Kapitel 17 Vicky

D er Thron? Ach, sie würde Graham gleich selbst danach fragen! Vicky musste sich bremsen, damit sie nicht durch den Laden rannte. Endlich hatte sie die Gelegenheit, ihre Mission voranzutreiben! Sie hatte schon befürchtet, den Buchladen auch an diesem Tag wieder verlassen zu müssen, ohne Graham auf Alice im Wunderland angesprochen zu haben. Und das wäre eine Katastrophe.

Gerade war sie sich aber nicht sicher, ob sie jemals bei ihrem Chef ankommen würde, denn sie hatte sich schon wieder verlaufen! Anstatt vor der Treppe zum ersten Stock stand Vicky nämlich vor einer Glastür, die in einen verschneiten Garten hinausführte, den Vicky bisher noch gar nicht gesehen hatte. Er war nicht besonders groß, aber liebevoll angelegt. Die Beete wurden von niedrigen Buchsbaumhecken gesäumt, und Buchsbaumhecken säumten auch die schmalen Kieswege. In der Mitte des Gartens teilte sich der Kiesweg und schlängelte sich auf der rechten Seite bis zu einem Steinhäuschen, das sich an die Außenmauer kauerte. Auf der linken Seite führte er zu einem Pavillon. Zwei Stühle und ein kleiner runder Tisch standen darin, und an seinem schwarzen Metallgerüst schlängelten sich dornige Ranken empor. Nur noch ein paar steif gefrorene Blätter baumelten daran, aber im Sommer, wenn die Kletterrosen in voller Blüte standen, musste es herrlich sein, hier zu sitzen!

Mit einem Hauch von Bedauern dachte Vicky daran, dass sie dieses Kleinod in voller Blüte nie zu sehen bekommen würde. Vielleicht sollte sie einmal über einen Sommerurlaub in Schottland nachdenken! Irgendwie war ihr dieses kleine Dorf mit seinen schrulligen Bewohnern ja schon ein bisschen ans Herz gewachsen. Vor allem ein ganz bestimmter Bewohner!

Der letzte Gedanke schoss ihr so schnell durch den Kopf, dass Vicky keine Chance hatte, ihn zurückzudrängen. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sie wieder nach Hause kam! Ein paar Tage hier, und schon bist du genauso spleenig wie alle anderen hier, schimpfte sie leise mit sich. Dann startete sie einen zweiten Versuch, in die oberen Gemächer vorzudringen. Dieses Mal bog sie hinter dem Musikzimmer nicht rechts, sondern links ab, und ihre Entscheidung erwies sich als richtig. Vicky eilte die Treppe hinauf und klopfte an die Tür von Grahams Büro.

«Ja?», hörte sie von drinnen seine Stimme.

Sie trat ein.

Graham saß an seinem Mahagonischreibtisch. Vor ihm stand die Schreibmaschine. Ein Blatt steckte darin. Er sah müde aus, stellte Vicky fest, und seine sonst so ordentlich zur Seite gekämmten dunkelblonden Haaren standen ein wenig ab.

«Ich soll Ihnen von Eliyah Bescheid sagen, dass Isla angerufen hat: Der Thron kommt um eins.» Vicky trat ein.

Grahams Blick ging zu seinem Handgelenk, dann erst merkte er, dass er keine Uhr trug. «Und jetzt ist es?»

«Viertel vor eins.»

«So spät schon! Unglaublich, wie die Zeit immer davonrennt!» Seufzend stand Graham auf.

«Von was für einem Thron hat Eliyah denn gesprochen? Bekommen wir königlichen Besuch?»

«Fast.» Graham schmunzelte. «Der Weihnachtsmann schaut bei uns vorbei. Damit die Kinder ihm ihre Wunschzettel geben können. Das macht er jedes Jahr am ersten Adventswochenende. - Keine Sorge! Sie können natürlich trotzdem um eins nach Hause gehen», schob er nach.

Doch es war nicht die Aussicht darauf, länger arbeiten zu müssen, die Vickys Gesichtszüge hatte einfrieren lassen, sondern das Bücherregal. Moby Dick , Der alte Mann und das Meer und Wer die Nachtigall stört waren noch da, aber der Platz, wo gestern noch Alice im Wunderland gestanden hatte … war leer.

«Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?», fragte Graham, weil Vicky keine Anstalten machte, sich von der Stelle zu bewegen.

Ja, das hatte sie!

«Nein.» Sie holte tief Luft. Jetzt oder nie! «Ich frage mich nur, wo das Alice-im-Wunderland -Buch ist, das gestern noch in Ihrem Regal stand. Es … es ist mir aufgefallen, weil es so alt aussieht.» Erst jetzt schaffte sie es, Graham in die Augen zu schauen.

«Ach das! Das habe ich gestern Abend mit nach Hause genommen. Finlay wollte das weiße Kaninchen abzeichnen, für seinen Wunschzettel. Diesen Wunsch wird ihm der Weihnachtsmann aber auf gar keinen Fall erfüllen. Tyson reicht mir als tierisches Familienmitglied.» Er lächelte. «Kommen Sie! Ich gehe mit Ihnen nach unten.»

Graham öffnete die Bürotür, und damit schien das Thema Alice für ihn abgeschlossen. Es war zum Verrücktwerden!

 

Der goldene Thron stand bereits im Eingangsbereich. Sein Polster war aus rotem Samt, und rechts und links von ihm türmten sich hübsch verpackte Kartons mit Schleifen.

Auch Isla war schon da. Heute trug sie ein kurzes schwarzes Wollkleid, eine Netzstrumpfhose und knallrote Doc Martens aus Lack. Ihre Haare waren zu einem wirren Vogelnest aufgetürmt, das sie mehrere Zentimeter größer machte.

«Die Geschenke werden die Vorfreude der Kinder noch erhöhen. Ich habe bei Pebbles außerdem noch das hier gefunden.» Isla nahm mehrere rot-weiß geringelte Zuckerstangen von ihrem Leiterwagen, um sie Graham und Vicky zu zeigen. Sie waren sicher an die fünfzig Zentimeter lang und aus Filz. «Wenn wir die von der Decke hängen lassen, sieht das bestimmt total cool aus.»

«Meinst du nicht, dass der Thron und die Geschenke reichen?» Graham sah nicht so aus, als ob er ihre Begeisterung teilte.

Isla schüttelte den Kopf. «Heutzutage sind die Leute anspruchsvoll. Man muss ihnen etwas bieten, wenn man sie als Kunden gewinnen und halten will.»

«Ich habe genug Kunden», entgegnete Graham mürrisch.

«Heute werden aber sicher noch ein paar neue dazukommen, ich habe nämlich eine Ankündigung bei Instagram gemacht», erklärte Isla.

Graham stöhnte und ging zur Kasse, um bei einem Kunden abzukassieren, der ein Buch über den Ersten Weltkrieg erstanden hatte.

«Und bei TikTok», flüsterte Isla Vicky zu. «Aber Graham weiß zum Glück nicht, was das ist.» Sie kicherte.

Vicky schaute unauffällig auf ihre Armbanduhr. Zehn vor eins. In wenigen Minuten war ihre Schicht vorbei.

Die Ladenglocke bimmelte freundlich, und eine mollige Frau in einem schicken Mantel erschien in der Tür. Es war Rosie. Sie trug ein purpurfarbenes Hütchen auf den rot getönten Haaren und hielt eine riesige Papiertüte in der Hand.

Strahlend kam sie auf Vicky zu. «Reggie hat mir gesagt, dass Sie sich unserem Buchklub anschließen wollen! Und da dachte ich mir, ich bringe Ihnen gleich das Buch vorbei, über das wir nächsten Freitag sprechen werden. Es hat ganz viele Preise gewonnen. Ich hoffe, Sie kennen es noch nicht.» Rosie stellte die Papiertüte auf den Boden und griff in ihre Handtasche, um einen Roman herauszuziehen. Where the Crawdads Sing  - Der Gesang der Flusskrebse .

Vicky nahm das Buch und fragte sich, wann genau sie denn zu Reggie gesagt hatte, dass sie sich diesem exklusiven Klub anschließen wollte. «Nein, das kenne ich noch nicht, aber ich habe davon gehört», sagte sie. Sie hatte sich sogar vorgenommen, es in ihrem Urlaub zu lesen, nur dass es zu diesem Urlaub nie gekommen war. Fast tat es ihr ein bisschen leid, dass sie nicht zu diesem Treffen gehen würde. Es hörte sich wirklich nett an. Der letzte Mensch, mit dem Vicky über Geschichten gesprochen hatte, war ihr Vater gewesen. Und das war zwanzig Jahre her.

«Wunderbar! Es sind ja noch ein paar Tage bis zu unserem Treffen. Vielleicht schaffen Sie es ja, es bis dahin zu lesen. Ich habe es innerhalb von wenigen Tagen verschlungen.» Die Grübchen auf Rosies Wangen vertieften sich. So wie sie heute auftrat, fiel es Vicky schwer, sie mit dem Furcht einflößenden Drachen in Reggies Werkstatt in Verbindung zu bringen.

«Es gibt Sherry und Pasteten», erklärte sie weiter. «Sie müssen vorher also nichts essen. Außerdem bringt jeder von uns etwas zum Knabbern mit. Aber das müssen Sie als Gast natürlich nicht.» Rosie senkte die Stimme. «Leider habe ich heute auch eine nicht so gute Nachricht zu verkünden.» Ihr Gesicht, rund und mollig wie das ihres Ehemanns, verzog sich bekümmert. «Graham!» Sie winkte ihn zu sich herüber. «Du wirst dir für heute Nachmittag leider einen anderen Weihnachtsmann suchen müssen», erklärte sie ihm dann. «Reggie hat schon wieder einen Hexenschuss. Dieses Mal ist es passiert, als er einen alten Traktorreifen aufheben wollte.» Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. «Nach der Sache mit deiner Kasse sollte der alte Trottel wirklich langsam wissen, wo seine körperlichen Grenzen sind! Jetzt liegt er mit einer Wärmflasche im Bett und kann sich nicht rühren. Ich habe dir das Kostüm mitgebracht.» Sie reichte ihm die Tüte.

«Oh nein!» Graham sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. «In einer Stunde eröffnet der Weihnachtsmarkt, und dann geht es los! Wie soll ich denn so schnell jemand anderen finden?»

«Du kannst doch Reggies Rolle übernehmen.» Rosie zwinkerte ihm zu. «Oft genug zugeschaut hast du ja.»

Graham schüttelte den Kopf. «Die Kinder würden mich doch sofort erkennen. Allein schon an meiner Stimme. Genau wie Eliyah.» Er überlegte kurz. «Liam würde es sicher machen», sagte er dann. «Aber das Restaurant hat an den Adventswochenenden durchgängig auf.» Seine Stirn war jetzt in tiefe Furchen gelegt.

«Was ist mit deinem Dad?», fragte Rosie.

«Da kann ich ja gleich Jack Pebbles fragen! Oder hättest du dich als Kind auf Pauls Schoß gesetzt und ihm von deinen Weihnachtswünschen erzählt?»

«Vermutlich hätte ich ein bisschen Angst vor ihm gehabt», gab Rosie zu. «Hm, wer käme denn sonst noch infrage?»

«Ich würde es machen», sagte Vicky.

Rosie und Graham sahen sie verblüfft an, und auch sie konnte es nicht so recht glauben, was sie gerade so spontan angeboten hatte.

Aber ihr war eine Idee gekommen. Graham hatte ihr erzählt, dass auch Finlay seinen Wunschzettel abgeben würde. Mit dem Kaninchen aus Alice im Wunderland darauf! Sie würde es bewundern und fragen, wo er es abgemalt hatte. Er würde ihr von dem Buch erzählen und sie ihm davon, wie sehr sie Alice und ihre Geschichten als Kind geliebt hatte. Alles Weitere würde sich hoffentlich von selbst ergeben. Ha!, dachte sie triumphierend. Sie war so ein Fuchs!

«Das würden Sie wirklich tun?», fragte Graham zweifelnd, und Vicky nickte heftig.

«Ich kann auch meine Stimme verstellen. Hohoho! Und ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass kein Kind vor mir Angst haben wird.» Erwartungsvoll sah sie ihn an.