern und strich sich die Haare glatt.

Auf dem Weg zurück zu Grahams Büro klingelte ihr Handy. Sie befürchtete schon, dass Hubert sich danach erkundigen wollte, ob sie das Buch schon in den Händen hielt, doch es war Reggie.

«Hugh zieht Ihren Wagen zwischen Mittagessen und Teatime aus dem Graben und bringt ihn zu mir in die Werkstatt. Ich checke ihn kurz durch, und ab drei können Sie ihn abholen», sagte er. «Und wenn Sie immer noch ein Zimmer brauchen: Ich habe bei meiner Mutter angerufen. Sie können bei ihr übernachten. Sie wohnt im Hillcrest House, Hill Road 64.»

Hätte Reggie jetzt neben ihr gestanden, hätte sie ihn umarmt. «Vielen Dank, dass Sie das alles für mich organisiert haben!» Die Idee, über die Aushilfsstelle an das Buch zu kommen, war ihr so spontan gekommen, dass sie überhaupt nicht mehr daran gedacht hatte, dass das einzige Hotel in Swinton, das um diese Jahreszeit offen hatte, wegen Hughs Familienfeier ausgebucht war. Es war wirklich ein Geschenk des Himmels, dass gerade Reggie sie aufgelesen hatte.

Sie beendete das Telefonat und betrat wieder das Büro. «So!» Sie lächelte Graham an. «Ich bin jetzt bereit für die Führung.»

 

Der Name Fuchsbau traf es wirklich perfekt, denn genauso verzweigt war der Laden. Von dem großen Hauptgang gingen mehrere kleinere Gänge ab, die weitere Zimmer miteinander verbanden, und nach hinten schien sich der Buchladen endlos auszudehnen. Ein richtiges Labyrinth war er.

Überall standen dunkle Holzregale, sogar in den Gängen, und immer wieder gab es kleine Sitzecken mit Sofas und Sesseln, manche aus Leder, andere aus Samt, die dazu einluden, es sich mit einem Buch darin gemütlich zu machen. Es musste ewig her sein, dass Vicky sich das letzte Mal die Zeit genommen hatte zu lesen. Tief sog sie den Geruch nach Staub und alten Buchseiten in sich ein. Offene Kamine in fast jedem Zimmer verbreiteten eine behagliche Wärme.

«Ansonsten würden wir in diesem alten gregorianischen Kasten während der Wintermonate erfrieren», erklärte Graham. «Die Elektroheizung ist nämlich leider kaum jünger.»

Zimmer für Zimmer zeigte er ihr den Laden, und in jedem gab es etwas zu entdecken: wertvoll aussehende Antiquitäten, ausgestopfte Tiere und einen riesigen alten Hut. Hogwarts lässt grüßen, dachte Vicky. Im Musikzimmer baumelte ein Skelett von der Decke, das Geige spielte.

«Das war sicher jemand, der sich hier verlaufen und nie wieder hinausgefunden hat.» Vicky deutete nach oben, und Graham lachte laut auf.

«So groß ist der Laden nun auch wieder nicht. Glauben Sie mir, in zwei Tagen werden Sie sich hier wie zu Hause fühlen.»

In zwei Tagen war sie hoffentlich wieder zu Hause! Mit einem äußerst wertvollen Buch im Gepäck.

In der Eingangshalle baute Isla gerade einen Weihnachtsbaum auf, der ganz aus Büchern bestand. Graham lächelte ihr zu. Offenbar trug er die Verschönerung seines Ladens mit Fassung.

«So, und das ist unsere Kasse», erklärte er jetzt. Er trat hinter den Verkaufstresen und nahm den Hammer zur Hand.

«Ich habe schon gesehen, dass man ihr damit zu Leibe rücken muss.»

«Ansonsten funktioniert sie aber tadellos», verteidigte Graham die Kasse. «Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht abgeschreckt.»

«Nein, mein Wunsch, in Ihrem Laden auszuhelfen, ist größer als meine Angst, körperliche Gewalt anzuwenden, bevor ich Ihren Kunden ihr Wechselgeld geben kann.» Vickys Wangen fühlten sich von ihrem Dauerlächeln inzwischen schon ganz verkrampft an.

«Sehr gut. Dann nehme ich jetzt Ihre Daten auf. Ich habe nämlich überhaupt keine Mail von der Agentur bekommen.»

«Vielleicht ist sie im Spam-Ordner gelandet.» Vicky spürte, wie ihr Kopf heiß wurde. Sie reichte ihm ihren Personalausweis, und Graham warf einen Blick darauf.

«Sie kommen aus Deutschland! Aufgrund Ihres Nachnamens hätte ich mir das zwar denken können, aber man hört überhaupt keinen Akzent. Ein klein wenig Deutsch kann ich auch, allerdings verstehe ich mehr, als ich sprechen kann.»

«Ich habe mein Abitur auf einer internationalen Schule gemacht und danach in England History of Art studiert.»

Gleich nach dem Abitur war Vicky nach York gegangen. Die Universität dort gehörte zu den besten fünf in Großbritannien. Ihr erstes Auslandspraktikum hatte sie in Florenz gemacht, danach weitere in Auktionshäusern in London und Paris. Ihre erste Festanstellung hatte sie in Wien angetreten - Hubert hatte nicht gewollt, dass sie gleich in seine Firma einstieg. All diese Stationen hatte sie mit Spitzenzeugnissen verlassen. Sie musste niemanden davon überzeugen, dass sich die harte Arbeit, die sie schon seit zehn Jahren leistete, ausgezahlt hatte. Niemanden außer ihren Vater.

«Ich bin beeindruckt.» Graham legte den Kopf schief. «Und mit diesen Qualifikationen wollen Sie wirklich hier im Laden arbeiten?»

Vicky senkte den Blick. Sie war noch nie eine besonders gute Lügnerin gewesen. Daran sollte sie schnellstens arbeiten, denn so, wie es aussah, würde sie in den nächsten Tagen noch einige Lügen brauchen. «Ja, ich liebe Bücher. Und ich muss mal ein paar Wochen raus.»

«Das kann ich gut verstehen.» Er seufzte. «Wo wohnen Sie denn in Swinton?» Er legte den Hammer weg und holte stattdessen einen Schreibblock aus der Schublade unter der Ladentheke.

«In Hillcrest House.»

«Ach! Bei Nanette! Na, dann können Sie sich auf Swintons schillerndste Persönlichkeit freuen.»

Vicky sah ihn zweifelnd an. Noch schillernder als die, die sie bisher kennengelernt hatte?