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«Ein interessanter Fall.»

Tagliabue beendete seine Runde um den leblosen Körper, versetzte diesem mit seiner Linken einen heftigen Hieb in die Nierengegend: «Die letzte Runde geht an den Bullen.»

Die Leiche nahm die Dynamik der Attacke auf und schwang wie ein Pendel von links nach rechts. Und wieder zurück. Bis sie nach einigem Hin und Her zur Ruhe kam und wieder still im Lot vom Balken hing. Das Kinn lag auf dem Brustbein, die erstarrten, vor Überraschung weit aufgerissenen Augen waren auf den Kommissar gerichtet. Der hatte sich eben die zweitletzte Zigarette aus der zerfledderten Packung genestelt, zwischen die weißen Zähne geklemmt und angezündet, um den Blick des Toten emotionslos zu erwidern.

«Wie lange hängt der schon hier?» Dabei wusste der Ermittler genau, dass es für erste Resultate noch zu früh war.

Wenige Minuten zuvor war Tagliabue von zwei Polizisten durch das Haupttor des Anwesens im Nobelquartier über der Stadt gewinkt worden. Die Uniformierten hatten es bei einem kurzen Blick in den Alfa Romeo Junior Zagato GT 1300, Baujahr 69, bewenden lassen. Als das gelbe Sportcoupé mit dem alten italienischen Nummernschild – die ersten Buchstaben orange, dann vier einst weiße Zahlen – unter sonorem Aufbrüllen des 4-Zylinder-Ottomotors wieder Fahrt aufgenommen hatte, waren die Beamten beruhigt: Sie hatten den heikelsten Part ihres Einsatzes schadlos hinter sich gebracht.

An der nächsten Wegbiegung erkannte der Kommissar in seinem Oldtimer den dunklen Porsche Cayenne, der sich in rasend schneller Fahrt näherte. Der Wagen passte perfekt in die luxuriöse Umgebung, schien aber trotzdem auf der Flucht.

Um das Aneinandergeraten der Autos auf dem schmalen Kiesweg zu verhindern, steuerte der Alfista seinen Klassiker von der Mitte zum Fahrbahnrand, ohne den Rasen zu touchieren – weniger aus Rücksicht auf das satte Grün der Wiese als aus Sorge um das saubere Gelb des Alfas –, und schaltete den Motor aus.

Der andere Lenker steuerte seinen SUV ebenfalls zum Rand und verlangsamte dabei die Fahrt, um ein paar Meter vor ihm erst Schritttempo aufzunehmen und dann ganz anzuhalten. Auf gleicher Höhe angekommen, begann Tagliabue zu kurbeln, um das Seitenfenster zu versenken, während sich die verdunkelte Scheibe des Zuffenhauseners wie von Geisterhand bewegt in die Türe zurückzog.

«Na, Herr Kommissar, wie lange wollen Sie sich denn noch diesen Italiener antun? Wäre es nicht an der Zeit, auf ein deutsches Erzeugnis umzusteigen? Darf es nicht ein BMW, ein Audi, ein VW oder vielleicht ein Opel sein? Aber ihr Italiener geht gern in Schönheit unter. Seid im antiken Rom hängen geblieben.»

Wenigstens hat dieses Reich im Gegensatz zu eurem auch tausend Jahre gedauert, konnte sich der Ermittler zu seinem eigenen Erstaunen beherrschen, seine Meinung laut auszusprechen: «Leider lässt mein Gehalt nicht zu, dass ich über ein neues Auto, geschweige denn ein deutsches Fabrikat nachdenke, Herr Staatsanwalt.»

Der Angesprochene quittierte den Hinweis mit einem kaum wahrnehmbaren Schulterzucken.

«Neu?», fragend blickte der Ermittler zu Hansen hoch über ihm.

«Ja», bestätigte der blonde Mittdreißiger und fixierte seinen Untergebenen. «Vor einer Woche direkt im Werk geholt. Bei dem Eurokurs wäre ich schön doof. Seien Sie vorsichtig, Sie kannten Schläfli ja», wechselte Hansen das Thema unerwartet.

Tagliabue nickte und tat, als ob er seine Erinnerungen in den hintersten Hirnwindungen zusammenkramen müsste: «Ich bin ihm erstmals im Militär begegnet. Dieser Kelch ist an Ihnen leider vorbeigegangen. Denn Sie hätten es auch in unserer besten Armee der Welt vermutlich sehr weit gebracht.»

Staatsanwalt Hansen wusste nicht, was er von dieser Bemerkung halten sollte: «Da war noch die Geschichte mit Schläflis Frau», lehnte er sich weiter aus dem Fenster. «Damals haben Sie sich sehr intensiv mit seinem und dem Leben seiner Frau befasst. Ich muss Ihnen demnach nicht erklären, dass wir diplomatisch und politisch korrekt vorgehen müssen. Herr Schläfli pflegte beste Verbindungen zu den relevanten Stellen unseres privaten und öffentlichen Lebens. Wie das bei uns halt so ist. Also: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Legen Sie mit der Arbeit los, halten Sie mich auf dem Laufenden – ich wünsche, rasch Resultate zu vernehmen und persönlich kommunizieren zu können.»

In absolutem Vertrauen auf dessen Instinkte, Erfahrung und wegen der Ermittlungserfolge ließ der eingebürgerte Deutsche dem eingebürgerten Italiener freie Hand bei den Ermittlungen. Beide profitierten von dieser Symbiose. Dabei war sich der Ermittler bewusst, dass Hansen ihn wie eine heiße Kartoffel fallen lassen würde, wenn die gewünschten Ergebnisse ausblieben oder es dem Staatsanwalt für die Fortsetzung seiner steilen Karriere opportun erschien.

Der Porschefahrer verschwand so langsam und geräuschlos hinter der dunklen Scheibe, wie er aufgetaucht war. Er brachte den Motor zum Aufheulen und schoss davon. So rasch wie möglich kurbelte Tagliabue die Seitenscheibe nach oben, damit der aufgewirbelte Staub nicht in das Wageninnere drang. Immerhin wurde der Alfa nicht vom aufgeschleuderten Kieshagel getroffen.

Der Kommissar startete den Wagen problemlos und freute sich über den charakteristischen, ungebändigten Sound, der noch das Resultat klassischer Motorenbauer und nicht moderner Toningenieure war.

Ruhig setzte er die unterbrochene Fahrt fort und wunderte sich, dass es in der Stadt so große Grünflächen in Privatbesitz gab. Er fragte sich, wie es dem Inhaber des Anwesens gelungen war, sich die einzelnen Parzellen unter den Nagel zu reißen. Alle Möglichkeiten abwägend, dabei die legalen ausschließend, traf er vor der Villa ein. Im Parkverbot – Bentley Parking Only – des Wendebereichs hielt er an, drehte den Motor aus, um, nicht mehr ganz so geschmeidig wie auch schon, auszusteigen.

«Kommissar», grüßte ihn ein junger Uniformierter vor der Haustür, die Mütze mit der Rechten vorschriftsgemäß antippend.

«Eine gründliche Kontrolle ausnahmslos aller Personen, die auf das Grundstück wollen, sieht anders aus. Das hat Konsequenzen.» Er drückte sich an dem Polizisten vorbei, um im Innern der Villa zu verschwinden.

Vor ihm lag beinahe zum Greifen nah der tiefblaue, von Lichtreflexen, bunten Segeln, Booten und Yachten farbig gesprenkelte See in voller Breite. Tagliabue konnte sich nicht von der Sicht aus dem Panoramafenster lösen. Das Bild erinnerte ihn an Werke berühmter Impressionisten. Weder vorne noch links oder rechts von ihm war ein Gebäude auszumachen, das dieses Arrangement aus Park, See und Hügeln am Horizont störte.

«Kommissar», wurde er unvermittelt von einem Kollegen aus den Betrachtungen gerissen. «Wir müssen nach oben. In die Hitze.»

«Ich weiß. Gehen Sie schon vor. Ich komme gleich nach.»

Er schaute sich weiter um. Das Interieur sah aus wie in den Designmagazinen, die in seiner Wohnung auf den weniger exklusiven Möbeln lagen. Der Ermittler kannte die Namen aller Modelle, Designer und Hersteller. Er selbst besaß nur ein Objekt, das einem Vergleich mit der Einrichtung der Villa standgehalten hätte. Den original Lounge Chair von Eames hatte er sich über die Jahre mühevoll von seinem Polizistengehalt abgespart.

Tagliabue fragte sich, wie die Bewohner dieses Anwesens gelebt hatten. Er rückte einen Sessel von van der Rohe zurecht, drehte die silberne Stehleuchte von Castiglioni und verschob eine Vase von Venini, um die inszenierte Harmonie zu zerstören: ohne Erfolg. Parallel zu seiner Erkenntnis, dass er möglicherweise Spuren vernichtete, stieg sein Ärger über diese Makellosigkeit.

«Kommissar!», ertönte es erneut, jetzt unmittelbar hinter ihm.

«Bin schon unterwegs.» Er stellte das Kunstwerk aus Muranoglas an seinen Ursprungsort und folgte dem unbekannten Kollegen zur Treppe. Sobald er einen Fuß aufsetzte, aktivierten sich die in die Wände eingelassenen LEDs.

«Das haben Sie noch nicht gesehen», reagierte der Jüngere auf das Zögern des Älteren. «Made in USA. Und erst im Schlafzimmer. Wenn Sie Durst oder Hunger haben oder mal müssen, dann drücken sie bloß eine Taste und, zack, weisen Ihnen die Lichter den Weg durchs Haus direkt in die Küche oder zur Toilette.»

«Ich weiß.»

«Wieso? Waren Sie schon mal in Amerika?»

«Nein, aber in diesem Haus. Als wenigstens der Hausherr noch lebte. Aber das ist eine alte Geschichte.»

«Dann wissen Sie sicher, dass diese Villa vor mehr als hundertzwanzig Jahren von einem englischen ...»

Tagliabue war nicht sicher, ob er sich über das endlose Geplapper seines Führers ärgerte oder darüber, dass der ihn die wenigen Stufen hinauf abgehängt hatte.

Der Raum befand sich im Halbdunkel. Die Jalousien waren nach heruntergelassen worden. Die leicht schräge Position der Lamellen erlaubte einen eingeschränkten Blick in die Umgebung. Die letzten Sonnenstrahlen des Spätsommertages drangen hinein, sorgten für ein hypnotisierendes Licht-Schatten-Spiel. Vergeblich versuchte der Kommissar, sich an den Namen der lispelnden Schlange im Dschungelbuch zu erinnern.

Der Anblick der Leiche brachte ihn auf andere Gedanken.

Immer noch etwas außer Atem hatte er sich vorsichtig der leblosen Gestalt genähert, um sich geräuschlos mit ihr zu unterhalten – und ihr den Nierenschlag zu verpassen.

«Pass auf, dass du meinen Tatort nicht kontaminierst!» Vor ihm richtete sich eine Person im weißen Schutzanzug auf und beobachtete kopfschüttelnd, wie der Tote nach dem Hieb zur Ruhe fand und wieder senkrecht hing.

«Ungewohnt, diese Hitze zu dieser Jahreszeit», wechselte Tagliabue das Thema. «Trotzdem bleibt der Typ für immer kalt. Wisst ihr, wieso es hier drin noch wärmer ist als draußen?»

«Die Rollladen waren unten und die Heizung voll aufgedreht», kam es von irgendwo.

«Wer dreht bei den Außentemperaturen die Heizung an?» Er widmete sich wieder der Leiche. Sie hing mitten im Zimmer an einem Holzbalken, der eigentlich für einen soliden Kristalllüster vorgesehen war. Der Kommissar drehte den Körper sacht. Dabei ließ er den Blick von den Füßen bis zum Kopf des Toten und wieder zurück gleiten.

«Du brauchst den Kopf nicht hängen zu lassen», er fischte seine letzte Zigarette aus der Packung, «irgendwann erwischt es uns alle.»

Ein brennender Schmerz holte ihn aus seinen Betrachtungen über das Leben und Sterben zurück. Wütend schnipste er die glühende Kippe auf den Teppich, wo sie mit einem kurzen Zischen erlosch.

«Der Boden unter der Leiche ist gut getränkt», meinte Schläppi, der Kollege von der Spurensicherung. «Möglicherweise Wasser, vielleicht eine andere Flüssigkeit. Genaues wissen wir aber erst nach den Laboruntersuchungen. Riecht auf jeden Fall ziemlich abgestanden.»

«Sicher hat der Typ bei seinem Abgang in die teure Hose gemacht.»

«Vielleicht ist dir ja aufgefallen, dass die Beinkleider trocken und keine Reste oder Ränder einer Flüssigkeit an ihnen zu entdecken sind.» Schläppi schaute kurz auf und machte ihm mit einer Handbewegung deutlich, den Tatort doch endlich freizugeben.

Grinsend sah sich Tagliabue noch etwas um. Die geleerte Packung Parisienne entsorgte er in einer teuren Vase. Er kramte in den auf dem Salontischchen liegenden Sachen und verlieh der eigenen Anwesenheit trotzdem nicht den leisesten Hauch von Sinn. Er untersuchte noch ungeöffnete, an Schläfli adressierte Kuverts, blätterte in Tageszeitungen und durchstöberte die Werbesendungen.

Irgendwann beschloss er, wieder in die Stadt hinunterzufahren und den Abend daheim vor dem Fernseher zu genießen.