E s war eine hervorragende Idee gewesen, das Kleid zu kaufen! Nanette drehte vor dem bodentiefen Spiegel in ihrer Diele eine Pirouette, und die langen schwarzen Fransen tanzten um ihre Knie. Schon als die nette Miss Lambach ihr von dem Charleston-Schmuckstück erzählt hatte, hatte sie sich in das Kleid und seine Geschichte verliebt. Passend dazu hatte sie sich bei Ann gleich noch eine Federboa gekauft.
Von überallher in der Gegend kamen die Leute inzwischen, um Anns Kleider zu kaufen. Letztens war wohl sogar ein Kunde aus Edinburgh da gewesen. Ann stellte ihre Kleider seit Neuestem auch ins Internet. Unglaublich, was diese Frau sich in kurzer Zeit aufgebaut hatte! Nach der Scheidung vom Doc war sie sowieso richtiggehend aufgeblüht. Kein Wunder, so schwierig, wie der war! Für eine neue Liebe war Ann allerdings noch nicht offen. Und in den Buchklub wollte sie auch nicht. Rosie hatte sie nun schon mehrere Male gefragt.
Aber Grahams neue Aushilfe wollte kommen! Ein hübsches Mädchen, diese Miss Lambach. Aber irgendwie wirkte sie ein bisschen traurig und in sich gekehrt. So als hätte sie nicht besonders viel Spaß im Leben.
Nanette warf sich die Federboa über die Schulter und zwinkerte ihrem Spiegelbild zu. Posen, das konnte sie immer noch wie ein junges Mädchen. Kichernd nahm sie einen Schluck aus dem Champagnerglas, das auf der Kommode neben der Vase mit Amaryllen stand. Sie prostete zuerst ihrem Spiegelbild zu und dann dem Foto von ihrem kleinen Sonnenschein, das ein Stück rechts oberhalb von dem Spiegel an der Wand hing.
«Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, Elsie!», sagte sie. «Man musste die Feste feiern, wie sie fallen. Wenn ich in meinem Alter immer auf den richtigen Anlass warten würde, hätte ich nicht mehr viel zu lachen.»
Schon kurz nach dem furchtbaren Unfall hatte sie angefangen, mit ihr zu sprechen. Das hatte ihr geholfen, ihr das Gefühl gegeben, dass ihre Tochter doch noch nicht ganz fort war. Jetzt, über fünfzig Jahre später, redete sie noch immer mit ihr.
Den richtigen Zeitpunkt für einen Abschied gab es nicht, es gab nie den richtigen Tag. Und es war immer zu früh. Aber in diesem Fall war es viel zu früh gewesen! Nicht einmal drei Jahre alt hatte Elsie werden dürfen.
Nanette nahm den Bilderrahmen von der Wand, presste ihn an ihre Brust und wiegte sich einen Moment lang mit geschlossenen Augen hin und her.
Die ersten Tage hatte sie gedacht, dass sie nicht überleben würde. Aber sie hatte überlebt. Wieso hast du das alles nicht geschafft, Frank! Sie warf ihrem Ehemann einen vorwurfsvollen Blick zu. Zusammen mit Reggie, Elsie und ihr posierte er auf einem anderen Foto vor Swinton Manor, mit herausgedrücktem Brustkorb und hocherhobenem Kopf. Ganz so wie die vielen Chiefs des McDonald-Clans vor ihm. Hatte sich von denen eigentlich auch einer so feige davongemacht?
Nanette hörte ein Geräusch an der Haustür. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben und umgedreht. Schnell hängte sie Elsies Foto wieder an seinen Platz zurück.
Miss Lambach trat ein. Und sie sah ganz anders aus als zuvor. Normalerweise trug sie ihr auffällig helles Haar so glatt, als hätte sie es gebügelt. Jetzt aber war es ganz zerzaust, es hatte sogar ein paar Wellen. Aber das war nicht das Auffälligste. Das Auffälligste waren ihre strahlenden Augen. Ihr ganzes Gesicht schien zu leuchten.
«Na, Liebes! Ich sehe, das Eisbaden hat Sie erfrischt.»
Das Lächeln auf Miss Lambachs Gesicht vertiefte sich, und ein Grübchen wurde in ihrer linken Wange sichtbar. «Am Anfang dachte ich, ich schaffe es nicht, aber dann … Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich mich wirklich überwunden habe, in dieses unfassbar kalte Wasser zu gehen!»
«Da haben Sie mir etwas voraus. Ich bin ja wirklich für jeden Spaß zu haben, aber diese seltsame Tradition, die Liam da ins Leben gerufen hat … Möchten Sie einen Tee? Ich habe in der Küche den Kamin angemacht. Und in Ihrem Zimmer auch.»
«Nein, ich bin nur kurz hergekommen, um mich umzuziehen. Ich hatte meine Hose in den Sand gelegt, und Gertie und Finlay sind mit ihren nassen Füßen darübergelaufen. Ich gehe gleich noch zu Mick und Tessa und zu Grah… äh … Mr Erskine. Die Kinder wollen Marshmallows grillen. Ich soll Sie fragen, ob Sie auch kommen wollen?»
Als sie den Namen Graham aussprach, hatte Miss Lambach die Lider gesenkt. Ganz kurz nur, aber Nanette war es trotzdem nicht entgangen. Das Strahlen in Miss Lambachs Augen war also nicht nur auf das Bad im eisigen Wintermeer zurückzuführen. Wie schön!
«Wieso nicht?», antwortete Nanette fröhlich. «Ich wollte es mir heute Abend eigentlich mit einem guten Buch und einem Gläschen Pimm’s gemütlich machen, aber das ist natürlich nichts gegen einen Abend in netter Gesellschaft. Ich ziehe mir nur ebenfalls schnell was anderes an. Obwohl … Mit einer dicken Strumpfhose und Stiefeln wird es schon gehen …»
Tessa hatte ihre berühmten Pasteten gemacht. Für die Erwachsenen mit Brandybutter, für die Kinder ohne Alkohol. Nanette konnte sie schon riechen, als Miss Lambach das Tor von Rose Cottage öffnete.
«Das riecht köstlich! Ich befürchte, wenn ich noch länger bleibe, bekomme ich meine Hosen nicht mehr zu.» Miss Lambach klopfte sich auf ihren nicht vorhandenen Bauch.
«Ach was, Liebes, Sie bewegen sich im Laden doch den ganzen Tag. Und außerdem würden Ihnen ein paar Kilo mehr nicht schaden.» In Nanettes Augen war sie viel zu dünn.
«Ich hoffe, ihr habt Hunger mitgebracht!», rief Tessa ihnen zu. Sie hatte das Tablett mit den deftigen Pasteten auf den Gartentisch gestellt und schnitt sie mit einem langen Messer in daumendicke Stücke.
Ja, den hatte Nanette tatsächlich. Sie war hungrig wie ein Wolf. Und für Marshmallows hatte sie sich noch nie begeistern können. Graham, Mick und die Kinder standen mit langen Stöcken in der Hand um einen Feuerkorb und rösteten sie über den Flammen.
«Willst du einen?», fragte Finlay Miss Lambach.
Sie nickte und nahm den Stock, den der Junge ihr entgegenstreckte, blies ein paarmal auf das halb verbrannte weiße Ding und biss dann ein Stück davon ab. «Köstlich!»
«Willst du noch einen?»
«Auf jeden Fall.»
Nanette sah, wie Miss Lambach und Graham sich über Finlays Kopf hinweg anlächelten, dann wandten beide wie auf Kommando ihre Blicke voneinander ab. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Oh, oh! Miss Lambachs Schwärmerei schien nicht einseitig zu sein. Seine letzte Aushilfe, eine äußerst robust aussehende Frau mit roten Wangen und schaufelgroßen Händen, die aussah, als würde sie auf einer Farm in Texas Rinder züchten, hatte Graham nie so angesehen.
«Kannst du noch eine Packung Marshmallows holen?», fragte Tessa Graham. «Ich dachte, wir hätten noch eine in der Vorratskammer, aber ein paar Mäuse müssen sie gefressen haben.» Sie zwinkerte ihm zu.
Nanette sah, wie er in Richtung Honeysuckle Cottage verschwand, und aus einem spontanen Impuls heraus folgte sie ihm.
Als sie hinter ihm in die Küche trat, kramte Graham in einem der Küchenschränke.
«Du bist total verrückt nach ihr, nicht wahr?», sagte sie, und er hielt einen Moment mitten in der Bewegung inne.
«Wen meinst du?», fragte er dann.
«Tu nicht so naiv», gab Nanette zurück. «Wen sollte ich wohl meinen?» Sie öffnete ihren Mantel. Hier drinnen war es ganz schön warm. «Ich meine natürlich deine neue Aushilfe. Die entzückende Miss Lambach.»
Graham schwieg, dann wanderte sein Blick zu dem Foto, das über dem Esstisch hing und das eine hübsche junge Frau mit brünetter Ponyfrisur zeigte.
«Oh nein!», grollte Nanette. «Du musst Patricia nicht um Erlaubnis fragen. Sie ist tot. Und das seit drei Jahren schon.»
Grahams Brustkorb hob sich. «Ich weiß», sagte er, nachdem er lange ausgeatmet hatte. «Das weiß ich doch alles.»
«Und ich weiß, dass sie deine ganz große Liebe war», sagte Nanette, nun aber mit deutlich sanfterer Stimme. «Deine einzige Liebe. Wie alt warst du, als ihr zusammengekommen seid?»
«Achtzehn.» An der Bewegung von Grahams Kehlkopf sah sie, dass er schluckte. «Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich sie das erste Mal gesehen habe. Es war in den Sommerferien. Pat stand mit ihrem Fahrrad auf dem Marktplatz. Sie hatte ein Eis in der Hand und so viele Sommersprossen auf der Nase, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu zählen. Ich hatte schon gehört, dass die Enkelin vom alten Fox zu ihrem Großvater gezogen war, um ihm im Laden zur Hand zu gehen. Aber weil ich wegen der Prüfungen wochenlang keine Zeit gehabt hatte, nach Hause zu fahren, hatte ich sie bis dahin noch nicht gesehen. Sie wollte wissen, ob ich auch gerade erst nach Swinton gezogen war, und als ich antwortete, dass ich schon immer hier lebe, meinte sie, dass ich ihr dann ja ein bisschen was von der Gegend zeigen könnte. Und dabei hat sie mich angestrahlt.» Er lächelte versonnen. «Ich glaube, ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so voller Leben war wie sie. Und es war furchtbar mitzuerleben, wie sie immer weniger geworden ist.» Graham betrachtete seine verschränkten Hände, und als er weitersprach, war seine Stimme nur noch ein Hauch. «Ich wünschte, ich hätte ihr ihren Schmerz abnehmen können.» Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: «Wie hast du es nur geschafft, die Zeit nach Elsies und Franks Tod zu überleben?»
«Ein Teil von mir hat es nicht überlebt.» Nanette schlang sich die Spitze ihrer Boa um den Zeigefinger.
«Hat es irgendwann aufgehört wehzutun, dass sie nicht mehr da sind?» Graham suchte ihren Blick.
«Nein, es tut auch heute noch weh. Und es tut mir leid, dass ich dir nichts anderes sagen kann.»
«Wie ist es dir dann gelungen weiterzumachen?»
«Ganz einfach. Ich bin morgens aufgestanden, ich habe mich angezogen, Reggie das Frühstück gemacht, ihn zur Schule gebracht … All das, was du auch jeden Tag für Finlay getan hast. Und immer noch tust. Weißt du, Graham …» Nanette streckte die Hand aus und streichelte seinen Arm. «Der Satz Das Leben geht weiter bedeutet nicht, dass man den geliebten Menschen nicht mehr vermisst. Er bedeutet einfach nur, dass man sich irgendwann für die Freude anstatt für den Schmerz entscheidet. Das habe ich getan. Und das solltest du auch tun.»
Sie sah, wie Graham leicht zusammenzuckte, doch dann nickte er. «Du hast recht.»
«Das habe ich immer. Das liegt an meiner Lebenserfahrung. Ein hohes Alter ist also auch für etwas gut.» Nanette schmunzelte. «Ach, komm her!» Sie zog ihn an sich, und für ein paar Sekunden ließ Graham sich in ihre Umarmung sinken. Dann richtete er sich wieder auf.
«Am besten gehen wir zurück», sagte er. «Sonst denken die anderen noch, dass wir die Marshmallows ganz allein aufessen.» Er nahm die Packung aus dem Schrank.
Als sie das Wohnzimmer betraten, stand dort zu Nanettes Überraschung Miss Lambach vor Grahams Bücherschrank, und sie wirkte so schuldbewusst, als wäre sie gerade bei etwas Verbotenem ertappt worden. «Ich wollte nur fragen, ob ich etwas helfen kann», sagte sie schnell. «Beim Tragen oder so.»
Beim Tragen einer Packung Marshmallows? Nanette hob die Augenbrauen.
«Nein, nein», sagte Graham. «Ich bin zwar im Moment nicht besonders gut in Form, aber die Marshmallows schaffe ich gerade noch allein.» Er warf die Packung in die Luft, und Miss Lambach errötete. «Aber ich wollte Sie auch etwas fragen», fuhr er fort. «Haben Sie Lust, morgen mit mir auf Büchertour zu gehen? Ein ehemaliger Universitätsprofessor will seine Bibliothek auflösen, und da könnte ich sehr wohl ein bisschen Unterstützung gebrauchen.»
Na also, es ging doch! Nanette presste die Lippen aufeinander, um ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Es war wirklich an der Zeit, dass Graham sein Schicksal wieder in die Hand nahm und aufhörte, ausschließlich in der Vergangenheit zu leben!