E ndlich oben angekommen! Vicky stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und atmete ein paarmal tief durch. Dann richtete sie sich auf und schaute sich um. Vom Hügel aus hatte man einen wunderbaren Blick auf Swinton. Die Straßenlaternen und die Weihnachtsbeleuchtung der kleinen Stadt funkelten mit dem Lichternetz des Weihnachtsbaums um die Wette. Hinter Swinton glitzerte das Meer, und der kreisrunde Mond zeichnete eine leuchtende Straße darauf.
«Herrlich, dieser Ausblick, nicht wahr?», sagte Graham, und Vicky pflichtete ihm bei. Obwohl sie nun schon fast zwei Tage in Schottland war, war sie bisher noch kein einziges Mal am Strand gewesen. Das musste sie unbedingt nachholen!
Hatte sie das wirklich gerade gedacht? Vicky schüttelte den Kopf, um diesen absurden Gedanken zu vertreiben. Sie war schließlich nicht hier, weil sie Urlaub in Schottland machte, sondern weil sie eine Mission hatte.
Graham schaute weiter unverwandt aufs Meer. «Pat, meine verstorbene Frau, hat immer gesagt, dass diese Gegend Schottland in Miniaturformat sei: Wald, Hügel, das Meer, Hochland - es ist alles da.»
«Können Sie sich vorstellen, woanders zu wohnen?», fragte Vicky.
Er schüttelte den Kopf. «Aber manchmal fehlt mir der Trubel der Stadt schon ein wenig. Früher war ich alle paar Wochen beruflich in Edinburgh. Ich habe dort für einen Verlag als Lektor gearbeitet», ergänzte er, als Vicky ihn fragend ansah.
«Wieso machen Sie das nicht mehr?»
Grahams Miene wurde verschlossen. «Weil ich jetzt Buchhändler bin.»
Inzwischen waren die Kinder fertig mit ihrer Schneeballschlacht und kamen angeflitzt. «Wir wollen jetzt fahren!», rief Finlay und klatschte unternehmungslustig in die Hände. Da er eine dicke Pudelmütze und einen Schal trug, waren von seinem Gesicht kaum mehr als die Augen zu sehen.
Vicky zog sich ihren Schal auch ein bisschen enger um den Hals. Nun war es also so weit!
«Wollen Sie vorne oder hinten sitzen?», fragte Graham, und sie zuckte die Achseln. Sie fand beides gleich fürchterlich.
«Dann setzen Sie sich vorne hin!», entschied Graham. Falls er die Situation genauso unangenehm fand wie Vicky, so ließ er es sich nicht anmerken. Ungelenk stieg sie auf den Schlitten, und Graham nahm hinter ihr Platz. Seine Oberschenkel lagen eng an ihren, und sie überlegte, ob sie ein Stück nach vorne rutschen sollte, aber erstens hätte das vielleicht verklemmt gewirkt - es waren schließlich mehrere Lagen dicker Stoff zwischen ihnen –, und zweitens hätte sie dann nur noch auf den beiden Holzstreben gesessen. Neidisch schaute sie zu Finlay und Gertie hinüber, die so viel besser zu zweit auf ihrem Schlitten Platz fanden und darüber hinaus überhaupt keine Berührungsängste kannten.
Die hatte Graham allerdings auch nicht. Von hinten schlang er jetzt beide Arme um Vicky, um das Seil zu fassen.
«Auf die Plätze, fertig, los!», gab Gertie das Startkommando. Graham holte mit beiden Beinen Schwung, und schon glitten sie den Hügel hinunter.
Hui! Vicky klammerte sich an dem Schlitten fest. Dieser Start war rasant gewesen!
«Muss ich irgendwas machen?», schrie sie.
«Nur die Beine oben halten», rief Graham zurück. «Und nicht runterfallen!»
Haha! Das war gar nicht so einfach. Waren die Kufen dieses Schlittens so viel glatter als die von dem aus ihrer Kindheit? Oder lag es daran, dass sie zu zweit sicher an die hundertfünfzig Kilo auf den Schlitten brachten? Vielleicht hatte sich Graham über die Jahre eine wirklich ausgefeilte Technik angeeignet. Auf jeden Fall waren sie schnell. Sehr schnell!
Davon, Kinder absichtlich gewinnen zu lassen, schien ihr Wettkampfpartner auch nichts zu halten. Finlay und Gertie waren weder vor noch neben ihnen. Sich umzudrehen traute Vicky sich nicht. Hoffentlich fuhren sie niemanden um! Überall standen Menschen auf der Piste. Aber Graham lenkte den Schlitten sicher um sie herum. Spaß machte es ja, das Schlittenfahren! Komisch, dass man als erwachsener Mensch auf so viele Lieblingsbeschäftigungen der Kindheit einfach verzichtete! Sie hatte auch schon ewig nicht mehr geschaukelt. Und wie lange sie schon auf keinem Pferd mehr gesessen hatte …
Waren die vielen Menschen, die am Fuß des Hügels standen, von der Kuppe aus betrachtet noch klein wie Ameisen gewesen, wurden sie schnell größer. Auch die beiden Äste, die das Ziel markierten, kamen schon in Sicht. «Du musst dich nach vorne beugen!», hörte sie, wie Gertie hinter ihnen Finlay anwies. Auch Vicky lehnte sich - gepackt von Ehrgeiz - nach vorne, um auf den letzten Metern noch einmal Geschwindigkeit aufzunehmen.
«Schneller!», feuerte sie Graham an. Sie sah sich schon mit ihm zusammen auf dem Siegertreppchen stehen, als auf einmal ein Hund auf sie zu flitzte. Ein Hund in einem dunkelroten Steppmantel mit Lammfellkragen. Seine Leine schleifte über den Schnee.
«Weg!», brüllte Graham, doch Tyson gehorchte nicht, sondern rannte ihnen weiter entgegen und bellte dabei fröhlich.
Vicky schrie auf. Sie würden ihn über den Haufen fahren! Mit ganzer Kraft rammte sie beide Beine in den Boden. Der Schlitten kam ins Schlingern. Schließlich kippte er, und Vicky und Graham landeten übereinander im Schnee.
Als Vicky den Kopf hob und die Augen öffnete, war Grahams Gesicht nur ein paar Zentimeter von ihrem entfernt.
«Gewonnen!», hörte sie, ein paar Meter entfernt, Finlay und Gertie jubeln.
Oh Gott! Sie stemmte sich nach oben, dazu musste sie allerdings ihre Hände auf Grahams Brust abstützen. «Es tut mir so leid! Aber der Hund … Ich hatte Angst, dass wir ihn überfahren.»
«Das muss Ihnen doch nicht leidtun! Ich habe selbst gebremst. Leidtun sollte es dem verfluchten Hund.» Graham rückte seine Brille gerade, dann rappelte er sich hoch und schaute sich nach Tyson um. Der Mops sprang aufgeregt um die Kinder herum.
«Ich hoffe, Sie hatten wenigstens eine weiche Landung!», sagte Graham und streckte Vicky eine Hand entgegen.
«Ja.» Vicky räusperte sich. «Sie waren eine äußerst bequeme Unterlage.» Sie ergriff Grahams Hand und kam nach oben.
«Alles in Ordnung?» Shona kam ihnen entgegen. «Der Frechdachs ist mir ausgebüxt.»
Vicky nickte. Ihr Kopf fühlte sich plötzlich ganz heiß an. Shona hatte also alles beobachtet - und ihr Blick war kein bisschen freundlicher als zuvor. Im Gegenteil! Sie schaute sie so frostig an, als hätte Vicky dafür gesorgt, dass der Schlitten umgekippt war, damit sie sich auf Graham stürzen konnte.
Graham schien von den Spannungen zwischen ihnen überhaupt nichts zu spüren. «Kommt!», rief er fröhlich und klopfte sich den Schnee von Hose und Jacke. «Ich spendiere allen ein Toad in the Hole . Ich habe heute Abend noch gar nichts gegessen.»
«Toad?» Vicky runzelte die Stirn.
«Genau», antwortete Shona. «Toad - Kröte. Das ist eine schottische Spezialität. Lassen Sie sich einfach überraschen!» Ihre Augen funkelten boshaft.
Vicky hätte vermutlich erleichtert darüber sein sollen, dass die Schotten nicht wirklich gegrillte Erdkröten aßen und dass sich ein Toad in the Hole als Würstchen im Teigmantel entpuppte, bedeckt mit einer klebrig aussehenden Soße. Schweinefleisch aß sie jedoch genauso wenig wie Krötenfleisch. Sie aß schon seit Jahren kein Fleisch mehr. In ihrem Münchner Bekanntenkreis tat das kaum noch jemand.
Aber Graham, Mick, Jessica und natürlich Shona, die Ziege, schauten sie so erwartungsvoll an, dass Vicky nicht zugeben wollte, dass sie Vegetarierin war. Schicksalsergeben schloss sie daher die Augen und biss in das Würstchen. Es schmeckte salzig und kräftig, die Soße dagegen süßlich wie Ketchup. Vicky hatte gedacht, dass sie das Ganze mit einer Menge Glühwein, Mulled Wine , hinunterspülen musste, aber alles in allem war es gar nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte.
«Schmeckt es Ihnen?», erkundigte sich Graham, und zu Shonas sichtlicher Enttäuschung nickte sie.
Diese Feuerprobe hatte sie bestanden. Bei Haggis , gefülltem Schafsmagen, den es am selben Stand gab, hätte sie definitiv passen müssen.
In ihrer Jackentasche vibrierte es. Sie zog ihr Handy hervor, und ein Blick auf das Display verriet ihr, dass Hubert innerhalb der letzten Minuten noch weitere zwei Male versucht hatte, sie zu erreichen. Sie konnte ihn unmöglich weiterhin ignorieren, also entschuldigte sie sich und stellte sich ein Stück abseits der Truppe, um den Anruf anzunehmen.
«Na endlich!», sagte Hubert anstelle einer Begrüßung. «Wieso gehst du nicht an dein Handy? Und wo bist du überhaupt?»
«Immer noch in Schottland.» In Vickys Magen begann es zu rumoren. Sie glaubte nicht, dass es daran lag, dass er gegen das Toad in the Hole rebellierte.
«Hast du das Buch?»
«Nein, ich …», Vicky senkte die Stimme. «Ich habe dem Vater des Jungen noch gar kein Angebot gemacht», gab sie dann zu. Nervös schaute sie sich um, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich niemand belauschte.
«Du hast ihm noch kein Angebot gemacht?», wiederholte Hubert ungläubig. «Wieso nicht?»
«Ich … ich konnte noch nicht, weil ich …», Vickys Magen grummelte schon wieder. «… weil mich kurz nach meiner Ankunft so ein fieser Magen-Darm-Virus erwischt hat. Deshalb bin ich auch nicht ans Handy gegangen. Ich lag die ganze Zeit im Bett. Oder war auf der Toilette.»
«Hast du was Falsches gegessen?», erkundigte sich Hubert. Besonders besorgt klang er nicht, aber wann war er schon jemals besorgt, wenn es nicht um Geschäftliches ging?
«Ja, so eine schottische Spezialität. Toad in the Hole .» Vicky merkte, wie ihre Stimme von Satz zu Satz fester wurde.
«Toad wie Kröte?»
«Ja, aber es war ein Würstchen im Teigmantel.»
«Seit wann isst du denn wieder Fleisch?»
«Swinton-on-Sea ist nicht München. Es gab nichts Vegetarisches im Pub, und ich hatte Hunger.» Vickys gerade erst gewonnenes Selbstbewusstsein schrumpfte schon wieder. Was sie da sagte, hörte sich wirklich alles ziemlich hanebüchen an. «Du, mir wird schon wieder übel. Ich melde mich morgen, wenn ich mit dem Mann gesprochen habe. Und dann hoffentlich mit guten Neuigkeiten.»
«Das hoffe ich auch. Es geht schließlich um eine ganze Menge. Enttäusch mich also nicht.» Mit diesen Worten legte Hubert auf.
Vicky brauchte noch einen Augenblick, bis sie sich dazu in der Lage sah, ihr Handy wieder einzustecken und zu den anderen zurückzugehen.
Enttäusch mich nicht! Immer noch klangen die Worte ihres Vaters in ihr nach. Es musste ihr gelingen, an das Buch zu kommen. Egal, wie.