Als Tagliabue am darauffolgenden Morgen erwachte, fühlte er sich wie von einer Dampfwalze überrollt. Er war auf einem unbequemen Gartenstuhl eingeschlafen – der Alkohol hatte das Seine dazu beigetragen, dass es der Kommissar nicht einmal mehr in die dafür vorgesehene Koje geschafft hatte.
Seine Rechte im Bund der Unterhose, die Linke ungelenk am Zähneputzen, begab er sich zur 3 tazze. Der Brenner war zum Glück abgedreht, der Kaffee jedoch vergessen worden. Auf der kalten, dunkelbraunen Brühe hatte sich während der Nacht eine ölige Schicht gebildet.
«Das fängt ja gut an», hörte er sich murmeln.
Eine Viertelstunde später saß Tagliabue in der Pizzeria «Il Sole» und wartete ungeduldig auf den ersten Espresso des Tages. Als frühester Gast an diesem sonnigen Morgen wurde er vom albanischen Inhaber bedient – am Stadtrand hatten sich die Besitzverhältnisse der meisten Osterie, Trattorie, Ristoranti oder Pizzerie vom Stiefel auf den Balkan verlagert. Seit Generationen in der neuen Heimat, hatten sich die Italiener nicht nur geografisch von den Peripherien in die Zentren verschoben. Schaufelten und pickelten ihre Väter noch als billige und austauschbare Arbeitskräfte auf den vielen Baustellen, prägten ihre Kinder in allen Bereichen, auf allen Ebenen das Leben der Schweiz. Sie machten zum Teil aufsehenerregende Karrieren in der Wirtschaft, in der Kultur oder in der Politik. Dabei engagierten sich viele in konservativ-bürgerlichen Parteien und setzten sich häufig dafür ein, dass den aktuellen Immigranten nicht die gleichen Möglichkeiten zugestanden wurden wie ihnen oder ihren Eltern. Für Salvatore Tagliabue waren die Ressentiments unerklärlich, wusste er doch, wie schwer sich die Eltern damit getan hatten, sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden. Auch der kleine «Tschingg», wie sie ihn schimpften, durfte nie zu ihnen gehören. Das war später – zunächst ungewollt, dann freiwillig – zu einem Prinzip geworden. Er hielt sich abseits aller Gruppierungen und pflegte mit der selbstgewählten Isolation genau jene Eigenschaft, die er seinem papà zum Vorwurf machte.
Bei diesen Gedanken nahm sich der Sohn einmal mehr vor, den Vater anzurufen. Anderseits kannte der seine Nummer auch, hatte mehr Zeit und ebenso gute Gründe, den Sohn zu kontaktieren. Und schlussendlich hatte er Salvatore in diese Welt gesetzt und Jahre später ebenso ungefragt in die Schweiz verschleppt.
Mit jedem missglückten Versuch, das Telefon in die Hand zu nehmen, wuchs mit der rein zeitlichen die persönliche sowie die thematische Distanz zwischen den beiden. Noch mehr fürchtete sich der Sohn aber davor, dass der andere mit unreflektierter Selbstverständlichkeit abheben, ihn mit dem gewohnten «pronto» begrüßen und ihr Gespräch so starten würde, als ob sie sich kürzlich – oder überhaupt einmal – über irgendetwas Relevantes unterhalten hätten.
«Bitte, Espresso.»
«Grazie. Hast du HEUTE?»
«Nein», drehte sich der Serbe ab.
Die Tür zur Pizzeria ging auf, und der Postbote, einen Stapel Papier unter seinem Arm, trat ein.
«Hallo, Torsten», grüßte der Wirt.
Der Ankömmling eilte zur chromstählernen Bar, ergriff drei Tüten Zucker, riss sie hastig auf. Bammert blickte sich im Restaurant um, begrüßte den Kommissar mit einem angedeuteten Nicken. Seit dem ersten Aufeinandertreffen nannte ihn der seiner Aussprache nach aus Deutschland, der Ermittler tippte auf Sachsen, stammende Postbote nicht mehr beim Namen, nachdem er ihn damals mit «Tackliabü» angesprochen hatte. «Ta-lja-bu-e» hatte der Ermittler den Namen sequenziert. Genau wie für einen, der nicht richtig zugehört hatte, schwer von Begriff war oder beides in einer Person vereinte.
Der Wirt hatte sich inzwischen zu seiner Kaffeemaschine bewegt, einen Espresso mit billigem Grappa gepimpt und die Tasse vor Bammert hingestellt. Der Polizist fragte sich, ob es Pöstlern erlaubt war, außerhalb der offiziellen Pausen Espresso zu trinken, diesen nicht zu zahlen und mittels Fusel aufwerten zu lassen. Der Gelbuniformierte beeilte sich und vertagte die Unterhaltung mit dem Wirt auf einen Morgen ohne Überwachung. Den Kaffee getrunken, die Werbesendungen, die Zeitungen und Briefe auf die Bar geknallt, eilte Bammert durchs Lokal zum mit laufendem Motor wartenden Mofa inklusive Anhänger.
«Da hast du HEUTE», schleuderte der Wirt die Zeitung aus sicherer Distanz knapp vor Tagliabue auf den Tisch.
«Danke.»
Kaum hatte der Polizist das Blatt zum vollen Tabloid entfaltet, überfielen ihn die fetten, großen, weißen Buchstaben auf orangem Grund.
«Großindustrieller tot aufgefunden.» Darunter: «War es Selbstmord?»
Der Ermittler studierte die aus einem Archiv stammende Luftaufnahme von Schläflis Anwesen. Aktuell war hingegen das Bild vom Villaeingang. Dem Pressefotografen war es gelungen, hinter die Mauer und durch den offenen Park bis zur Haustür zu kommen. Dort war dann jedoch Endstation, wie ein kurzer Blick auf die folgenden Seiten bestätigte und beruhigte.
Er begann zu lesen: «Gestern Morgen wurde der Großindustrielle B. S. (Name d. Red. bekannt) leblos in seiner luxuriösen Villa aufgefunden. Nach Angaben der Polizei entdeckte eine Haushälterin den leblosen Körper erhängt in einem Zimmer seines Anwesens. Die Angestellte hatte am Abend vorher noch Kontakt mit B. S. Wie die geschockte Augenzeugin HEUTE exklusiv mitteilte, sei ihr nichts Besonderes aufgefallen. ‹S. verhielt sich wie immer. Er hat mich arbeiten lassen und mir Aufträge für den nächsten Tag gegeben.› Zu den genauen Todesumständen kann die Polizei noch keine Angaben machen. Dies sei Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Die Medien und die Öffentlichkeit würden zu gegebener Zeit informiert. Das lässt vermuten, dass die Ermittler noch im Dunkeln tappen. So stellt sich die Frage: War es ein Mord oder Selbstmord?»
Den Inhalt des Artikels rekapitulierend nahm Tagliabue die Tasse, führte sie zum Mund, stellte sie, ohne daraus getrunken zu haben, wieder auf den Tresen.
«Toter hinterlässt Lücke», las er den Zwischentitel und weiter: «Die Holding von B. S. ist erschüttert über den Tod ihres Verwaltungsrats- und Ehrenpräsidenten. Aus dem operativen Geschäft hatte sich B. S. bereits vor einigen Jahren zurückgezogen. ‹Sein unerwarteter Tod hinterlässt ein Vakuum, das kaum zu füllen sein wird›, ergänzte Hans Krämer, langer enger Weggefährte des Opfers, gegenüber HEUTE.»
Tagliabue hatte den Einstieg in den Beitrag aufmerksam gelesen, dabei aber nichts Überraschendes erfahren. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass die Reporter – vor allem jene des Boulevards – viel direkter an die Personen und die Informationen gelangten als er und die Kollegen. Es irritierte ihn immer noch, dass die Polizei mit anderen Regeln spielen musste als die Presse.
«Nach Angaben der Nachbarn hat sich B. S. in den letzten Jahren aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. ‹Nach dem Tod seiner Frau habe ich ihn nicht mehr oft gesehen›, vertraut ein Nachbar HEUTE an. Ein anderer Bewohner des Promi-Quartiers hat Ähnliches beobachtet: ‹Früher traf man ihn hin und wieder auf der Straße. Danach sah man nur noch die verdunkelte Limousine vorbeifahren. Er ist wohl recht einsam gewesen.› Die Aussagen der Anwohner decken sich mit den aktuellen Informationen von HEUTE: B. S. zog sich nach dem mysteriösen Verschwinden seiner Frau zurück. Er konzentrierte sich auf sein Mandat als VR-Präsident. ‹In jüngster Vergangenheit kämpfte seine Firma mit Schwierigkeiten, und B. S. dachte daran, wieder ins Tagesgeschäft einzugreifen›, so ein Insider.»
Gelangweilt las Tagliabue weiter. Nach wie vor hoffte er, auf etwas gehaltvollere Informationen zu stoßen, und überflog die folgenden Passagen flüchtig: «In der Tat hatte B. S. früh ein glückliches Händchen bewiesen und sich ein gewaltiges Imperium erarbeitet. Seine Karriere begann er nach seiner Verkaufslehre. Er arbeitete sich unaufhaltsam nach oben, führte und übernahm Firmen. Beim Kauf und Verkauf diverser Unternehmen schuf er sich aber einige Gegner.»
Als ob das außergewöhnlich wäre, murmelte der Ermittler zu sich selbst, um weiterzulesen: «‹Der Erfolg gab ihm recht›, schaut ein Bekannter zurück. ‹Nicht jeder hatte sich auf dieses Comeback gefreut.› Jetzt befindet sich alles in der Schwebe, auch bezüglich der Besitzverhältnisse. Für die Mitarbeitenden stellt sich nun die bange Frage: Wie weiter?»
Umständlich fischte der Ermittler das Handy aus der Tasche, tippte eine Nummer. Nach ungeduldigem Warten vernahm er die kaum hörbare Stimme.
«Hallo?»
«Können wir uns in einer halben Stunde treffen?»
«Wo?»
«Wie wär’s mit den ‹Drei Königen›?»
«Bist du pünktlich?»
Bevor er antworten konnte, hatte die Gegenseite aufgelegt.
Der Kommissar stand auf und langte gedankenverloren nach dem unberührten Espresso. Ohne diesen zu trinken oder zu zahlen, verabschiedete er sich mit einer Handbewegung.
Die Brasserie «Drei Könige» befand sich in der Altstadt und wurde seit Jahren genossenschaftlich, aber dennoch erfolgreich geführt. Über der Gaststätte lagen die Seminar- und die Meetingräume ohne jede moderne technische Infrastruktur. Die kleinen, niedrigen Zimmer in der ersten und zweiten Etage erinnerten in ihrer Kargheit eher an ein Kloster als ein Hotel. Im niedrigen düsteren Erdgeschoss waren seit der frühmittelalterlichen Grundsteinlegung nur die Wirtshaustische und Massivholzstühle ersetzt worden. Der Saal war so dunkel, dass die an zeitloser Stilabstinenz nicht zu übertreffenden Leuchten bis auf den Wirtesonntag am Montag rund um die Uhr von der Kassettendecke herabstrahlen mussten. Als Kompensation des ökologischen Frevels legte die Küche einigen Wert auf biologisch angebaute, fair ge- und behandelte Produkte. Teile davon wurden in diesem Moment von einer rundlichen Köchin vorbereitet. Ihre fleischigen Hände führten die scharfen Werkzeuge mit einer Eleganz und Rasanz, die man ihr niemals zugetraut hätte. Dabei schwitzte sie stark, und Tagliabue beobachtete durch das breite Loch in der Mauer, wie ein Tropfen an ihrer Nase langsam anschwoll, sich löste, um senkrecht in das daruntergestellte Gefäß mit frisch geschälten Karotten zu fallen. Angeekelt nahm er sich vor, im «Drei Könige» künftig nur noch Getränke und industriell gefertigte, keimfrei verpackte Snacks zu konsumieren.
Seine Einladung, wenn nicht Aufforderung, wartete schon an einem der Tische im hintersten Bereich des Raumes. Im Vorbeistürzen orderte er beim Kellner einen Espresso und warf eine Frage in den Raum: «Finale Wimbledon, 1980?»
«Ein Kinderspiel. Willst du mich beleidigen? Borg gewinnt im fünften Satz gegen McEnroe acht zu sechs. Ein legendäres, episches Duell. Vielleicht noch etwas besser als Nadal-Federer am selben Ort, 28 Jahre später.»
«Okay. Ungesetzte Spieler im Finale der Swiss Indoors der letzten zwanzig Jahre?»
Sichtlich herausgefordert, überlegte der Gefragte kurz: «2004 Jiří Novák sowie 2011 ein Schlitzauge. Nishikori – verlor jedenfalls gegen Federer. Kein Wunder, sieht die Bälle ja nur in Ausschnitten. Dass der so eine Karriere gemacht hat.»
Abgrundtiefer Zynismus verband die zwei älteren Herren und machte sie zu etwas Ähnlichem wie Freunden. Zudem blickten Journalist und Polizist auf eine gemeinsame Zeit auf der HEUTE-Redaktion zurück. Als Produzenten hatten sie im Sport begonnen, einer mit Schwerpunkt Tennis und Rad, der andere für Eishockey und Fußball. Ihre Faszination für die schönste Nebensache der Welt verband sie auch über zwanzig Jahre später noch, obwohl sich ihre beruflichen Wege längst getrennt hatten. Für Tagliabue bot selbst der Boulevard auf Dauer viel zu wenig Nervenkitzel. Lüthi hatte zwar den Sprung vom Sport weg zu Unfällen und Verbrechen, allerdings nicht vom Journalismus geschafft. So kam es, dass die beiden hin und wieder zu den gleichen Fällen recherchierten.
«Wie üblich kommst du zu spät. Hast du auf dem Weg noch einen Fall gelöst?»
«Gerade du müsstest das eigentlich wissen. Ihr erfahrt doch immer alles als erste», konterte der Ermittler. «Und was für eine tolle Geschichte bringst du morgen in HEUTE?»
«Wie hat dir denn meine Titelstory von heute gefallen?»
«Deckt sich mit unseren Recherchen. Vieles war allgemein bekannt. Bei einer Persönlichkeit von öffentlichem Interesse hättet ihr den Praktikanten schicken können. Die Interviews mit den zufällig ausgewählten Passanten sind einfach nur banal.»
«Die Jungen nutzen Facebook, Twitter und wie sie alle heißen. Für die ältere Generation bleibt die Zeitung noch die soziale Plattform. Viele dieser reichen Alten fanden vor noch nicht allzu langer Zeit dank uns etwas Öffentlichkeit. Sie lieferten die Headlines und die Inhalte für uns Medien. Heute inaktiv, unattraktiv, nicht interaktiv, interessiert sich keiner mehr für sie. War ganz einfach, zu den Aussagen zu kommen. Da kennen wir im Gegensatz zur Polizei keine Probleme», frotzelte der Journalist.
«Wer hat euch an den Tatort gelassen?»
«Morgen widmen wir uns dem gesellschaftlichen Leben der Schläflis. Bis zum Tod seiner Frau bildeten die beiden ein gern gesehenes Paar. Sie waren immer der Mittelpunkt der High Society. Der Charity-Event auf ihrem Anwesen war einer der Höhepunkte der Saison. Ihm schienen ihre Auftritte eher peinlich. Nach ihrem Verschwinden zog er sich von dieser Bühne zurück. Über die genauen Umstände lässt sich nur spekulieren ...»
«Und was weißt du dazu?», unterbrach Tagliabue.
«Du kennst doch die Gerüchte.»
«Mein Job sind Fakten.»
«Und die hast du damals auch nicht zutage gefördert. Du hättest es in der Hand gehabt.»
«Wo bleibt, verdammt noch mal, mein Espresso?»
«Was ist mit der La Pavoni? Oder der Pizzeria? Wollte dir der Balkanitaliener keinen Kaffee offerieren?»
«Heiß, kalt», fasste der Ermittler die Kaffeechronik des Tages zusammen.
«Da wirst du hier aber auch nicht glücklich», bewertete Lüthi den Inhalt der Tasse, die knapp vor dem Kommissar auf den Tisch geknallt wurde. «Du weißt genau, was gemunkelt wurde», nahm er das Thema wieder auf. «Schläfli schien auf diese Möglichkeit zum Rückzug aus der Öffentlichkeit gewartet zu haben. Alle Auftritte wurden sofort gestrichen. Als hätte er gewusst, dass sie ...»
«... nie wieder auftauchen würde», ließ der Kommissar die alten Geschichten Revue passieren.
«Einige haben Schläfli bedauert und bewundert. Er tat ihnen leid, weil er seine Ehefrau verloren hatte. Sie interpretierten seinen schnellen Rückzug als Zeichen von tiefer Trauer und Verzweiflung. Er gab sich das Bild des Topmanagers mit Gefühlen.»
«Ein Image, das ihr intensiv gefördert habt», rief sich Tagliabue die damalige Berichterstattung in Erinnerung.
«Einen einzigen Artikel haben wir veröffentlicht», regte sich sein Gegenüber lautstark auf. «Die Fortsetzung war geplant. Die Beiträge bereits produziert. Dann kam die Aufforderung des Verlags. Wir sollten die Berichterstattung sofort fallen lassen. Aus Rücksicht auf die Gefühle des Witwers, wie es hieß. Es gebe kein Interesse der Öffentlichkeit an der Geschichte oder an Schläfli. Es lag auf der Hand, dass die Seilschaften der old boys spielten. Wir haben die Sache beiseitegelegt. Wir können es uns im Gegensatz zu euch nicht erlauben, Befehle von oben zu ignorieren. Oder einen Fall über Monate ergebnislos zu verfolgen. Aber ich habe jetzt weder Zeit noch Lust, Schläflis Frau auferstehen zu lassen. Sie ist tot und sie ist es mir auch nicht wert», schloss er seine Berichterstattung zum damaligen Fall. «Wenn du Details willst, dann lies deine alten Protokolle noch einmal. Falls du sie nicht eh auswendig kennst.»
Tagliabue schabte den Kaffeeschaum von der Wand, kratzte den Zucker vom Boden der kleinen Tasse: «Wie kommt ihr darauf, dass sich Schläfli selbst umgebracht hat? Wieso lasst ihr ihn mit eurem Sensationsjournalismus nicht in Ruhe?»
«Die Seilschaften beginnen sich aufzulösen.»
Und werden durch dichte Netze ersetzt, ergänzte der Ermittler in Gedanken.
Lüthi bemerkte die kurze Abwesenheit des Tischnachbarn: «Interessiert es dich, was ich dir erzähle? Vertraust du nur deinen Vorurteilen? Recht schlechte Voraussetzungen für einen gar nicht so schlechten Bullen.»
«Wie kommt ihr darauf, dass sich Schläfli erhängt hat?»
«Die Haushälterin und die Polizisten sagen das. Zudem: Wer hängt schon jemanden auf? Außer in Italowestern. Mit Mundharmonika dazu.»
«Die Polizisten und die Putzfrau», wiederholte Tagliabue breit grinsend. «Klingt fast wie der Titel eines billigen Krimis. Fragt sich nur, welche Quelle vertrauenswürdiger ist.»
Lüthi musterte ihn kritisch: «Nenn sie nicht Putzfrau. Sie war die Haushälterin bei Schläfli und kam nach dem Tod seiner zweiten Frau in die Villa. Sie hat ihn gefunden.»
«Scheint, als würdest du die Putzfrau verdächtigen.»
«Wenn du sie mit Putzfrau ansprichst, wirst du kein Wort aus ihr herausbringen», warnte der Journalist.
«Ist eure Recherche darum so mager ausgefallen? Das dürfte euch Schreiberlingen nicht passieren. Ihr wisst doch, wie man mit Worten umgeht.»
«Ich muss auf die Redaktion.» Lüthi schob sich vom Tisch und erhob sich. «Die Fortsetzung wartet. Die Leser sind gespannt. Auch darauf, was du herausfindest. Ich wünsche dir mehr Glück als in der letzten Causa Schläfli. Der Herr Kommissar bezahlt alles», hob er, sich im Vorbeigehen laut an den Kellner wendend, Tagliabues Anonymität auf.
Der Polizist knallte die Zwanzigernote beim Verlassen des Restaurants mit der flachen Hand auf den Tresen: «Der Rest ist für Sie», zeigte er sich generös, um sein Image und die Stimmung des Kellners zu verbessern. Er verließ den Raum, trat durch die schwere Tür und stand mitten in der Altstadt. Die Hauptgasse begann sich allmählich mit Menschen und Leben zu füllen. Nachdem sich das motorisierte Dreirad des Postboten durch die Passanten geschlängelt hatte, mischte sich auch der Ermittler in den Menschenstrom und ließ sich mit der Masse treiben.
Tagliabue bog in eine der unbeachteten, umso charakteristischeren Seitengassen ein. Er fragte sich, wie das Lampengeschäft hinter blinden Schaufenstern, die Metzgerei ohne Auslage und andere Geschäfte an nicht besonders bevorzugter Lage ihr Überleben sicherten. Eine verkehrs- und zu dieser Zeit noch fußgängerfreie Straße passierend, betrat er einen der schmalen Stahlstege über den weiten Fluss, der seelenruhig aus dem See floss und die Stadt entzweite.
Obschon er den direkten Weg zum Kommissariat gewählt hatte, traf er zu spät ein. Er glaubte, sich das wegen seiner Position erlauben zu dürfen. Und in der Tat war ihm in seiner langen Karriere noch kein Vorgeladener davongelaufen.
Das traf auch auf die Haushälterin des toten Schläfli zu. Auf einem Bildschirm beobachtete der Ermittler die Haushälterin: Sie saß, ohne ihre aufrechte Haltung aufgegeben zu haben, auf dem unbequemen Holzstuhl, den man ihr vor geraumer Zeit angeboten hatte. Er folgerte daraus, dass diese Frau lange Wartezeiten durchaus gewohnt war und sie sich abgewöhnt hatte, deswegen die Contenance zu verlieren. Noch viel mehr überraschte ihn aber ihr Erscheinungsbild: In elegantes Schwarz gehüllt, hätte der Beamte sie eher für die um Schläfli trauernde Witwe gehalten.
Die Füße in hochhackigen, sichtlich sehr teuren dunklen Schuhen, die blickdicht bestrumpften, perfekt geformten Beine elegant übereinandergeschlagen, saß la portoghesa, wie er sie insgeheim nannte, vor ihm, nur durch die Glasscheibe getrennt. Ihr schwarzes Deux-Pièces im klassischen Stil endete oder begann – je nach Sichtweise – perfekt eine Handbreit über den Knien. Das Kleid betonte die weiblichen Formen seiner Trägerin. Ein breiter Gürtel teilte ihren Körper und lenkte den Blick auf die schmale Taille. Der nicht zu tiefe Ausschnitt des Oberteils ließ wenig Konkretes erblicken, dafür umso mehr erahnen. Ihr schlanker Hals führte zum durch einen Schleier abgeschirmten, hell schimmernden Gesicht. Die schwarze Mantilla umrahmte ihre Züge mit breitem Mund, vollen Lippen, hohen Backenknochen und perfekten Zähnen. Das teure Gewebe erfüllte seinen Zweck und ließ keinen Rückschluss auf das Alter der Trägerin zu. Ihre zu einem Knoten geformten Haare verschmolzen mit der breiten Hutkrempe zur extravaganten Kopfbedeckung. Die Kreation verlieh ihr eine unnachgiebige Unnahbarkeit. Zusätzlich zum Kopfschleier warf die gewaltige Sonnenbrille von Bulgari einen Schatten auf ihr Gesicht. Hinter den getönten Gläsern vermutete der Ermittler nicht etwa die schwarzen oder braunen Augen der meisten Südländer. Sondern tiefen Azur, der perfekt zu ihrer Brosche am Revers und damit zum einzigen, dafür umso teureren Schmuckstück an ihrem Körper passte.
Er sah ein, dass es nichts nutzte, Schläflis Angestellte weiter warten zu lassen.
«Frau Pinto?» Er schritt in den kahlen Verhörraum.
«Nennen Sie mich doch der Einfachheit und der Gewohnheit halber mit meinem ersten Vornamen: María», erwiderte die Vorgeladene seine Frage. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie sich über die Warterei aufgeregt hatte. «Bitte.»
Gespannte Ruhe beherrschte den Raum. Nachdem er schon in Bezug auf die äußere Erscheinung der Haushälterin von völlig falschen Annahmen ausgegangen war, traf das auch auf das nächste Vorurteil zu: In seiner Vorbereitung auf das Gespräch hatte er sich darauf eingestellt, dass sein Gast, wenn überhaupt, über kläglich Deutschkenntnisse verfügen würde. Dabei hatte er die zumeist zweisprachig geführten Unterhaltungen mit seinem Vater als Beispiel genommen und seine diesbezüglichen Erwartungen an das Gespräch mit Frau Pinto, oder María, noch weiter nach unten korrigiert. Denn er wusste aus persönlicher Erfahrung nur zu gut, dass sich die Frauen der ersten Immigrantenwelle nicht nur punkto Deutschkenntnisse noch schlechter integriert hatten als ihre Männer.
Umso überraschter war er nun vom sprachlichen Auftritt Marías, der perfekt zu ihrem gepflegten Outfit passte. Das akzentfreie Deutsch war von klinischer Neutralität, fast unnatürlich rein. Erneut musste er sich sammeln: «Gut. Wie Sie wollen: Also, Mária ...»
«Nein. María. Die Betonung liegt auf dem I.»
«Dann: María. Sie waren die Putzfrau des verstorbenen Schläfli», provozierte er sie.
«Mir obliegt neben den anderen Aufgaben im Anwesen unter anderem auch die Raumpflege. Immerhin bei der Marginalie haben Sie sich nicht geirrt. Ihre banalen Erwartungen, was meine Person betrifft, haben sich damit fürs Erste erfüllt.»
Vergeblich versuchte der Kommissar, ihrem kalten Blick auszuweichen.
«Sie haben sich auf ein Abbild Ihrer mamma eingestellt», nutzte María seine Sprachlosigkeit. «Eine gedrängte, von der Arbeit gebückte, von der ständigen Rücksichtslosigkeit der Mitmenschen gebrochene, alte Frau. In soliden Schuhen, um stehen zu bleiben. Aber auf keinen Fall, um im Leben nur ein Stück vorwärtszukommen. In Kleidern, die vor allem verhüllten und versteckten. Mit einem ausdrucks- und seelenlosen Gesicht, das dafür umso mehr erzählt von der Diskrepanz zwischen zu naher Realität und zu fernen Träumen. Eine Frau, auf die keiner je gehört hat und die sich darum auch nicht die Mühe nahm, sich die fremde Sprache anzueignen. Die ohne Ziel, aber mit einigen Versprechungen aus ihrer Heimat fortgereist war, um gar nie anzukommen. Die immer dumm gehalten wurde, um von ihrer Ahnungslosigkeit möglichst zu profitieren und die eigenen Lebenspläne rücksichts- und gnadenlos zu planen und zu realisieren.»
Als ob er die passende Stelle suchte, um das Gespräch an sich zu reißen, rutschte der Polizist auf seinem Stuhl hin und her, um den richtigen Moment zu verpassen.
«Eine Ehefrau und Mutter», fuhr sie fort, «die offiziell geachtet und insgeheim, vor allem von ihren Nächsten, verachtet wurde. Weil sie sich von allen daran hindern ließ, sich in der neuen Umgebung wohl und willkommen zu fühlen. Eine Frau, die sich zwar physisch hier befand, sich in Gedanken jedoch in ihre Heimat zurückzog, sich auch von den Menschen zunehmend distanzierte.»
Die Situation seiner Mutter und die eigenen Vorurteile derart vorgeführt zu bekommen, schockte den Kommissar, was Frau Pinto die Gelegenheit gab, ihm weiter zuzusetzen: «Dabei versuchen Sie, Signore Salvatore Tagliabue, auch, ihre südländischen Wurzeln zu verleugnen, wenn diese Ihnen nicht passen, und sich auf sie zu berufen, wenn es ihnen opportun erscheint. Italien ist keine Heimat, sondern ein Land, das Sie nie kennengelernt haben und das Sie nicht kennengelernt hat. So bleiben Sie blockiert zwischen den zwei Welten, gehören nirgends hin, geschweige denn dazu – Sie bleiben für immer ein Secondo. Für jeden und jede. Aber vor allem für sich selbst. Vielleicht assimiliert, aber nicht integriert. Geduldet, aber nicht akzeptiert.»
Tagliabue musste weiter zuhören, wie die Frau vor ihm seine innere Zerrissenheit in Worte fasste.
«Und», fuhr sie sachte fort, «dass Sie sich mit der Polizei für eine Schweizer Institution mit typischen eidgenössischen Eigenschaften entschieden haben, ändert gar nichts an Ihrer Position und Situation. Auch hier scheinen Sie zwischen den Fronten zu lavieren.» Sie legte eine Pause ein. «Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich, Herr Kommissar? Bitte.»
Er erhob sich rasch, um die damit gewonnene Zeit für die Entwicklung einer neuen Strategie zu nutzen, und trat aus dem Verhörraum. Ohne einen Blick zurück. Sorgfältig ließ er die Tür ins Schloss gleiten.
Der Korridor war zu seiner Überraschung leer. Hatte er sich in der Vergangenheit immer darüber aufgeregt, dass pro Etage bloß ein Wasserspender am hintersten Ende der langen Gänge installiert war, so war er nun froh über den Zeitgewinn.
Nachdem er den Pappbecher vorsichtig aus dem Schacht gezogen und gefüllt hatte, erlaubte er sich einen kurzen Abstecher ins WC, wo er das prallvolle Gefäß auf einen Wandvorsprung über dem Pissoir stellte.
Erleichtert, aber immer noch ohne gute Idee, wie er das Gespräch an sich reißen könnte, trat er in den Gang. Wo sich die Beamten sonst dicht aneinander vorbeidrängten, herrschte immer noch gähnende Leere. Leicht irritiert, setzte er sich in Bewegung. Aus einem anderen Korridor kam ihm eine Person entgegen. Die Vehemenz der Schritte verdeutlichte, wie pressant es der Mann hatte, während der Kommissar stehen blieb.
«Huber», raunte ihm der Uniformierte zu, um ihn dann verdutzt stehen zu lassen.
Vor der Tür zum Verhörraum angekommen, musste er noch einmal tief durchatmen. Den noch halb gefüllten Becher in der Rechten, stieß Tagliabue die Tür mit der Linken und mit größter Vorsicht auf.
«Sicher stehe ich auf Ihrer Liste der Verdächtigen ganz zuoberst», empfing ihn María. «Aber ich habe überhaupt kein Motiv, Schläfli umzubringen.»
Er setzte sich ihr gegenüber an den kalten Tisch.
María sah ihn regungslos an: «Aber wissen Sie was? Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie mich verdächtigen. Jeder und jede erfüllt doch seinen Auftrag, eliminiert den Müll aller anderen – genau dafür haben sie uns Ausländer geholt. Selbst wenn Sie persönlich längst auf die andere Seite übergelaufen sind.»
«Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, glauben Sie an eine Selbsttötung», wich der Kommissar aus.
«Sie haben mit diesem Redaktor von HEUTE geredet. Kennen Sie sich? Sollte es nicht umgekehrt sein: Informiert die Polizei normalerweise nicht die Medien? Okay, Sie sind für unorthodoxe Methoden berüchtigt. Die haben beim Fall von Schläflis Frau allerdings auch nicht zur Aufklärung geführt.»
Tagliabue vermutete, dass seine erfolglosen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem nie geklärten Verschwinden von Schläflis zweiter Gattin auch in der Villa hoch über der Stadt ein Thema gewesen waren.
«Nach seiner Scheidung lernte Tatjana, die ebenfalls geschieden war, Schläfli kennen. Bald zog sie bei ihm ein und heiratete ihn.» María strich ihr Kostüm glatt. «Nachdem sie verschwunden und dann für tot erklärt worden war, mussten die Angestellten gehen. Denn mit ihr starb das gesellschaftliche Leben in der Villa, und es gab nicht mehr viel zu tun.»
«Aber irgendwie fehlte eine Hilfskraft, um den Laden in Schuss zu halten, und genau in dem Moment treten Sie auf den Plan.» Der Ermittler beobachtete die Reaktion der Frau ihm gegenüber. Nichts.
«Schläfli», nahm sie völlig unbeirrt und mit einem Hauch von Triumph in der Stimme den Faden auf, «hat mich zu attraktiven Konditionen angestellt, was sowohl den Lohn als auch die fringe benefits betrifft. Wie von meiner Vorgängerin verlangte er von mir makelloses Auftreten. Sei es bei Kleidung und Schuhen, in der Sprache, den Manieren oder im raren gesellschaftlichen Kontakt mit Gästen und Freunden. Vielleicht erinnerten ihn meine Auftritte an die zu früh von ihm gegangene Frau ...», ließ sie die Frage im Raum stehen. «Gleichzeitig erwartete Herr Schläfli nicht nur von mir Perfektion. Auch im Haus musste alles sauber und am definierten Platz sein. Das ist, oder war, bei der Größe des Anwesens eine riesige Herausforderung. Für mich hat sich mit seinem Tod alles verändert.»
«Falls Sie die Absicht hatten, mir mitzuteilen, dass Sie kein Motiv hatten, ihren Chef umzubringen, so ist Ihnen das misslungen», meinte der Kommissar etwas umständlich, um sofort seine nächste Frage zu stellen: «War Schläfli erleichtert oder bedauerte er den totalen Rückzug aus dem gesellschaftlichen, geschäftlichen, sozialen sowie politischen Leben?»
«Es steht mir nicht zu, seine Gefühle und Reaktionen zu beurteilen. Zudem sind Sie als Kommissar mit Sicherheit nur an den Fakten und nicht an irgendwelchen Vermutungen einer Putzfrau interessiert, nicht wahr, lieber Totò?»
Wie ein Blitz durchfuhr es den Kommissar: Vor zu langer Zeit hatte ihn seine Mutter zum letzten Mal so gerufen. Die meisten kannten noch nicht einmal seinen richtigen Vornamen Salvatore.
«Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass er so früh und eines gewaltsamen Tods von uns gehen würde», ergriff María wieder das Wort.
«Ich dachte aber, sie vermuten einen Selbstmord.» Der Kommissar hatte seine Fassung einigermaßen wiedererlangt.
«Sind Sie nicht der Meinung, dass ein gezielter Kopfschuss mit weniger Schmerz und Gewalt verbunden ist als dieses würdelose Baumeln, spastische Zucken, gepaart mit einem qualvollen Ersticken am Strick?» María betrachtete ihre perfekt manikürten Fingernägel. «Um es kurz zu machen: Nach seinem Tod bekomme ich nicht nur nichts, ich verliere alles. Ich muss aus meiner Dienstwohnung ausziehen. Ich habe keinen Anspruch auf Kleider und Schuhe. Was mir noch bleibt, ist meine Person, mein Auftreten und etwas Geld, das ich über die paar Jahre zusammenklauben konnte. Trotz der guten Referenzen wird es für mich schwer, wieder etwas Passendes zu finden. Sie sehen, Herr Kommissar: kein Motiv.»
«Was geschah, nachdem sich Schläfli aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen hatte? Keine Frauenbesuche?»
Plötzlich schoss der Ermittler wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl auf. Marías Antwort «Soviel ich weiß, keine Damenbesuche» schon nicht mehr wahrnehmend, verabschiedete er sich im Hinausstürzen kurz von der nun doch konsternierten Haushälterin.
«Huber» war keine Verwechslung gewesen, sondern ein gut gemeinter Hinweis, sich zu sputen: Die Vorstellung des neuernannten Polizeikommandanten hatte bereits begonnen.
Mit einem Spurt durch die verwaisten Korridore versuchte der Kommissar, die verlorene Zeit aufzuholen. Bevor er um die letzte Ecke kam, bremste er, holte tief Luft, richtete die Kleider.
Mit kurzen Schritten und noch kürzerem Atem näherte er sich dem Eingang zum großen Meetingraum. Auf der Bank links von der Tür saßen zwei Uniformierte, in ihrer Mitte ein Verdächtiger.
«Fahrni, Wiederkehr», grüßte er die Kollegen knapp. Den Unbekannten musterte er herablassend-professionell.
«... ist es mir eine große Ehre, Ihnen heute den Nachfolger unseres in den wohlverdienten Ruhestand tretenden Franz Schlatter persönlich vorzustellen. Bitte heißen Sie mit Dr. Bernhard Huber unseren neuen Kommandanten mit einem kräftigen Applaus aufs Herzlichste willkommen.»
Genau mit den abschließenden Worten des Vorstehers des Departements für Inneres und für Sicherheit trat der Kommissar in den prall gefüllten Saal.
«Na also. Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt! Der lange Weg, Signore Tagliabue, entschuldigt Euer Säumen.» Damit bewies der Regierungsrat nicht nur seine Schlagfertigkeit, sondern auch sein Faible für die klassische deutsche Literatur. «Aber: Ich muss Sie enttäuschen, Herr Hauptkommissar. Sie sind selbst unter dem neuen Namen nicht befördert worden. Was den Rest aller Anwesenden ebenso beruhigen mag, wie es Sie frustriert. Den perfekten Sitzplatz in der vordersten Reihe haben wir aber mal freigehalten.» Unter schadenfrohem Gelächter des Publikums zeigte Kalbermatten auf den vakanten Stuhl und wartete, bis sich der Angesprochene hingesetzt hatte.
«Heißen wir nun also Herrn Dr. Huber mit einem herzlichen Applaus in unserer Mitte willkommen!»
Flankiert von Fahrni und Wiederkehr schritt der Verdächtige von eben an das Rednerpult.
Sofort wusste Tagliabue, dass er mit dieser lächerlichen Figur nicht enger zusammenarbeiten konnte: Selbst für einen Hauch der so viel zitierten Chemie fehlten alle Basisstoffe. Er konnte sich seinen neuen Chef perfekt in einer Uniform der Waffen-SS, der Heilsarmee, der Post oder der städtischen Verkehrsbetriebe vorstellen, jedoch nicht in der Dienstkleidung des Polizeikorps, das er kommandieren sollte.
Hinter der unmodischen filigranen Nickelbrille waren zwei leere blaue Augen mit der Tendenz zum Schielen zu erkennen. Die Frisur sah aus, als ob sie vor Jahrzehnten für die Konfirmation angelegt worden wäre. Das Lächeln schien nicht nur im Hals stecken geblieben zu sein, sondern als permanentes Grinsen in das fade Antlitz seines Inhabers eingraviert. Der schiefe, schmale Strich der blutleeren Lippen kommunizierte Humorabstinenz, Arroganz, keinerlei Verständnis für Ironie, Sarkasmus oder Zynismus.
«Mein Name ist Huber. Freunde nennen mich Beni. Für Sie alle hier: Herr Dr. Huber. Es freut mich sehr, dass der verehrte Herr Regierungsrat Kalbermatten mir diese Gelegenheit gibt, mich Ihnen persönlich vorzustellen», startete der neue Kommandant seine Rede. «Ich möchte es an dieser Stelle und in meiner neuen Position ebenfalls nicht versäumen, dir, geschätzter Franziskus Schlatter, für deine Arbeit der vergangenen zweiundzwanzig Jahre und für die freundliche Einführung in meine neue Aufgabe, ja Verpflichtung, aufrichtig zu danken. Ich danke dir, lieber Franz, ebenfalls dafür, in welch ausgezeichneter Verfassung du mir dein Korps heute übergibst.»
Tagliabue musste Hubers Blick ausweichen.
«Sie werden sich sicher dafür interessieren, wer heute vor, und ab morgen als Ihr Kommandant über Ihnen stehen wird.»
So kann man sich täuschen, dachte der Kommissar für sich.
«Ich möchte nicht mein ganzes Leben vor Ihnen ausbreiten und beschränke mich auf wenige Episoden, die mich zu dem machten, was ich bin.»
Tagliabue ließ den Kopf in die Hände seiner auf den Knien aufgestützten Arme sinken und fixierte den Bereich zwischen seinen Füssen. Als er aufblickte, fischte Huber ein hölzernes Lineal aus einer abgegriffenen Ledermappe.
«Ich habe Ihnen ein paar Dinge mitgebracht, die wichtige Etappen meines Werdegangs symbolisieren.» Huber legte eine Pause ein, um sicherzugehen, dass ihm alle ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten. «Sie denken, dieses Werkzeug stellt die Präzision und die Geradlinigkeit meiner Arbeit dar. Das ist richtig und falsch. Es steht für meine Schulzeit und für die Tatsache, dass ich kein guter Schüler war. Ich musste büffeln, um mit dem Durchschnitt mitzuhalten, und habe gelernt, meine Ressourcen gezielt einzuteilen. In der Konsequenz schloss ich mein Studium als Bester meines Jahrgangs ab. Ich weiß, ich bin ein Streber.»
Der Kommissar war dabei, in ungläubiges Kopfschütteln zu verfallen, als ihm die drohenden Konsequenzen bewusst wurden.
«Das», zauberte Huber das nächste Objekt aus der Tasche, «ist meine Boardingkarte für einen Flug in der Business-Class der Swissair in die USA. Nach dem mit Auszeichnung abgeschlossenen Studium als Informatiker entschloss ich mich für den lukrativen Einstieg im Bereich Cyber Crime & Forensic eines global tätigen Beratungsunternehmens. Ich war rund um die Uhr, rund um den Erdball unterwegs. Bis mich meine damalige Freundin und aktuelle Gattin vor die Wahl stellte: Sie oder dieser Job. Nach einiger Überlegung sprach ich mich für sie aus – Hunde, Kinder und Frau sind mir heute noch wichtig.»
Aus seiner Erfahrung in der Vernehmung Verdächtiger hatte Tagliabue ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, wann Geschichten zurechtgebogen, gepimpt oder schlicht erfunden waren. Als er aufblickte, sah er seinen neuen Chef im Kimono.
«Wenn schon nicht allein, so reisen wir halt zu zweit, sagte ich mir und nahm eine Stelle in Japan an. Diese Kultur prägt meine Arbeit bis heute. Kaizen als Weg der kontinuierlichen Verbesserung ist Ihnen mit Sicherheit ein Begriff. Es ist eine meiner Strategien, um mein Korps vorwärtszubringen. Wir alle leben ab sofort nach den Prinzipien von Kaizen. Sie wissen jetzt, worum es geht.»
Der Ermittler rutschte unruhig auf dem hölzernen Stuhl hin und her.
«Wissen Sie, was ein MRI ist?», warf der Redner in den Saal, ohne eine Antwort abzuwarten.
Vergeblich versuchte Tagliabue den Buchstaben einen für ihn plausiblen Sinn zu geben.
«MRI stammt aus der Medizin und steht für Magnetic Resonance Imaging. Und genauso wie das MRI einen kranken Körper durchleuchtet, werde ich mein Korps – fällt Ihnen die etymologische Verwandtschaft von Korps und Körper auf? – screenen. Ich habe eine ausgeklügelte Strategie entwickelt, um sämtliche Schwachstellen schonungslos zu identifizieren und radikal zu eliminieren.» Er sah zu Tagliabue. «Ich komme zum vierten prägenden Punkt», fuhr Huber, des Kimonos inzwischen entledigt, fort: «Zwei Jahre in Asien reichten mir, um diese uns so fremde Kultur zu verstehen und das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Zu dritt – selbst dafür blieb trotz dem Stress Zeit – kehrten wir in die Heimat zurück. Als CEO einer führenden Softwarefirma entwickelte ich Sicherheits- und Alarmierungssysteme, Programme gegen Cyber-Kriminalität und Cyber-Fraud für Polizei und Rettungskräfte, Armee und Zivilschutz, also alle Blaulichtorganisationen.»
Völlig resigniert ließ der Kommissar die Ausführungen des neuen Kommandanten reaktions-, aber mitnichten emotionslos über sich ergehen.
«Weil sich Cyber-Crime im Cyberspace, im Internet, im World Wide Web abspielt und trotz aller Virtualität eine sehr konkrete Gefahr darstellt, habe ich Ihnen nichts mitgebracht. Ich überlasse es Ihnen, sich das Risiko und die Bedrohung zu vergegenwärtigen. Aber selbst in ihren extremsten Ausprägungen werden Ihre Vorstellungen nicht ansatzweise an die Realität herankommen.»
Seine Augen von links nach rechts und zurück schweifen lassend, hielt Tagliabue intensiv Ausschau nach Hubers Bedrohungen: Die einzige Gefahr für die Öffentlichkeit, das Korps und den Kommissar stand seiner Meinung nach gut sichtbar und allzu real vor ihm.
«Wie die Kriege werden Verbrechen in Zukunft nur noch im Netz stattfinden. Darauf, meine Damen und Herren, habe ich mich in meiner Position als neuer Polizeikommandant einzustellen. Dafür bringe ich wie bei allen meinen früheren Jobs die optimalen fachlichen, beruflichen und persönlichen Voraussetzungen mit. Diese Herausforderung muss ich annehmen. Dieser Kampf ist mein persönlicher Auftrag. Und ich werde ihn nicht nur erfüllen, sondern sogar übertreffen.» Huber streute eine kurze Pause ein.
«Nun habe ich mich Ihnen kurz persönlich vorgestellt. In den nächsten Tagen gebe ich Ihnen die Möglichkeit, mehr von mir und über meine Erwartungen zu erfahren – meine Sekretärin wird mit einem Termin auf Sie zukommen, ich erwarte eine Bestätigung. Den Anfang mache ich mit dem Mann in der ersten Reihe zwischen dem hochverehrten Regierungsrat und meinem geschätzten Vorgänger. Wie war doch Ihr Name?»
Je weiter hinten die Zuhörerinnen und Zuhörer saßen, desto mehr zogen sich ihre Hälse aus purer Angst, den spannendsten Teil der Veranstaltung zu verpassen, in die Länge.
«Sind Sie von meinen detaillierten Ausführungen oder von den bevorstehenden Herausforderungen derart eingeschüchtert, dass sie Ihren eigenen Namen vergessen haben?», lächelte der Doktor schief.
«Hauptkommissar Tagliabue.» Obwohl recht leise, war die Antwort im totenstillen Raum für alle deutlich zu hören.
«Ich frage nicht nach Ihrem Dienstgrad, sondern nur nach dem Namen. Was mich nicht interessiert, habe ich gehört – was ich wissen will, war bedauernswerterweise völlig unverständlich. Können Sie mir den Namen wiederholen? ... Bitte.»
Räuspern, Hüsteln und Kichern aus den hinteren Rängen störten die Stille und erhöhten die Spannung.
«Salvatore Tagliabue. Nicht Takliabü, falls Sie den Namen irgendwo lesen. Ta. Lja. Bu. E. Von tagliare, wie schneiden, und il bue, Herr Huber, gleich Ochse.»
Jetzt blieben selbst die Geräusche in den gereckten Hälsen stecken. Hubers aufgesetztes Lächeln wurde noch etwas schräger, noch mehr zur Grimasse.
«Nun, Tagliabue, ich gebe Ihnen die Möglichkeit, für einmal nicht zuhinterst, sondern zuvorderst zu sein. Wie heißt es doch so schön: Der Letzte wird der Erste sein. Eventuell beißen den Letzten die Hunde. Wer weiß. Das Einzige, was an Ihnen nicht das Letzte ist, ist Ihr doch beachtens-, aber nicht beneidenswerter Ruf. Der eilt Ihnen weit voraus. Ich freue mich auf unser Gespräch. Jetzt wünsche ich Ihnen allen einen schönen Abend.»
Wie alle anderen im Saal erhoben sich Kalbermatten und Schlatter, um sich förmlich voneinander zu verabschieden. Während der Politiker sofort abdrehte, lehnte sich der Ex-Polizeikommandant zu Tagliabue hinüber: «Kompliment. Wirklich gut gemacht. Dass du nie deine blöde Fresse halten kannst. Jetzt schau zu, wie du deinem Vornamen gerecht wirst und dich rettest. Ich kann dir nicht mehr helfen. Dir war und ist eh nicht zu helfen.»
Schlatter trat zu seinem Nachfolger und gratulierte ihm zu der innovativen Vorstellung mit originellen Bildern. Tagliabue blieb auf seinem Stuhl sitzen und ließ alle Kollegen und die hämischen Blicke an sich vorüberziehen.
Als der Abwart mit dem geräuschvollen Aufeinanderstapeln der Stühle begann, erhob er sich.
Im Büro fand der Kommissar zu seiner Enttäuschung keinen Hinweis auf Marías kürzliche Anwesenheit vor. Sie hatte ihm nicht einmal ihre Handynummer auf einen Zettel notiert. Er war sich aber sicher, dass sie sich bei ihm eher früher als später wieder melden würde. Ohne sich hinzusetzen, startete er seinen Computer, um seine persönlichen Mails zu kontrollieren: «Heute nicht. CSJ.» Enttäuscht beendete er das Programm, wechselte rasch zum Browser.
Irgendwann hatte er im Internet nicht gefunden, was er gesucht, und gefunden, was er nicht gesucht hatte. Er fuhr den PC herunter und verließ das Kommissariat.
Nur wenige Gehminuten später saß er vor einem Glas Bier am Tresen der Strega. Die Stripteasetänzerinnen spulten ihre Darbietungen kunstfrei und lustlos ab. Als Stammkunde hatte er mit dem Wirt vereinbart, dass er für die zur Schau gestellten Körperteile keinen Aufschlag auf die Konsumationen bezahlen musste. Im Gegenzug gab er sich Mühe, seinen Blick nicht auf die nackten Tatsachen auf der Kleinbühne zu richten. Er wollte kein zweifelhaftes Vergnügen in Anspruch zu nehmen, für das er nicht zahlte. Was ihm, bis auf ganz seltene Ausnahmen, nicht allzu schwerfiel.
Ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben, kannte der Kommissar die beiden anderen Gäste im Raum. Beim Älteren handelte es sich um einen schwulen Zahnarzt, der mit ältlicher Assistentin eine völlig veraltete Praxis in einem noch älteren Patrizierhaus betrieb. Beim Jüngeren und Größeren handelte es sich um einen Werber, der sich allein für sein Glas Féchy und das Würfelspiel vor ihm interessierte.
Der Ermittler beobachtete die beiden ungleichen Figuren beim Spielen: Meistens gingen die Einsätze schnell in den Besitz des Kreativen über. Obwohl sie um seinen Beruf wussten, spielten die zwei direkt vor seinen Augen verbotenerweise um Geld. Noch mehr ärgerte ihn aber, mit welcher Gleichgültigkeit die Noten über den Tisch geschoben wurden. Er sah dem Treiben noch eine Weile zu und fragte sich, ob der Mediziner den Sinn und die Regeln überhaupt begriffen hatte. Dann leerte er sein Glas, legte das Geld vor sich auf den Tresen mit dem Hinweis, dass es gut sei, glitt bedächtig vom Barhocker, um sich beim Hinausgehen von allen, aber von niemandem speziell, zu verabschieden.