Kapitel 24 Vicky

«D u hast gar nicht gesagt, dass Vicky uns besucht!», rief Finlay, als er ihnen die Tür öffnete.

Vicky hatte sich vorher schon nicht gut gefühlt, aber jetzt, als sie sah, wie Finlays rundes Kindergesicht strahlte, fühlte sie sich noch schlechter.

Selbst Paul schien ihre Anwesenheit nicht zu stören. Er wirkte für seine Verhältnisse sogar regelrecht herzlich. «Ich hoffe, Sie haben Hunger mitgebracht», sagte er. «Ich habe einen Lammbraten gemacht. Dazu gibt es Rosmarinkartoffeln und Bohnen, und es ist genug für alle da», erklärte er freundlich, nur um sie eine Sekunde später anzuraunzen: «Jetzt stehen Sie doch nicht rum wie bestellt und nicht abgeholt! Geben Sie mal Ihre Jacke her!»

«Die nehme ich Miss Lambach schon ab», sagte Graham. «Hol du doch schon mal den Braten! - Möchten Sie überhaupt etwas essen?», flüsterte er Vicky zu. «Ich hätte Sie vielleicht vorwarnen sollen. Mein Vater ist nicht nur Hobbydetektiv, sondern auch Hobbykoch - und zutiefst beleidigt, wenn man sein Essen ablehnt.»

«Ich sterbe vor Hunger», flüsterte Vicky zurück, und sie überlegte, ob Paul auch beleidigt wäre, wenn sie nur das Gemüse und die Kartoffeln essen würde. Letztendlich beschloss sie, es nicht darauf ankommen zu lassen. Ein Stückchen Lamm würde sie schon irgendwie herunterbringen. Schließlich wartete nach dem Essen eine Belohnung auf sie! Sie bestand darauf, Graham und Finlay beim Tischdecken zu helfen, und während sie Messer und Gabeln verteilte, schaute sie sich verstohlen um. Ob sich das Buch hier irgendwo befand?

Sie konnte es nirgendwo entdecken. Dafür blieb ihr Blick an einem Foto hängen. Es zeigte Graham, einen deutlich jüngeren Finlay und eine Frau mit glatter dunkler Ponyfrisur und großen braunen Augen. Pat. Finlays Mutter und Grahams große Liebe. Sie war hübsch gewesen, auf eine unaufdringliche, unauffällige Art, und sie sah aus wie jemand, mit dem Vicky sich vorstellen konnte befreundet zu sein. Alle drei strahlten in die Kamera.

Ihr glückliches Lächeln versetzte Vicky einen Stich. Als das Foto aufgenommen worden war, hatte niemand von ihnen ahnen können, dass Graham und Finlay in gar nicht allzu ferner Zukunft nur noch zu zweit sein würden.

 

Das Essen, zumindest die Rosmarinkartoffeln und die Bohnen, schmeckten hervorragend. Paul schien sich über Vickys Lob aufrichtig zu freuen, auch wenn er brummelte: «Mehr Rosmarin und weniger Salz, und die Kartoffeln wären noch besser geworden. Aber das Lamm ist mir ausgezeichnet gelungen.»

Nach dem Essen war Vicky so satt, dass sie unter ihrem Pullover unauffällig den Knopf ihrer Jeans aufmachte.

Doch Finlay und Paul hatten heute Weihnachtsplätzchen gebacken, und Finlay bestand darauf, dass sie von jeder der vier Sorten probierte.

«Sie haben sich wacker geschlagen», grinste Paul, nachdem auch der letzte Keks in ihrem Magen verschwunden war. «Brauchen Sie einen Schnaps?»

«Ja! Mindestens einen.» Vicky rieb sich stöhnend den Bauch. Doch obwohl sie das Gefühl hatte, gleich zu platzen, fühlte sie sich so entspannt wie schon lange nicht mehr. Hinter ihr prasselte ein gemütliches Feuer, auf ihren Füßen lag ein dicker, leise schnarchender Mops, und die Luft war erfüllt von Stimmen, Lachen und leckeren Gerüchen.

Wie schön es wäre, nach einem langen Tag nicht in eine leere Wohnung zu kommen und sich etwas beim Lieferservice zu bestellen, sondern von netten Menschen und einem warmen Essen empfangen zu werden!, dachte sie wehmütig.

Es klingelte an der Tür, und Tyson sprang auf und rannte hin.

«Er hofft immer, dass es der Postbote ist», erklärte Finlay. «Mr Taylor bringt ihm immer einen Hundeknochen mit. Der ist nämlich mal von einem Hund gebissen worden.»

Doch es war natürlich nicht der Postbote - das hätte Vicky um diese Uhrzeit auch gewundert. Es war Shona.

«Kannst du kurz mitkommen? Ich muss mit dir sprechen!», sagte sie zu Graham, während sie gleichzeitig versuchte, Tyson daran zu hindern, auf Bonnie Belle zu klettern. «Allein!»

«Wieso? Ist etwas passiert?», gab Graham erstaunt zurück.

Nicht hier und jetzt, sagte Shonas durchdringender Blick. Graham schlüpfte seufzend in Schuhe und Jacke und ging mit ihr nach draußen. Was Shona, die Ziege, wohl so Geheimes mit ihm zu besprechen hatte?

«Willst du mein Zimmer sehen?», fragte Finlay, und Vicky nickte mechanisch.

Das wohlige Gefühl, das sie kurzzeitig erfasst hatte, war verschwunden, und das Lamm lag ihr auf einmal bleischwer im Magen. Sie versuchte, durch das Fenster einen Blick auf Graham und Shona zu erhaschen, doch bei der Dunkelheit konnte sie nichts sehen.

 

Finlays Zimmer war ein typisches Jungenzimmer mit einem Bett in Form eines Autos und einem Fußball als Sitzsack. In der linken hinteren Ecke stand ein Tipi, an dem Lichterketten befestigt waren. Im Inneren des Zeltes lagen Kissen und eine Decke.

«Das sieht aber sehr gemütlich aus!», lobte Vicky den Kleinen.

«Das ist es auch. Magst du dich mal reinlegen?», fragte er, doch sie antwortete nicht, denn etwas lenkte sie ab. Von Finlays Zimmer konnte man direkt in den Garten hinunterblicken - und auf Graham und Shona, die vom Licht einer Laterne erhellt wurden. Offenbar stritten sie sich. Shona hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt, und Graham redete auf sie ein.

«Magst du dich mal in mein Zelt legen?», fragte Finlay noch einmal, dieses Mal deutlich lauter. Vicky nickte und versuchte, den Gedanken an Graham und Shona zu verdrängen. Weswegen sich die beiden wohl gerade stritten? Sie kroch in das Tipi und legte sich neben Finlay auf die Decke.

«Hier schlafe ich heute Nacht», sagte er. «Und Gertie. Sie kommt gleich rüber. Wir haben morgen nämlich keine Schule. Die Heizung ist ausgefallen.»

«Ist das gut oder schlecht?»

«Gut natürlich.» Finlay grinste so breit, dass sie seine Zahnlücke sehen konnte. «Aber eigentlich gehe ich ganz gern in die Schule. Unsere Lehrerin ist nett. Bist du auch gern in die Schule gegangen?»

«Als ich so alt war wie du, schon.» Sie gab ihm einen Nasenstupser. «Ich hatte damals übrigens auch ein Zelt in meinem Zimmer. Aber es war nicht so ein cooles Indianerzelt, sondern sah aus wie ein Schloss.»

«Wolltest du eine Prinzessin sein?»

«Wollen das nicht alle kleinen Mädchen?»

«Gertie nicht.»

Nein, Gertie nicht! Vicky lachte auf. Die strebte sicher nach etwas Höherem. «Ich wollte eine sein. Schließlich haben Prinzessinnen immer Ponys.»

«Ponys mag Gertie auch. Sie hat sogar ein eigenes. Reitest du auch?»

«Schon seit Jahren nicht mehr. Leider. Dabei würde ich das unglaublich gerne mal wieder tun.» Vicky rutschte ein Stück zur Seite, weil sie etwas Spitzes in ihrem Rücken spürte. «Da liegt was unter der Decke», sagte sie zu Finlay und zog den Gegenstand heraus.

Es war ein Buch. Das Buch. Vicky schnappte nach Luft. Dass sie es ausgerechnet in einem Tipi das erste Mal zu Gesicht bekommen und sogar in den Händen halten würde, damit hatte sie wirklich nicht gerechnet.

«Tut dir was weh?», erkundigte sich Finlay.

«Nein, ich … ich bin nur ein bisschen überrascht. Das Buch wollte dein Papa mir zeigen. Weil ich ihm erzählt habe, dass ich Alice im Wunderland so gern mag.»

«Ich mag es auch. Mummy hat mir das Buch immer vorgelesen. Aber sie ist nicht ganz fertig geworden. Deshalb hat Daddy es mit mir zu Ende gelesen.» Er hörte sich bekümmert an. Aber nur für einen kurzen Moment, dann richtete er sich auf. «Magst du es dir mit mir zusammen anschauen? Es sind viele Zeichnungen drin. Meine Lieblingszeichnung ist die vom verrückten Hutmacher. Und eine von der Grinsekatze. Obwohl die nicht besonders nett ist.»

«Das stimmt. Ich mochte sie auch nie.» Auch Vicky drückte sich nach oben. Sie schlug die erste Seite auf, und ihr Blick wanderte nach unten, bis sie eine Zahl fand. Die Zahl. Hatte ihr Herz vorher schon deutlich schneller geschlagen, spielte es nun endgültig verrückt. Da stand eine Eins. Eine Eins !!! Sie legte ihre Hände fest um den Einband, damit Finlay nicht sah, dass sie zitterten.

Hubert hatte wie immer den richtigen Riecher gehabt. Das hier war wirklich die Erstausgabe! Und das konnte Graham unmöglich wissen. Sonst hätte er dieses unbezahlbare Buch doch nicht Finlay gegeben, sondern es in einen Safe gelegt! Vicky versuchte, tief einzuatmen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.

«Wieso blätterst du nicht weiter?» Finlays Augenbrauen bildeten kleine Halbmonde über seinen runden Augen. Weil es in ihrem Kopf so sehr brauste, konnte sie ihn kaum verstehen.

Als Vicky nicht sofort reagierte, nahm er ihr das Buch ab und erledigte das Blättern für sie. Dabei erzählte er ihr etwas zu den einzelnen Abbildungen. «Vor der Herzkönigin hatte ich Angst. Und die Flamingos haben mir immer leidgetan. Genau wie Humpty Dumpty. Es muss blöd sein, ein Ei zu sein und ständig kaputtzugehen.» Er kuschelte sich so vertrauensvoll an sie, dass es Vicky ganz übel wurde vor lauter schlechtem Gewissen. «Was ist deine Lieblingszeichnung?», fragte er, nachdem er am Ende angekommen war.

«Ich kann es dir gar nicht sagen. Sie sind alle so besonders.» Vicky streichelte ihm abwesend über die weichen Haare, während es in ihrem Kopf arbeitete. Es war die Erstausgabe! Es fiel ihr schwer, ruhig neben Finlay sitzen zu bleiben. «Das ganze Buch ist etwas ganz Besonderes.»

«Ja.» Finlay nickte ernst. «Papa hat gesagt, dass es viel wert ist. Richtig, richtig viel, meint er. So viel, dass wir uns dafür ein neues Haus kaufen könnten. Sogar ein richtig großes. Mit Fußballfeld.» Er senkte seine Stimme. «Deshalb darfst du ihm auch nicht verraten, dass ich es mit ins Zelt genommen habe, ja? Ich sollte es in der Vitrine stehen lassen, bis er es wieder mit in den Buchladen nimmt. Dort ist es nämlich normalerweise in seinem Büro eingesperrt.»

«Ich verspreche es dir», sagte Vicky. «Weißt du, wieso dein Daddy das Buch nicht verkauft? Ich meine, so ein Fußballfeld, das wäre doch was.» Sie bemühte sich um einen leichten Tonfall, merkte jedoch selbst, dass ihre Stimme klang, als hätte sie mit Sand gegurgelt.

«Ja, aber das Buch hat Mummy gehört. Es war ihr Lieblingsbuch. Da können wir es doch nicht einfach verkaufen.» Finlay schien von ihrer Frage ganz überrascht zu sein. «Außerdem brauche ich gar kein eigenes Fußballfeld. Ich muss ja nur die Straße runter, und dann bin ich schon am Sportplatz. Soll ich dir meinen Harry-Potter-Tarnumhang zeigen? Daddy hat ihn mir aus Edinburgh mitgebracht. Dort gibt es ein Harry-Potter-Geschäft. Das nächste Mal, wenn er hinfährt, nimmt er mich mit, hat er gesagt.» Finlay kroch aus dem Zelt. Vicky brauchte einen Moment, bis sie sich dazu in der Lage sah, ihm zu folgen. Natürlich wusste Graham, was das Buch wert war! Er war schließlich nicht dumm. Sie wusste gar nicht, wie sie je etwas anderes hatte erwarten können. Und natürlich wollte er es nicht verkaufen.

Benommen schaute sie noch einmal aus dem Fenster und in den Garten hinunter. Graham und Shona standen noch immer dort. Doch sie stritten nicht mehr. Ganz im Gegenteil! Shona hatte die Arme um Grahams Hals geschlungen, und er hielt sie fest.

Seltsamerweise tat Vicky dieser Anblick sogar noch etwas mehr weh als die Erkenntnis, dass sie das Buch niemals bekommen würde. Was war nur mit ihr los? Irgendwann im Laufe ihres Aufenthalts in Swinton war ihr innerer Kompass kaputtgegangen. Sie wusste nicht mehr, wo sie im Leben hinwollte. Wo sie wirklich hinwollte. Und die Nadel hatte sich bis jetzt leider noch nicht wieder neu justiert.

«Hier ist der Umhang», sagte Finlay und hielt ihn stolz vor sich. «Willst du ihn mal anziehen?»

Ja, das wollte Vicky. Zumindest wenn dieser Umhang nicht nur die Fähigkeit hatte, einen unsichtbar zu machen, sondern auch, einen an einen anderen Ort zu katapultieren. Sie wollte nur noch nach Hause.