Kapitel 34 Graham

«W ie lange stehst du schon da?», fragte Vicky mit tonloser Stimme, nachdem sie ihn gefühlt sekundenlang nur wortlos angestarrt hatte.

«Lange genug.» In Grahams Kopf rauschte es, und er war nicht dazu in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

Er hatte nur auf ein Ale ins Craft gehen wollen, und er war überrascht gewesen, Vicky dort mit einer älteren Frau sitzen zu sehen, wo sie doch zum Treffen des Buchklubs gehen wollte. Aber er hatte sich auch gefreut, und wie immer hatte sein Herz bei ihrem Anblick unwillkürlich angefangen, schneller zu schlagen. Jetzt klopfte es immer noch schnell, aber anders als zuvor schmerzte nun jeder einzelne Schlag.

Langsam nahm doch ein Gedanke in seinem Gehirn Gestalt an und türmte sich in ihm auf.

«Du hast mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht.»

«Nein! Ich kann das alles erklären!» Vicky sprang auf.

«Kein Bedarf! Ich habe alles gehört, was ich wissen muss.» Graham drehte sich auf dem Absatz herum. Er wollte nur noch weg. Keine Sekunde länger hielt er es in ihrer Nähe aus!

Doch Vicky lief ihm nach. Vor der Tür des Pubs holte sie ihn ein. «Warte, Graham! Ich muss wirklich mit dir reden!»

«Warum? Weil alles nicht so ist, wie es aussieht?» Graham lachte bitter. «Erspar uns beiden bitte diese Floskel!»

«Aber in diesem Fall ist es keine Floskel!» Auf Vickys Gesicht hatten sich hektische rote Flecken gebildet. «Ich wollte mit dir reden. Heute! Um dir die Wahrheit zu sagen!»

«Nun, die weiß ich jetzt!» Es wunderte Graham selbst, wie kalt sich seine Stimme anhörte. «Alles war gelogen. Du bist überhaupt nicht wegen der Aushilfsstelle in den Laden gekommen, sondern weil du herausfinden wolltest, ob ich weiß, wie viel meine Alice-im-Wunderland -Ausgabe wert ist. Und um sie mir im Idealfall für einen Spottpreis abzuluchsen. Was mich nur noch interessieren würde …» Er zwang sich, ihr direkt in die Augen zu blicken. «Auf welchem Foto hast du das Buch gesehen?»

Graham sah, wie Vicky schluckte, und es dauerte einen Moment, bis sie ihm antwortete. «Es lag in dem Umschlag mit dem Brief, den Finlay an Patricia geschrieben hat. Der Lebensgefährte unseres Pförtners hat auf einem Parkplatz in Schottland den Luftballonbrief gefunden und ihn mit nach Deutschland genommen.»

Der Brief! Graham atmete gegen den Druck in seinem Brustkorb tief ein. «Das ist so erbärmlich!», stieß er dann hervor. Er wollte schon gehen, doch eine Frage hatte er noch. «In einer Galerie scheinst du also nicht zu arbeiten, sondern in einem Auktionshaus?»

«Ja, in dem meines Vaters», flüsterte Vicky. «Er wollte, dass ich das Buch besorge.»

«Natürlich!» Graham schnaubte. «Und was hättest du dafür bekommen? Einen Anteil vom Erlös?»

Vicky zuckte mit den Achseln. «Vielleicht. Darüber haben wir nie gesprochen.» Jetzt, wo das Kind sowieso schon in den Brunnen gefallen war, konnte sie ihm auch gleich alles erzählen. «Aber ich hätte eine Filialleiterstelle in Berlin bekommen.» Sie senkte den Blick, weil sie sich so sehr schämte.

Graham schwieg einen Moment, bevor er mit rauer Stimme fragte: «Hast du mir eigentlich in irgendeinem Punkt die Wahrheit gesagt?»

Jetzt sah Vicky ihn wieder an. «Ja, das habe ich. Es stimmt, dass ich aus München komme, es stimmt, dass ich in England Kunstgeschichte studiert habe, es stimmt, dass Alice im Wunderland wegen meines Vaters eine ganz besondere Bedeutung für mich hat …» Ihre Stimme brach, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Und es stimmt auch, dass ich mich in dich verliebt habe.»

Nun war es an Graham zu schlucken. Zu gern hätte er sie an sich gezogen, seine Nase in ihren Haaren vergraben, tief ihren Duft eingeatmet und das Gefühl des Nach-Hause-Kommens verspürt, das er in den letzten Tagen immer dann empfunden hatte, wenn er sie in den Armen gehalten hatte. Aber damit war es jetzt vorbei. Dieses Gefühl würde sich nicht mehr einstellen. Jetzt nicht mehr!

«Du hast alles kaputtgemacht», sagte er. Mit diesen Worten ließ er Vicky stehen, und dieses Mal folgte sie ihm nicht.

 

Ohne sich noch ein einziges Mal nach ihr umzudrehen, ging Graham zum Fuchsbau. Er schloss die Tür auf und betrat den viel zu stillen Laden, um durch sein schier endloses Labyrinth von Gängen zum hinteren Bereich zu gelangen, wo sich der Garten befand.

Vicky hatte einmal zu ihm gesagt, wie gern sie den Garten im Sommer sehen würde. Wenn in den Beeten alles blühte. Und wie schön sie es sich vorstellte, in einer lauen Nacht unter dem mit Rosen bewachsenen Pavillon zu sitzen und ein Glas Sekt oder Wein zu trinken. Beete in voller Blüte und Rosen am Metallgerüst des Pavillons hatte er ihr zu dieser Jahreszeit nicht beschaffen können, aber den Sekt. Er hatte sich extra einen Heizpilz von Pebbles ausgeliehen. Und Windlichter von Isla. Sie säumten den Weg bis zum Pavillon. Vorhin noch, als er sie aufgestellt hatte, war es ihm vorgekommen, als warteten die Kerzen darin nur darauf, von ihm angezündet zu werden. Jetzt hätte er die lächerlichen Gläser am liebsten weggekickt, und nur der Umstand, dass sie nicht ihm gehörten, hielt ihn davon ab.

Auf dem Tisch stand bereits der Sektkühler. Die Sektflasche lag noch im Kühlschrank bereit. Und in dem Steinhaus, in das sich Pat immer so gerne zurückgezogen hatte, um ungestört zu schreiben, brannte bereits ein Feuer im Kamin. Damit Vicky und er es nachher schön warm hatten, wenn sie es sich auf der alten Couch darin gemütlich machten. Sogar hier drinnen hatte er Kerzen aufgestellt, auf dem Couchtisch und auf den Fensterbänken.

Der alte Pebbles hatte ihm einen höchst befremdeten Blick zugeworfen, als er die vielen Kerzen auf den Verkaufstresen gelegt hatte. «Soll ich ins Lager gehen, um zu schauen, ob ich noch ein paar dahabe?», hatte er ungewohnt ironisch gefragt, und Graham hatte nur dämlich gegrinst. Was war er nur für ein Idiot gewesen! Graham nahm die Papiertüte, in der er die Kerzen hierhergebracht hatte, und warf sie, eine nach der anderen, wieder hinein.

Dann setzte er sich auf die Couch, zog die Beine an und starrte minutenlang auf die fröhlich flackernden Flammen.

Vicky hatte den Brief gelesen. Den Brief, den sein kleiner Junge im Musikzimmer des Reading Fox geschrieben und an einen Herzluftballon gehängt hatte. Weil er hoffte, dass der Wind ihn zu Pat in den Himmel tragen würde. Stattdessen hatte ihn eine Frau in die Hände bekommen, die ihn die letzten neun Tage belogen und betrogen hatte wie noch nie jemand zuvor. Eine Frau, die ihn kurzzeitig hatte glauben lassen, dass man die große Liebe mehr als einmal im Leben finden konnte. Aber all das war nur eine Illusion gewesen …

In Grahams Kehle begann es zu brennen, und dann erlaubte er sich etwas, das er schon ewig nicht mehr getan hatte. Wegen Finlay, wegen seines Dads, wegen Shona, wegen all seiner Freunde und weil er nach all der Zeit, die seit Pats Tod vergangen war, nicht mehr so ein dämlicher Trauerkloß hatte sein wollen.

Er fing an zu weinen.