Am Tag darauf bestätigte sein Assistent, was Tagliabue bereits wusste: «Heinrich oder eben Heiri, wie ihn seine besten Freunde nennen, Schläfli ist – besser: war – ein erfolgreicher Großindustrieller. Er hat marode Firmen zu Spottpreisen erworben, zum Blühen gebracht, um sie teuer weiterzuverkaufen. Dabei hat er des Öfteren einen guten Riecher und ein glückliches Händchen bewiesen.»
Stolz präsentierte Deubelbeiss seinem Chef die Resultate seiner Nachforschungen. Er hatte sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um Polizeiarchive und das Internet nach brauchbaren Informationen über den Verstorbenen zu durchforsten.
«Schon seit Jahren erscheint Schläfli auf der Liste der reichsten Einwohner des Landes. Auch hier hat er sich stetig nach oben gearbeitet. Über das Privatleben gibt’s wenig. Wenn, vor allem aus Klatschblättern: Wohltätigkeitsbälle, wo er große Summen spendete. Sonst nichts. Verwitwet, keine Geliebte, Kinder oder Skandale. Die Steuern immer bezahlt, wie es sich gehört. Und damit seinen Beitrag gemäß dem rekordtiefen Steuersatz seines Wohnorts geleistet. Er gab nie Anlass zu Ärger oder Aufsehen.»
Mit rasch sinkendem Interesse hörte der Ermittler seinem Assistenten zu, bis er den Faden ganz verloren hatte und sein Blick in den Innenhof des Kommissariats fiel.
«... Schläfli Kommandant einer Grenadiereinheit.»
Das Stichwort ließ Tagliabue aufhorchen.
Vor über einem Vierteljahrhundert hatten sich ihre Wege gekreuzt. Schon damals war der Unterschied zwischen ihnen unübersehbar. Nach Maturabschluss und vor Studienbeginn hatte Schläfli die Rekruten-, die Unteroffiziers-, die Offiziersschule absolviert. Danach sollte es für den angehenden Offizier und Studenten der Wirtschaftswissenschaften erst recht ganz steil nach oben gehen.
Tagliabue hatte die kaufmännische Lehre abgeschlossen, zwei Jahre in der Verwaltung hinter sich und stand kurz davor zu heiraten. Da machte ihm die Einbürgerung einen Strich durch die Rechnung. Das langwierige Verfahren hatte sich träge dahingezogen. Aber kurz bevor er für die Rekrutenschule zu alt geworden wäre, erhielt er seinen roten Pass mit weißem Kreuz und das Aufgebot zur Musterung.
Statt in die Ehe einzutreten und einen Job zu finden, war er im Jahr darauf in die Rekrutenschule eingerückt. Dort wurde er in Schläflis Zug eingeteilt – nicht nur einige Jahre älter als die Kameraden, sondern auch älter als viele der Vorgesetzten. Während andere gut mit der Situation umgehen konnten und «dem Alten» Privilegien einräumten, witterte Schläfli eine vage Gefahr für das sehr fragile Kollektiv, für das er als jüngster aller Offiziere verantwortlich zeichnete.
So entspann sich der Konflikt. Als Schläfli erkannte, dass es Tagliabue immer wieder gelang, seinen Fallen und Intrigen zu entkommen, trieb das den Leutnant an, noch rücksichtsloser mit der Truppe umzugehen. Den Höhepunkt bildete eine Übung mit der Panzerfaust: Tagliabue war Schläflis Assistent, musste die Waffen und die Munition bereithalten und kontrollieren. Gegen Abend bemerkte der Leutnant, dass es einem der Rekruten mit Deckung des Assistenten gelungen war, sich vor der Panzerfaust zu drücken: Egon Burgener, Musterathlet und Mitglied der Rudernationalmannschaft, der sich vor nichts und niemandem fürchtete, hatte sich tags zuvor beim Sturz auf der Kampfbahn an der Schulter verletzt. Trotzdem hatte er einen Abend mit freiem Ausgang der Visite beim Militärarzt und dem Einholen des medizinischen Dispenses vorgezogen.
Deshalb wollte Schläfli nichts davon wissen, seinen besten Mann von der Gefechtsübung zu befreien. Während der Rest des Zugs in die Unterkunft zurückkehrte, bereiteten sich der Leutnant und die zwei Rekruten bei einbrechender Nacht auf die Fortsetzung vor. Rasch zeigte sich, dass die verletzte Schulter ein Schießen, geschweige denn ein Treffen der definierten Ziele nicht zuließ. Im Gegenteil: Der Rückstoß der alten Panzerfaust verschlimmerte die Schmerzen. Mit zunehmender Dunkelheit gestaltete es sich schwieriger, die auf Karton gepinselten Konturen eines russischen Panzers im Gelände auszumachen. Aber Schläfli gab nicht nach. Mal für Mal befahl er, nachzuladen. Mal für Mal verfehlte Burgener das Ziel. Was ihm immer zynischere Beleidigungen eintrug.
«Semper fidelis» dachte Tagliabue, der die Eskalation hilflos betrachtete und ebenso zum Opfer des Leutnants wurde. Als Burgener endlich in Tränen ausbrach, gab sich Schläfli nicht zufrieden. Von seiner uneingeschränkten Macht berauscht, setzte er die zu einer Farce verkommene Übung bis zur letzten Granate, bis weit nach Mitternacht fort.
Noch in der gleichen Nacht hatte sich Burgener mit einem Schuss in den Kopf aus seinem Sturmgewehr umgebracht. In der Folge interessierte nur die Frage, wie der Rekrut an die Munition gelangt war, die zum «Unfall mit tödlichem Ausgang» geführt hatte. Eine Untersuchung gegen Schläfli wurde nie eröffnet – auch weil Tagliabue kein Wort über die Nacht verloren und sich zum Komplizen gemacht hatte.
In die Gegenwart zurückgekehrt, erhob sich der Kommissar jäh vom Bürostuhl und stand wenig später draußen vor dem Kommissariat. Er wandte sich Richtung Altstadt, überquerte den Fluss und wählte den weiteren Weg durch die verwinkelten, engen Gässchen des mittelalterlichen Stadtkerns. Hier kannte er jede Ecke, jeden Haus- und Hinterhofeingang, zunehmend weniger, aber immer noch viele Gesichter. Mit fast jeder Hausnummer war für ihn eine Geschichte verbunden. War es zuerst Privates gewesen, hatten die beruflichen Ereignisse allmählich überhandgenommen. Der Kommissar war sich der Entwicklung erst bewusst geworden, als er viele seiner Freunde und Bekannten bereits verloren oder, wie er es nannte, «seiner Berufung geopfert» hatte.
Die ineinander verschachtelten Häuser der Altstadt hinter sich lassend stieg der Kommissar bedächtig die Rampe hinauf. Die Jacke hatte er ausgezogen und über seine rechte Schulter geworfen. Seine Schritte waren zu lang, um eine Stufe bequem, aber zu kurz, um zwei Stufen auf einmal nehmen zu können. In einem Eins-zwei-eins-zwei-Rhythmus erreichte er die Terrasse. Sein Blick wanderte über nahe Dächer und entferne Hügel, glitt an den Hausfassaden entlang. Durch die von Straßen und Schienen geschlagenen klaffenden Wunden. Der Kommissar war erstaunt, wie ruhig und friedlich sich die Stadt unter ihm präsentierte. Er kehrte ihr und ihren Problemen, die regelmäßig zu seinen wurden, gedankenverloren den Rücken.
Mehr als eine halbe Stunde später, er hatte seine Fahrt vom pulsierenden Zentrum an die leblose Peripherie der Stadt nur unklar wahrgenommen, wies ihn die freundliche, synthetische Frauenstimme auf die bevorstehende Ankunft hin. Ungelenk erhob er sich vom steinharten, während der Fahrt warm gesessenen Sitzplatz. Mit tapsigen Schritten, die vielversprechendsten Tageszeitungen, Zeitschriften und Magazine links und rechts einsammelnd, wankte er in Richtung Führerkabine. Mit einem «Ich wünsche einen guten Abend» kletterte er zum Gehsteig hinunter, die Tramchauffeurin ob so viel Freundlichkeit sprachlos zurücklassend.
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne streiften die Spitzen der benachbarten Hügelketten. Er ignorierte die Abendstimmung, öffnete das hölzerne Tor zur Siedlung mit ihren zehn Reihen zu je fünfundzwanzig Schrebergärten, die sich in perfekter Symmetrie zwischen den Gleisen und der Autobahn ausdehnten. Auf dem Spaziergang vorbei an den Häuschen erkannte er Gärtner, die entweder noch mit ihren Beeten oder bereits mit dem fleischbeladenen Grill beschäftigt waren.
Nachdem der Kommissar seine Parzelle erreicht, Gartentor und Hüttentür ent- und wieder verriegelt hatte, gönnte er sich eine Pause. Er setzte die 3 tazze von Bialetti auf den Brenner, entledigte sich der Jacke, Hose, Socken und Schuhe. Er füllte ein Glas mit reichlich Gin, nahm das Paket vom Tisch, entzündete die Parisienne, zerrte einen Hocker heran und kontrollierte das iPhone: «Heute Abend nicht. CSJ.» So die frustrierende SMS.