D as Brettspiel mit Finlay überstand Vicky noch irgendwie, sie brachte ihn auch noch ins Bett, doch danach verabschiedete sie sich von Graham.
«Du wolltest doch noch bleiben?», protestierte er.
«Ich bin müde. Es war ein anstrengender Tag», sagte sie, und seine enttäuschte, verständnislose Miene verfolgte sie den ganzen Weg bis zum Hillcrest House.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, und über ihr leuchteten Myriaden von Sternen. Sogar die Milchstraße konnte Vicky sehen. In München war der Himmel nie so klar. Und niemals war es dort so still. Überhaupt war sie hier in Schottland in einer ganz anderen Welt. In einer Welt ohne endlose To-do-Listen und überfüllte E-Mail-Postfächer. In einer Welt ohne den Druck, immer besser und schneller sein zu müssen, als sie es eigentlich war.
In dem hell erleuchteten Cottage gegenüber vom Hillcrest House sah Vicky drei Kinder und einen Mann am Esstisch sitzen. Gerade brachte eine Frau einen großen Topf herein und setzte sich ebenfalls. In Vickys Welt gab es nur einsame Abendessen vor dem Fernseher oder vor dem Laptop. Die Abendessen im Honeysuckle Cottage waren so schön gewesen! Vicky drückte Daumen und Zeigefinger an ihre Nasenwurzel, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
Die Eingangstür von Hillcrest House wurde geöffnet. «Was stehen Sie denn in der Kälte herum, Liebes? Haben Sie Ihren Schlüssel vergessen?» Nanette kam heraus. «Ich habe Sie vom Fenster aus gesehen. Kommen Sie schnell rein! Unglaublich kalt ist es!» Sie winkte Vicky heran. «Ach je, Sie sind ja ganz durchgefroren», sagte sie, als sie merkte, wie Vicky zitterte. «Gehen Sie erst mal in den Salon.» Sie half Vicky aus ihrer Jacke und hängte sie auf.
Im Salon bullerte ein Feuer im Ofen. Nanette nahm einen Scheit aus dem Brennholzkorb und legte ihn hinein. Dann mixte sie Vicky aus den verschiedenen Flaschen auf dem Barwagen einen Drink und gab zum Abschluss noch ein paar Apfel- und Orangenscheiben hinein. «Das ist ein Winter-Pimm’s. Probieren Sie mal, Liebes!»
Der Drink schmeckte köstlich.
«Sind Sie jetzt erst mit der Arbeit fertig geworden?», erkundigte sich Nanette.
Vicky schüttelte den Kopf. «Ich war in Newton Steward. Graham hat jetzt donnerstagnachmittags immer frei. Er wollte Weihnachtseinkäufe machen und hat mich gefragt, ob ich mitkomme.»
Nanette hatte sich ebenfalls einen Drink gemixt und sich damit gegenüber von Vicky in den Sessel gesetzt. «Er mag sie», sagte sie lächelnd.
«Meinen Sie?» Vicky senkte die Lider. Seit Graham sie am Klavier mit diesem seltsamen Blick angeschaut hatte, kam sie sich eher wie eine billige Notlösung vor. Jemand, mit dem er ein bisschen Spaß haben konnte. Denn eigentlich wollte er nur Patricia zurück.
«Aber ja! Sie tun ihm gut. Seit Jahren habe ich ihn nicht mehr so unbeschwert erlebt.»
Seit Pats Tod … Vicky schluckte. «Er hat seine verstorbene Frau sehr geliebt, nicht wahr?»
«Das hat er», bestätigte Nanette. «Ich kenne Graham schon, seit er ein kleiner Junge war. Er hat noch nie leichtfertig sein Herz verschenkt, und wenn er es dann doch einmal getan hat, dann voll und ganz.»
Das habe ich gemerkt, dachte Vicky traurig. «Und es gehört noch immer ihr. Sie ist wie ein Gespenst. Zwar ist sie nicht mehr da, aber ihre Anwesenheit ist immer noch spürbar.» Sie hoffte, dass sie sich nicht ganz so bitter anhörte, wie sie sich fühlte.
«Das ist jetzt aber sehr blumig ausgedrückt, Liebes.» Nanette schaute sie mit schief gelegtem Kopf mitleidig an. «Und haben wir nicht alle unsere Gespenster?» Ihr Blick wanderte zu dem Familienbild, das über dem Kamin hing. Neben Reggie, Nanette und einem bunt gefleckten Hund mit Schlappohren waren auch ihr Mann und ihre Tochter darauf zu sehen. «Aber auch wenn wir die Vergangenheit vermissen, heißt das doch nicht, dass wir die Gegenwart deswegen weniger schätzen.» Sie suchte Vickys Blick. «Glauben Sie einer alten Frau: Ich habe gesehen, wie Graham Sie anschaut, wenn er glaubt, dass Sie es nicht bemerken. Und ich habe auch gesehen, wie Sie ihn anschauen. Er mag sie. Und ich zumindest hätte mir in Ihrem Alter einen Mann wie ihn nicht entgehen lassen.» Nanette lächelte Vicky schelmisch an.
«Aber was soll das bringen?» Sie rührte mit dem Strohhalm in ihrem Pimm’s. «Wir führen zwei vollkommen verschiedene Leben und wohnen außerdem viel zu weit auseinander. Es ist vollkommen unmöglich, dass wir zusammen sein können.»
Nanette schwieg einen Moment, bevor sie sagte: «Als ich neulich Ihr Bett gemacht habe, habe ich Alice im Wunderland auf Ihrem Nachttisch gesehen. Das Buch habe ich Reggie früher immer vorgelesen. Können Sie sich noch daran erinnern, was der Hutmacher Alice antwortet, als sie ihm sagt, dass etwas unmöglich ist?»
Vicky nickte, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. «Nur wenn man nicht daran glaubt !» , flüsterte sie.
Als Vicky am nächsten Morgen aufwachte, schlug sie nur unwillig die warme Decke zurück und schwang sich aus dem Bett. Sie hatte nicht gut geschlafen in dieser Nacht. Das Gespräch mit Nanette war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Erschwerend kam hinzu, dass nicht nur Hubert, sondern kurz danach auch noch ihre Mutter gestern Abend versucht hatten, sie zu erreichen. So als hätten die beiden sich abgesprochen. Dabei sprachen sie niemals freiwillig miteinander.
Am Ende der Woche würde Graham von seiner Büchertour zurück sein, hatte sie zu ihrem Vater gesagt. Das war heute. Und auch wenn sie behauptete, mit dem Ende der Woche Sonntag gemeint zu haben, blieben ihr nur noch zwei Tage. Bei dem Gedanken, schon so bald wieder in München zu sein, fühlte sie sich ganz elend.
Einen Moment lang blieb sie am Fenster stehen und schaute über die Dächer von Swinton, so wie sie es auch am Tag ihrer Ankunft getan hatte. Eine Woche war sie nun schon hier! Wie im Zeitraffer waren die Tage vergangen. Vicky mochte die Aussicht auf die sanft gewellte Hügellandschaft, sie mochte die Weite der Wiesen und des Marschlandes, die Nähe des Meeres und dass das Licht hier immer ein bisschen diffus und silbrig wirkte, selbst wenn die Sonne schien. Sie mochte die Menschen in Swinton, die so viel unkonventioneller und herzlicher waren als die in München; mit Ann Webster würde sie wirklich gerne befreundet sein. Und vor allem mochte sie Graham. Graham war liebevoll (sogar zu seiner zickigen Schwester), er war intelligent, er sah gut aus, war fantastisch im Bett … Konnte es wirklich, trotz allem, was zwischen ihnen stand, eine Chance für sie beide geben?
Ja, zumindest, wenn du ihm die Wahrheit über deine Reise nach Schottland gestehst, bevor er von der Agentur erfährt, dass man dort noch nie von dir gehört hat, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Irgendwie hörte sie sich stark nach der von Nanette an.
Hatte die viele Arbeit im Laden in den vergangenen Tagen stets dazu geführt, dass die Stunden bis zum Feierabend ruckzuck vergingen, zogen sie sich heute schier endlos dahin. Immerhin hatte sie es anscheinend geschafft, Graham glaubhaft zu versichern, dass nur Müdigkeit der Grund für ihren abrupten Aufbruch gestern gewesen war. Falls er es ihr nicht glaubte, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
«Sehen wir uns heute Abend?», fragte er sie, als sie ein paar kostbare Momente allein im Musikzimmer waren.
«Das wäre schön.» Vicky schlang die Arme um seine Taille. «Aber ich habe Rosie leider versprochen, zu dem Treffen ihres Buchklubs zu kommen. Und das ist heute Abend.»
«Dann komm doch einfach danach zu mir. Ich muss schließlich nicht wie Finlay um acht ins Bett.» Graham lächelte verschmitzt, und dann küsste er sie. Bereits dieser kurze Kuss reichte, um Vicky weiche Knie zu bescheren.
Den ganzen Tag über war sie überhaupt nicht bei der Sache. Einem Kunden wollte sie ein Buch über die Reparatur von Oldtimern in Geschenkpapier einpacken, obwohl der Mann ihr gerade lang und breit erzählt hatte, dass er sich für das nächste Jahr fest vorgenommen hatte, endlich seinen alten Benz in seiner Garage zu restaurieren. Einer Kundin konnte sie bei der Suche nach dem gewünschten Liebesroman nicht weiterhelfen, obwohl der direkt vor ihrer Nase stand, wie sie nur wenige Minuten später feststellte, als die Frau den Laden verlassen hatte. Und dass es sich bei dem Tagesgericht im Craft um Haggis handelte und nicht um eine überdimensionale Ofenkartoffel, merkte sie auch erst, als sie fast aufgegessen hatte. Dabei hatten die groben und weichen Stückchen in dem Schafsmagen und der fleischig-nussige Geschmack wirklich nichts mit dem einer Kartoffel gemeinsam.
«Alles in Ordnung?», fragte Graham, als Vicky ein Glas Wasser hinunterkippte, um den aufsteigenden Würgereiz zu unterdrücken.
«Ich habe mich nur verschluckt», stieß sie mit sicherlich hochrotem Gesicht hervor.
«Das glaube ich nicht. Du hast nicht gewusst, dass Haggis Schafsmagen ist, nicht wahr?» Graham grinste. «Hätte ich dich vorwarnen sollen?»
Vicky nickte. «Vielleicht hätte ich dir aber auch nur einfach sagen sollen, dass ich eigentlich Vegetarierin bin.»
«Du isst gar kein Fleisch?» Graham hob erstaunt die Augenbrauen. «Wieso hast du denn nie etwas gesagt?»
Vicky senkte die Lider. «Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen, als du mir beim Schlittenfahren das Würstchen im Teigmantel mitgebracht hast. Genauso wenig wie deinen Vater, als er den Braten zum Abendessen gemacht hatte.»
«Und um uns nicht vor den Kopf zu stoßen, zwingst du dich dazu, Fleisch zu essen.»
«Es ist ja nicht so, dass ich mich davor ekele. Zumindest, wenn es nicht irgendwelche Innereien sind. Ich … ich esse Fleisch aus ethischen Gründen nicht.»
«Aha! Hast du sonst noch irgendwelche dunklen Geheimnisse, von denen ich nichts weiß?» Graham wirkte amüsiert.
Ja, die hatte sie. Zumindest eins, und jetzt wäre ein ziemlich guter Zeitpunkt gewesen, es ihm zu gestehen. Aber Vicky musste sich erst noch in Ruhe einen Plan überlegen, wie sie das genau anstellen sollte.
«Finde es heraus!», sagte sie deshalb nur und zwang sich dabei zu einem Lächeln.
Weil ihnen nach dem Lunch noch ein wenig Zeit blieb, bis Graham den Buchladen wieder öffnen musste, bummelten sie ein Stück durch die Main Road. Swintons Hauptstraße war Vicky inzwischen so vertraut wie die Pinselstriche auf Van Goghs Sternennacht , das in ihrer Münchner Wohnung als Kunstdruck gegenüber von ihrem Bett hing. Da der Wind heute ziemlich eisig war und spitze Schneekristalle vor sich hertrieb, stellte sie den Kragen ihrer Jacke auf. Gleich würden sie den Fish-and-Chips-Laden passieren, dann Flowers by Chrissy , einen süßen kleinen Blumenladen, dessen Schaufenster mit einer fröhlichen Girlande aus kleinen Schneemännern, Weihnachtskugeln, Zuckerstangen und Nikolausstiefeln geschmückt war. Danach kam die Boutique, in der Vicky am Tag ihrer Ankunft eingekauft hatte, das Cat with a Hat , und von dort aus waren es nur noch ein paar Hundert Meter bis zu der Alten Molkerei, in der sich das Vintage & Couture von Ann befand und die Galerie … Schade, dass dieser E. Smith sich immer noch nicht bei ihr gemeldet hatte!
Kurz bevor sie Gullivers Toy Store erreichten, wo Graham nach einem Zauberwürfel für Finlay suchen wollte, klingelte sein Handy. Er nahm den Anruf an und stöhnte bereits nach den ersten Sätzen seines Gesprächspartners auf.
«Kannst du sie irgendwie daran hindern?», fragte er. «Gut! Aber sag ihr, dass halterlose Strümpfe bei einem Engel absolut inakzeptabel sind. Sie darf die Schaufensterpuppe nur aufstellen, wenn die ganz züchtig gekleidet ist. Am allerliebsten wäre mir aber, wenn sie sie wieder dahin zurückbringt, wo sie sie herhat. Wir haben genug von ihren Staubfängern im Laden herumstehen!»
«Halterlose Strümpfe! Engel! Du meine Güte! Mit wem hast du denn gerade telefoniert?», fragte Vicky, nachdem Graham aufgelegt hatte.
«Mit Eliyah. Isla hat irgendwo eine Schaufensterpuppe aufgetrieben, die ein Engelskostüm trägt. Aber der Rock ist so kurz, dass man die halterlosen Strümpfe sieht.»
«Wieso sagst du ihr nicht, dass sie dir nichts mehr für den Laden mitbringen soll?»
Graham zuckte mit den Schultern. «Isla meint es ja nur gut. Ich bin froh, dass sie mir ab und zu aushilft, und sie dekoriert doch so gerne.»
Vicky schüttelte belustigt den Kopf. «Du bist ein viel zu nachsichtiger Chef. Eliyah würde ich an deiner Stelle auch nicht erlauben, sich ständig in den Keller zu verziehen. Gibt es eigentlich irgendetwas, das dich auf die Palme bringt?»
«Ja, Lügen», antwortete Graham, ohne auch nur eine Sekunde über diese Worte nachzudenken. «Die kann ich nicht verzeihen. Bei allem anderen bin ich sehr tolerant.» Er legte seine Hand an die Türklinke des Spielwarenladens. «Kommst du mit rein, oder willst du draußen warten?»
«Ich komme mit», antwortete Vicky mit belegter Stimme. Es half alles nichts. Sie musste ihm die Wahrheit sagen! Und das so schnell wie möglich!