Deubelbeiss schien vor dem Mittagessen nicht mehr mit seinem Vorgesetzten und Büropartner gerechnet zu haben. Die ausgelatschten Timberland ausgezogen, wippten seine Füße auf dem Bürotisch vor und zurück. Tagliabue sah nur die Sockenunterseiten, die sich dem Innenschuh farblich angepasst hatten. Der Rhythmus ließ auf Hardrock schließen.
Der Chef hatte seinem Assistenten bereits am ersten Tag im gemeinsamen Büro jede Lärmemission untersagt. So war dieser am folgenden Arbeitstag mit brandneuen Kopfhörern erschienen, hatte sich an seinen Tisch gehockt und keinen Laut mehr nach draußen dringen lassen. Jetzt hing er in seinem Stuhl. Papier-, Akten- und Dokumentberge auf dem Tisch hatte er mit allem anderen Büromaterial zur Seite geschoben, um die maximale Bewegungsfreiheit für seine Füße zu erreichen. Dabei hatte er sich fest vorgenommen, jene Unterlagen, die versehentlich zu Boden gefallen waren, nach der Pause an ihren vermuteten ursprünglichen Platz zurückzulegen. Zuvor, so seine Planung des Mittags, wollte er sich eine Instantnudelsuppe, von denen er sich fast ausschließlich ernährte, gönnen. Dabei betrachtete er lautes Schlürfen als unverzichtbaren Bestandteil einer echten asiatischen Mahlzeit. Die Pappsuppenschale am Mund hatte Deubelbeiss den Blick auf den Bildschirm fixiert und seine Ohren mit dem Kopfhörer verstopft.
Tagliabue überlegte, ob diese Isolation eine Eigenheit dieser Zeit war, und erinnerte sich an den «Tunnel». Er pirschte sich behutsam an den Assistenten heran. Der war in die Haut eines US-Marines geschlüpft und lieferte sich einen erbitterten, blutigen Häuserkampf mit zahlenmäßig weit über-, waffentechnisch unterlegenen Feinden. Irritiert von der Rasanz und der Sicherheit, mit welcher der Spieler die vielen Knöpfe und Hebel bediente, verfolgte der Kommissar die Entwicklung auf dem Bildschirm. Dabei merkte er, dass der Kopfhörer trotz der hervorragenden Isolation leise Geräusche nach außen dringen ließ, was mit der enormen Lautstärke im Innern zu tun haben musste. Er beobachtete, dass das Zucken der Füße mit der Schießkadenz des Soldaten zusammenhing. Der eingekesselte Grenadier befand sich in aussichtsloser Lage. Zum selben Schluss war wohl auch Deubelbeiss gekommen: Mit einem «Scheiße!» intensivierte er die Zahl und die Härte der Tastaturanschlagzahl noch einmal.
Mit steigendem Unverständnis beobachtete Tagliabue die Szene. Irgendwann wurde es ihm zu viel. Er näherte sich seinem Assistenten und setzte ihm einen Kugelschreiber an die Schläfe. Das laut gebrüllte «Peng» des Kommissars und der metallkalte Kuli an der Schläfe verfehlten ihre erwünschte Wirkung nicht: Wie von einer Kugel getroffen fuhr der Gamer auf dem Drehstuhl herum, sorgte mit den Füßen für die Umsetzung der im Kommissariat geltenden «Clean-Desk-Policy». Die drahtlose Kontrolleinheit aus den Händen fallen lassend, wischte er sich die Kopfhörer vom Kopf.
«Was fällt Ihnen ein? Ihre Stinkfüße auf meinem Pult? Alle meine Unterlagen auf dem Boden? Ihre Suppe mit den glibberigen Bandnudeln auf meinen Akten? Und was ist das für ein primitives Schlachtspiel? Im Schießstand treffen Sie nicht mal eine unbewegte Scheibe. Ist das die neueste Version der Office-Programme? Dann erkundige ich mich bei der Internen IT, wann ich mich für die Schulung anmelden kann.» Tagliabue ließ Deubelbeiss nicht den Hauch einer Chance, zu Wort zu kommen: «Wenn Sie dieses primitive Killergame wenigstens an Ihrem Computer gespielt hätten. Sie wissen doch, dass es strikt verboten ist, eigene Software auf die Geräte zu laden. Da haben Sie mich in eine saudumme Situation gebracht. Die Computer sind so figuriert ...»
«Konfiguriert», unterbrach Deubelbeiss.
«Figuriert, konfiguriert sind gute Stichworte: Ich hau Ihnen gleiche in Ihre figura, wenn Sie mich noch einmal unterbrechen.»
Der Assistent genoss die kurze Ruhe.
«Ich gehe jetzt langsam hinaus und hole mir einen der schalen Kaffees vom Automaten», hatte Tagliabue die Lautstärke, jedoch nicht die Aggressivität in seiner Stimme gesenkt. «Ich gebe Ihnen nicht mehr als fünf Minuten Zeit, um hier für eine tadellose Ordnung zu sorgen. Und dies sowohl auf meinem realen als auch auf meinem virtuellen Schreibtisch. Nachher überlegen wir, was Sie den Freunden von der IIT erzählen – die werden ihre Freude haben, dass sie mich endlich teeren und federn können.»
Inzwischen war der Kommissar an der Tür angekommen. Mit einem flüchtigen Blick zurück vergewisserte er sich, dass der arme Deubelbeiss schon mit den Aufräumarbeiten begonnen hatte. Als er in den Flur trat, hatten sich nicht nur die Kollegen seines Stockwerks vor der Tür versammelt. Verwirrt bahnte sich der Kommissar seinen Weg durch die Menschen, die ihm wie bei einer Bergetappe der Tour de France auf beide Seiten auswichen.
Endlich am Kaffeeautomaten, kramte er etwas ungelenk in seiner Hosentasche nach einem Jeton. Nach längerer Suche förderte er doch noch die gesuchte silbrige Scheibe zutage. Um sie sofort durch den dafür eingefrästen Schlitz in die Maschine zu schnippen. Wie üblich presste er die Tasten Espresso Italiano mit Zucker und die Extraportion Zucker. Die fade Brühe im Pappbecher hatte nichts mit italienischem Kaffee zu tun und darum nicht einmal die Metallscheibe aus eigener Produktion verdient.
«Und», begrüßte er seinen Assistenten mit dem inzwischen nur noch halbvollen Becher in der Linken, «was für eine Erklärung haben Sie sich für die IIT zurechtgelegt?»
«Keine», zeigte sich Deubelbeiss erholt.
«Keine Erklärung dafür, wie dieses dämliche Kriegsspiel auf meinem Computer gelandet ist?»
«Es wurde nichts auf Ihren PC geladen. Ich habe über den Browser gespielt.»
«Und alle Sicherheitssysteme, die dauernd kontrollieren, wo wir gerade surfen?»
«Wenn wir schon bei nautischen Begriffen sind: Die habe ich umschifft, ohne Spuren zu hinterlassen. Nicht einmal die Kollegen der IIT werden etwas feststellen.»
«Wie haben Sie das bewerkstelligt?»
«Bei allem Respekt: Das ist mein kleines Geheimnis und zu kompliziert für Sie.» Deubelbeiss wurde keck: «Sollte doch einer etwas merken, so trage ich selbstverständlich die volle Verantwortung. Aber das wird nicht passieren.»
«Was macht Sie da so sicher? Das sind keine Amateure.»
«Ich weiß. Diese Jungs sind sogar sehr gut. Ich musste mich schön ins Zeug legen. Am Ende findet jedoch jeder Profi seinen Meister.»
Langsam dämmerte dem Kommissar, dass ihm ein Assistent zugeteilt worden war, der seine Defizite im Umgang mit modernen Informatiksystemen und Kommunikationsmitteln kompensieren konnte. Ein Spezialist, der ihn beim Sprung in die vernetzte und digitale Welt mit ihren neuartigen Ermittlungsmöglichkeiten zu unterstützen wusste – ihn sogar bald ersetzen konnte.
«Ich darf also vollkommen beruhigt sein, kein weiteres Disziplinarverfahren am Hals und kein Virus auf meinem PC zu haben?», hatte sich der Ältere beruhigt.
«Wenn Sie es wünschen, finde ich für Sie raus, wenn sich etwas in diese Richtung tun sollte. Ich kenne unser System inzwischen recht gut, wenn Sie mir die Untertreibung verzeihen.»
Resigniert schüttelte Tagliabue den Kopf. Niemals hätte er geglaubt, in einem so zentralen Bereich des privaten und beruflichen Lebens den Anschluss derart zu verpassen. Und die IT bildete keine Ausnahme.
«Dann können Sie herausfinden, woher eine Mail stammt?»
«Ich denke schon.»
Der Kommissar wies den Assistenten mit einer flüchtigen, aber unmissverständlichen Geste an, ihm Platz zu machen, und startete den Navigator. Er tippte, wie Deubelbeiss etwas gar schulmeisterlich einwarf, unnötigerweise «www» in die Adresszeile, gefolgt von «heute.ch».
«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?», reagierte der Jüngere auf die wachsende Frustration und die Hilflosigkeit des Älteren. «Suchen Sie etwas Bestimmtes?»
«Wie kommen Sie auf die Idee?», erwiderte der Ermittler. «Gestern war es doch da, verdammt nochmal!» Er schleuderte die Maus auf die Tischplatte. Nur das Kabel verhinderte den Absturz auf den wieder freigeräumten Boden.
«Sie suchen?», begann der Assistent mit theatralischer Freundlichkeit erneut.
«Sie glauben also allen Ernstes, dass Sie etwas finden, was ich nicht finde? Obwohl ich ungefähr weiß, wo ich es vor genau zwei Tagen gefunden habe? Es ist nicht mehr hier – und damit basta.»
«Es gibt einen Harvard-Professor aus – so unrealistisch das auch klingen mag – Österreich, der fordert das Recht auf Vergessen im Internet. Er hält fest, dass es früher aufwändiger und teurer war, Inhalte zu speichern und weiterzugeben, als sie zu löschen. Und heute ist es umgekehrt: Informationen werden auf allen möglichen und unmöglichen Kanälen vervielfacht und gespeichert, weil Rechen- und Speicherleistungen so billig zu haben sind und das Löschen teurer kommt. Diese ökonomischen und technischen Aspekte machen es uns fast unmöglich, Daten zu entfernen.»
Mit zunehmender Sprachlosigkeit hatte der Kommissar dem jungen Kollegen zugehört.
«Wonach suchen Sie?», wiederholte der.
Tagliabue lieferte die Schlagworte. Der Jüngere fütterte den PC.
«Großindustrieller tot aufgefunden», las Deubelbeiss nur wenig später vom Bildschirm ab.
«Lesen Sie», versuchte der Ältere, seine Überraschung zu vertuschen, «den Text ganz unten.»
«Sie meinen die Kommentare, die dazu genutzt werden, um Frust abzubauen und andere zu beschimpfen? Wie viel Zeit und Mühe die Leute dafür aufwenden, erstaunt mich immer wieder.»
«Die sitzen noch länger vor dem Computer als Sie», warf der Ältere ein.
«Ist Ihnen aufgefallen, dass das inhaltliche Niveau der Leserbeiträge mit jenem der Orthografie, der Grammatik, der Interpunktion und so weiter korreliert?», fuhr der Assistent unbeirrt fort.
«Dann erzählen Sie mir, was Sie aus dem Kommentar unter dem Beitrag schließen?»
Leise las Deubelbeiss vor: «‹Geschieht ihm recht. Die reichen Schweine gehören aufgehängt. Besser, sie tun es selber, bevor es ein anderer tut; TrueBoy69.› Ich finde es bemerkenswert, dass der Kommentar 37 Daumen nach oben und keinen nach unten erhalten hat.»
«Das habe ich nicht gemeint.»
«Sie wollen wissen, wer diesen Kommentar verfasst hat, und woher er kommt.»
«Gut kombiniert.»
«Sie müssen mir aber sagen, warum Sie sich so für diesen wahren Jungen interessieren.»
Der Kommissar machte ein bedeutungsvolles Gesicht: «Ich werde das Gefühl nicht los, dass unser Autor mehr weiß. Das ‹Geschieht ihm ganz recht› lässt mich nicht los.»
Für einen Moment herrschte Ruhe im Raum.
«Wie soll ich es erklären», reagierte er auf die Miene des Assistenten. «Unser Gesuchter erwähnt ja, dass sich Schläfli stranguliert hat. Dafür braucht es nicht mehr als eine Person. Aber», der Ermittler suchte nach den passenden Worten, «wenn dir etwas ‹geschieht›: Bedingt das nicht einen externen Faktor? Ein Suizid ‹geschieht› einem doch nicht.»
Der Assistent schien die Überlegungen des Älteren nicht nachvollziehen zu können und blieb stumm.
«Vielleicht», Tagliabue verscheuchte eine Fliege, die sich vor ihm aufs Pult gesetzt hatte, «suche ich lediglich Indizien, um Frischknechts Annahme zu bestätigen, dass sich Schläfli zur Todeszeit nicht allein in der Villa aufgehalten hat.»
Er blickte seinem Zuhörer ins Gesicht: weiterhin keine Reaktion.
«Haben unsere Kollegen von der Spurensicherung konkrete Resultate? Irgendetwas, das uns weiterhilft?»
«Nein, die arbeiten sicher mit Hochdruck am Fall.»
«Mein lieber Deubelbeiss: Manchmal sind Worte nicht mehr als Geräusche. Stammt leider nicht von mir. Ist von Nek. Hören Sie zwischen all Ihrem Lärm auch mal italienische Musik?»
«Ist nicht wirklich mein Ding», schüttelte der Assistent den Kopf. «Soll ich nun herausfinden, von wo, eventuell von wem der Kommentar kommt?»
«Sicher. Machen Sie schon vorwärts. Brauchen Sie meinen Computer lange?»
«Sie haben immer noch Schiss vor den Spezialisten der IIT, bei etwas nicht Reglementskonformem auf frischer Tat ertappt zu werden», vermutete der Assistent. «Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich brauche den PC nicht mehr. Die Entwicklung ist weitergegangen.» Er zerrte ein iPad aus seinem Rucksack, wechselte die Pultseite und den Bürostuhl.
Der Kommissar war überrascht, den Arbeitsplatz so rasch wieder in Besitz nehmen zu können. Er loggte sich ein, öffnete sein Mailprogramm, löschte zuerst die Spams und widmete sich den wenigen relevanten Nachrichten.
Zuoberst hing der Terminvorschlag zum aktuellen Stand der Ermittlungen im Falle Schläfli: Dienstag, 10.00 Uhr, Büro Dr. B. Huber. Die Absenderin Elvira Keiser war die jahrzehntelange Assistentin von Schlatter gewesen und von ihrem neuen Chef als Gesamt-, aber keinesfalls Rundum-sorglos-Paket zusammen mit dem Job, Büro, Mobiliar und Material übernommen worden.
Im vollen Bewusstsein, dass sich ein Zusammentreffen mit seinem Vorgesetzten doch nicht vermeiden liess, nahm der Kommissar die Einladung ohne Kommentar an – nach langem Ringen mit sich selbst hatte er entschieden, das «Ich freue mich außerordentlich auf das nächste Rendez-vous» wieder zu löschen.
«Tagliabue», so der Einstieg in die zweite Mail, «eine Frau Pinto hat ihre Telefonnummer bei uns am Empfang für den ‹Kommissar mit dem italienischen Namen› hinterlegt.»
Er kontrollierte die Eingangszeit der kurzen Nachricht, um festzustellen, dass er die Haushälterin um ein paar Minuten verpasst hatte. Noch mehr ärgerte ihn, dass der Empfang unfähig war, Mails mit allen wichtigen Informationen zu verschicken. Sondern abwartete, bis die Notizen persönlich im Erdgeschoss abgeholt und gebührend verdankt wurden.
Die übrigen digitalen Informationen waren dienstlichen Ursprungs. Nachdem der Ermittler sie überflogen, mit der Maus in den Papierkorb gezirkelt und per Tastendruck entsorgt hatte, widmete er sich der letzten Mail: «Heute Abend nicht. CSJ.» Damit war sein nächstes Wochenende ruiniert, bevor es richtig begonnen hatte.
«Chef», wurde er von Deubelbeiss aus der tiefen Frustration gerissen. «Einmal habe ich was. Einmal habe ich nichts. Was wollen Sie zuerst hören?»
Noch nicht ganz bei sich, entschied sich der Kommissar für die Negativnachricht. Die passte perfekt zu seiner aktuellen Gemütslage und beflügelte sein Selbstmitleid zusätzlich.
«Unseren TrueBoy69 habe ich überall gesucht und nirgends gefunden», begann der Assistent vorsichtig.
«Was schließen Sie daraus?»
«Die richtigen Schlüsse müssen Sie ziehen. Ich liefere nur die Vorarbeit.»
«Und die gute Nachricht?»
«Die Mail wurde von einem öffentlichen Computer unserer Uni verschickt. Das reduziert den Kreis der Absender auf sechzehntausend Studenten.»
«Das reduziert den Kreis der potenziellen Verfasser und Versender von Schmähmails auf achttausend, wenn wir der Einfachheit halber von einer gleichmäßigen Verteilung der Geschlechter ausgehen.»
«Da täuschen Sie sich auf einen Schlag gleich doppelt – optimale Quote. Einerseits stimmt Ihre Annahme zur Verteilung von Studentinnen und Studenten nicht. Anderseits: Wer sagt Ihnen, dass es sich um einen Boy handelt? Wenn er oder sie gar nicht so true ist?»
«Irgendetwas zu der Fakultät, zu dem Institut, kurz: zur genaueren Adresse des Computers?», wich der Ältere aus.
«Ja, aber das hilft uns nicht viel weiter. Er steht in einem Teil des Hauptgebäudes der Universität.»
«Da könnte demnach auch ich hin, ohne aufzufallen?»
«Bei Ihnen», musterte der Assistent den Vorgesetzten vom Scheitel bis zur Sohle, «kann ich mir das nicht wirklich vorstellen. Aber falls Sie das meinen: In diesen Bereich kommen auch Sie ohne Probleme. An die Computer gelangen Sie hingegen nur mit der Studenten-ID und dem Passwort, das ich für Sie schon geknackt habe.»
«Könnten Sie für mich noch etwas herausfinden?»
«Kein Problem.»
«Ich suche eine Frau. Nicht, was Sie meinen», reagierte er auf das breite Grinsen seines Gegenübers und erzählte die Vorkommnisse der tödlichen Militärnacht.
«Sie suchen eine Frau um die fünfzig. Mindestens einmal jung verheiratet, mindestens ebenso oft jung verwitwet und mindestens ein Kind», quittierte Deubelbeiss die Information. «Name verheiratet Burgener. Der Vorname?»
«Barbara.»
«Das ist ja passend: die Schutzpatronin der Mineure und Artilleristen», der Sarkasmus seines Assistenten wurde selbst für Tagliabue bisweilen unerträglich. «Und der junge Selbstexekutierte hörte auf den hübschen Vornamen Egon», fuhr der Assistent fort. «Ich glaube, daraus lässt sich trotz aller Knappheit an Informationen und der Jahre, die vergangen sind, etwas machen. Weshalb das Interesse an der Witwe?»
«Überlegen Sie doch genauso scharf, wie Sie kommentieren: Schläfli hat mit Krämer Barbaras Ehegatten und den Vater des ersten Kinds auf dem Gewissen.»
«Und weshalb wartet sie dann über dreißig Jahre? Es sind nicht alle so nachtragend wie Sie.»
«Sagt Ihnen der Begriff ‹sleeper› etwas? Ältere Semester wie ich kennen das aus Agentenfilmen, die während des kalten Krieges spielen: sowjetische Geheimdienstler, die den American Way of Life jahrzehntelang leben, um auf das vereinbarte Zeichen loszuschlagen. Vielleicht gab es bei Barbara auch so etwas wie ein auslösendes Element. Mit dem Schalter wird eine Person umgelegt. Sozusagen.»
Während er redete, erhob sich der Kommissar langsam von seinem Stuhl, um sich zur Bürotür zu bewegen. «Die letzte Frage», er hatte den Türknauf bereits in der Linken: «Warum zum Teufel missbrauchen Sie meinen Computer für Ihre kindischen Spiele?»
«Wie Sie richtig festgestellt haben, befindet sich auf meinem Pult noch kein PC.» Der Assistent deutete mit der Linken zu seinem mit einem Telefon, wenig Büromaterial und einem Stapel Akten belegten Schreibtisch.
«Warum nicht? Sie sind doch schon länger hier.»
«Der Dienstweg.» Deubelbeiss war ebenfalls aufgestanden. «Der Dienstweg», übertrieb er seine Enttäuschung etwas gar theatralisch.
«Haben unsere Kollegen von der zentralen Beschaffung die Bestellung verschlampt? Oder verstehen sie am Ende ihr mehrseitiges Material- und Infrastrukturantragsformular selbst nicht mehr?»
«Das weiß ich nicht.» Deubelbeiss stand jetzt am Schreibtisch des Chefs. Gezielt entriss er einem jener Stapel, die er vor wenigen Minuten aufgeschichtet hatte, eine mit einem orangen Post-it versehene dunkelviolette Klarsichtmappe. «Als mein Direktvorgesetzter müssen Sie diesen Antrag zuerst gegenzeichnen, damit er den Dienstweg überhaupt in Angriff nehmen kann. So sieht es das Reglement nun mal klipp und klar vor.»
«Legen Sie’s hin», schloss der Ermittler mit der Tür die Diskussion.
Am Empfang holte er die Notiz ab: Marías Telefonnummer war in kleiner Schrift auf einen Papierschnipsel notiert worden.
Draußen setzte er sich ohne genaues Ziel Richtung Stadtmitte in Bewegung. Er zog sein Smartphone aus der Jackentasche, wählte die Nummer des Gerichtsmediziners. Der begrüßte ihn erst nach längerem Läuten: «Hast du es wieder einmal nicht geschafft, dem Streit aus dem Wege zu gehen? Du, einfach unverbesserlich.»
«Ich hoffe sehr, du bist in deinen rechtsmedizinischen Gutachten ebenso präzise wie in der Beurteilung der noch nicht von uns Gegangenen», schaffte Tagliabue Ruhe, um fortzufahren: «Deine Assistentin ist in mich gerannt – ihre Entschuldigung war kaum zu hören. Das habe ich ihr gesagt. Haben wir nicht ein wichtiges Detail vergessen?»
«Du meinst die Todeszeit?»
«Genau.»
«Das ist so eine Sache», meinte der Arzt. «Ist dir am Tatort nichts Spezielles aufgefallen?»
«Die Leiche meinst du ja kaum, dadurch zeichnet sich ein Tatort aus. Gehe ich recht in der Annahme, dass du die ungewöhnliche Hitze in der Villa ansprichst?»
«Exakt. Wärme macht es schwierig, die genaue Todeszeit festzustellen. Wie du sicher weißt, beschleunigen hohe Temperaturen verschiedene Prozesse, während tiefe das Gegenteil bewirken. Denke nur an einen Fisch, den du in die pralle Sommersonne legst, und einen, den du im Kühlschrank aufbewahrst.»
«Ich esse keinen Fisch.»
«Natürlich frisst du Fisch und alles, was die Ozeane so hergeben. Wie alle Südländer.»
Der Ermittler musste ein paar Schritte gehen. «Aber ihr habt Erfahrungswerte», nahm er das Gespräch wieder auf, «wie schnell sich eine Leiche bei welchen Temperaturen um wie viel abkühlt oder wer weiß was sonst noch alles macht. Ich bin nicht der Arzt der Toten.» Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, anderseits hätte es ihn noch lange gewurmt, wenn er die vorherige Beleidigung unerwidert gelassen hätte.
«Du hast recht. Nur wissen wir nicht, wann die Heizung auf volle Kraft gestellt wurde. Und wie lange die hohe Temperatur auf den Toten eingewirkt hat. Wenn du verstehst, was ich meine.»
«Trotzdem gehe ich davon aus, dass du eine Vermutung hast, was die Todes- und damit die Tatzeit betrifft?»
«Die zwei können massiv variieren», hielt der Arzt seine Antwort zurück. «Vor allem in unserem Fall. Wie ich dir deutlich genug dargelegt habe, nicht wahr? Die Tat wurde meiner Meinung nach so geplant und umgesetzt, dass sich der Todeseintritt möglichst herauszögerte.»
«Komm schon, mach es nicht spannend!»
«Je nachdem, wann die Heizung heraufgeschraubt wurde, trat der Tod nach unseren aktuellen Erkenntnissen sechs bis acht Stunden vor unserem Eintreffen am Tatort ein. Du siehst also», Frischknecht nahm dem Kommissar den Wind aus den Segeln, «die vagen Rahmenbedingungen führen zu einer von mir ungewohnt großzügigen Bandbreite bei der Tatzeit. Tut mir leid. Aber vielleicht erfährst du noch, von wem, wieso und wann die Heizung an einem Sommertag aufgedreht wurde. Und eine allerletzte Frage habe ich noch.»
Je länger die Pause dauerte, desto mehr stieg das Unbehagen des Kommissars: «Schieß schon los, lass mich nicht hängen!»
«Ich habe vernommen, du habest dem am Seil hängenden Schläfli einen Faustschlag in den Unterleib versetzt.»
«Es war die Nierenregion. Sonst orientieren sich die Quellen an der Wahrheit.»
«Trotzdem: Wieso der Angriff auf einen Toten?»
Diese Frage hatte der Ermittler zwar erwartet und eine Antwort vorbereitet. Dass aber Frischknecht und nicht jemand von der Spurensicherung dieses Thema aufbrachte, stellte ihn vor eine neue argumentative Herausforderung. Denn so einfach ließ sich der Pathologe nicht in die Irre führen. «Nun, ich könnte erzählen, dass es meine persönliche Methode einer Erstobduktion ist. Durch den starken Druck reagiert die Körperoberfläche. Der Widerstand gibt Aufschluss über die Leichenstarre, zugleich liefert der physische Kontakt mit der Leiche Informationen zur Körperwärme. Gut, über die Intensität meiner Berührung lässt sich diskutieren. Vielleicht habe ich mich zu sehr gehen lassen.»
Da der Pathologe nicht reagierte, fuhr der Kommissar nachdenklich fort: «Als ich Schläfli so am Seil hängen sah, erkannte ich meine Möglichkeit, mich, wenn auch aus niedrigsten Beweggründen, zu rächen. Betrachte es im wahrsten Sinn des Wortes als ein Manifest – vielleicht etwas zu fest.»
«Dir ist bewusst, dass ich Spuren deines, sagen wir mal, Einwirkens am Körper gefunden habe?»
Erfolglos überlegte sich der Ermittler eine entwaffnende Replik.
«Ich muss allen Spuren nachgehen, diesem Sachverhalt die ganze Aufmerksamkeit schenken. Immerhin hast du ein sehr starkes Motiv», wurde der Arzt leiser.
«So?»
«Du hast deinen Hass über die Jahre nicht ab-, sondern aufgebaut. Nicht nur gegen ihn», holte Frischknecht aus, «sondern gegen seine ganze Kaste. Wenn ich bloß an dein Verhältnis zu unserem neuen Chef denke.»
Tagliabue dachte an den Toten, beneidete ihn dafür, dass von ihm niemand mehr eine Antwort erwartete.
«Wer dir Böses wollte, und davon gibt es einige, könnte sogar behaupten», nahm der Arzt den Faden wieder auf, «dass du dem toten Schläfli diesen Schlag versetzt hast, um deine Spuren zu verwischen. Wobei das wohl nicht der treffende Ausdruck ist.»
«Und, was glaubst du?»
«Blödsinn.»
«Und was erwartest du von mir?»
«Dass du dich in Zukunft professioneller verhältst. Lass uns unsere Arbeit machen. Er ist schon genug bestraft.»
«Ich glaube zwar nicht an Gerechtigkeit, aber in diesem Fall hat sie doch noch triumphiert – und dies ohne mein Zutun. Es tut mir leid. Nicht wegen ihm. Wegen dir. Ich habe dich in eine dumme Situation manövriert.»
Frischknecht ließ ihn zappeln: «Ist ja beileibe nicht das erste Mal.»
«Und was hast du jetzt vor?»
«Was meinst du? Ich verstehe deine Frage nicht ganz. Wie gesagt: Blödsinn.»
«Ich danke dir.»
Erleichtert hängte Tagliabue auf und setzte seinen Weg fort. Im Gehen wählte er die nächste Nummer: «Hast du Zeit und Lust auf ein Bier?»
«Weder das eine noch das andere. Üblicher Ort?»
«In zehn Minuten.»
Nur wenig verspätet kam der Kommissar in der Bar jeder Vernunft an. Am späteren Nachmittag war das Lokal leer, allein in der Ecke hinter der Tür saß der fast zahnlose, weißsträhnige Stammgast hinter einem sauren Most, an dem er seit dem Mittag nippte. Er grinste mit durchsichtigem Blick ins Leere, faselte von längst vergangenen Zeiten, in denen die Wände der Bar noch nicht rauchgeschwärzt waren, die Butzenscheibenimitate glasklar und nicht gelblich-opak schimmerten.
Der Ermittler hatte den Gast, abgesehen vom Anheben und vom Kippen seines Mostglases, nur einmal in Bewegung erlebt: An Weihnachten, der ganze Boden war knöcheltief mit Erdnuss- und Mandarinenschalen übersät, hatte sich Pesche mit den ersten Takten aus der alten Wurlitzer von seinem Stammplatz erhoben, die Gäste zur Seite gestoßen und einen unerwartet eleganten Tanz aufs Parkett gelegt. Kaum war der Schlager verklungen, hatte er sich wieder auf die Bank begeben, um erneut in seine gewohnte Apathie zu verfallen.
Tagliabue gab sich keine Mühe, in die Ecke zu grüßen. Er ging zur Theke, um seinen Zweier Merlot im Boccalino zu ordern. Die Spezialität des Hauses – bemerkenswert war eher das irdene Gefäß als der flüssige Inhalt – hatte der Bar vor Jahren den Spitznamen «Merlotto» verliehen. Der Inhaber, dessen Vorname den zweiten Teil lieferte, hatte einst einen seiner Stammgäste per Pistolenschuss zwischen die Schulterblätter darauf aufmerksam gemacht, dass dessen Zeche noch nicht beglichen war.
Seither stand Gina mit den Spirituosen im Rücken und den drei offenen Räumen im Blickfeld hinter dem Tresen. Die Zeit und die Angst vor Rache zeichneten tiefe Furchen in ihr graues Gesicht.
Bevor der Kommissar dazu kam, sie nach der Verabredung zu fragen, hörte er die vertraute Stimme: «30. 10. 1974?»
«Kinshasa», reagierte Tagliabue, ohne nachzudenken. Im nicht blinden, aber stark sehbehinderten Spiegel an der gelblichen Wand hinter Gina erriet er Lüthi, der bereits hinter einem großen Bier wartete.
«Kinshasa», grinste der Polizist, «Hauptstadt von Zaïre, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Dieser Name: Was für ein Witz. ‹Rumble in the Jungle›. Box-WM-Kampf im Schwergewicht. Don King und Mobutu die zwei Diktatoren, George Foreman und Muhammad Ali die Gladiatoren. Beginn um vier Uhr morgens Ortszeit. Damit die Amis trotz der Zeitverschiebung live am Fernseher dabei sein konnten.»
«Ist das alles, was du kannst, Totò?»
«Nicht übel», erwiderte der grinsend. «Der Legende nach hat der in den schlaffen Seilen hängende Ali mit dieser Frage Foreman entnervt. Der verlor seine Konzentration, die Kraft, in der achten Runde den Kampf. So holte sich Ali als zweiter Boxer den acht Jahre zuvor verlorenen Titel zurück. Nichts von ‹they never come back›.»
Kaum war der Satz zu Ende formuliert, erhob sich Pesche von der Bank in seiner Ecke. Als hätte er einen Gong zur nächsten Runde gehört, legte er den echsenartigen Kopf erst auf die linke, dann die rechte Seite. Er hob und senkte seine steil abfallenden Schultern, schüttelte seine zu Fäusten geballten Hände, tänzelte schattenboxend in Richtung Tagliabues, der sich auf dem Weg zu Lüthis Tisch befand. Am Ende jedes Schattenschlags stieß der aus dem Wachkoma Zurückgekehrte einen lauten Atemstoß aus und beherrschte immerhin per Mundgeruch den Raum. Gekonnt auf den beiden Vorfüßen balancierend, umkreiste er den Kommissar, der das Schauspiel mit einer Mischung aus Skepsis und Spaß observierte. «Float like a butterfly, sting like a bee», grinste das schrumpelige Männchen seinem Gegner direkt ins Gesicht. Die bläulichen Augen hatten ihre Schatten verloren, blitzten scharf und aggressiv zum Gegner, um irgendwelche Schwächen ausfindig zu machen. Tagliabue fühlte sich unwohler, je länger Pesche ihn umrundete, und drehte sich auf den Absätzen um die eigene Achse, um den Blickkontakt nicht aufzugeben. Er hob die Arme vorsichtshalber zu einer dichten Deckung, was Pesche sofort als klares Einverständnis zum Kampf auslegte. Lüthi verfolgte die Szene von seinem Sitzplatz in der ersten Reihe, wunderte sich über die unglaubliche Metamorphose und die plötzliche geistige und körperliche Präsenz des bis anhin eher tot- als lebend geglaubten Stammgasts. Mit steigender Geschwindigkeit des absurden Karussells bedauerte der Polizist, nicht mehr für seine Fitness getan zu haben. Je länger, desto mehr schien er die Kontrolle über den Gegner, vor allem über sich zu verlieren und drohte ohne Fremdeinwirkung hinzufallen.
«Peter, dein Most!», knallte Gina die geballte Linke auf den Tresen. Als ob er von einem Aufwärtshaken getroffen worden wäre, sackte Ali auf das Kleinformat von Pesche zusammen. Der fokussierte Blick machte wieder dem trüben Stieren Platz, das Gewicht verlagerte sich von den Zehenspitzen zu den Fersen. Sein elegantes Tänzeln wich einem trägen Schlurfen, aus den schnellen Kreisen wurde eine langsame Rückkehr an den angestammten Platz hinter sein halbleeres Glas.
Tagliabue setzte sich zu Lüthi an den Tisch.
«Toller Kampf. Hauptkommissar lässt sich von Zombie in die Ecke drängen. Stell dir die Schlagzeile vor!»
«Vielleicht kommt es nicht zur Publikation, weil jemand die journalistische Freiheit so bonsaisiert, dass am Ende nur noch ein adrett zurechtgestutztes, mickriges und kaum mehr lebens- und publikationswertes Pflänzchen übrigbleibt. Von wegen, die bekannten Seilschaften lösen sich auf.»
«Falls du mich deswegen hier treffen wolltest: Es gibt nichts mehr zu schreiben, nichts mehr zu sagen im Fall Schläfli. Punkt.»
Im Hintergrund war das helle Ticken der Wanduhr in der Form eines alten Bierfasses zu vernehmen. Ein Geschenk einer lokalen Brauerei, die längst von einem Multi geschluckt worden war.
Seit der gemeinsamen Zeit auf der Sportredaktion wusste Tagliabue genau, wie sein Freund funktionierte: «Schade. Ich bin mir sicher, da gibt es noch viel aufzudecken.»
«Zu Schläfli habe ich dir alles erzählt. Zu Krämer weißt du mehr als wir von der Redaktion.»
«Trotzdem», hakte der Kommissar nach.
«Es ist ein Gerücht. Und dein Geschäft sind Fakten.»
«Trotzdem.»
«Schläflis Geschäfte liefen anscheinend nicht mehr sehr gut», begann der Journalist. «Krämer soll ihm finanziell ausgeholfen haben. Als das Geld nicht mehr zurückbezahlt wurde, hat er seinen Freund unter Druck gesetzt, zuletzt bedroht.»
«Von wem hast du diese Information?»
«Meine Quelle. Mein Zeugenschutzprogramm.»
«Ich hoffe, etwas vertrauenswürdiger als die Alten, die ihr für eure Sensationsgeschichte auf der Straße befragt habt.»
«Ich muss zu meinem größten Bedauern in die Redaktion», beendete Lüthi das Gespräch abrupt. «Ich gehe davon aus, du zahlst. Nimm es auf deine Spesen. Du weißt ja, wie es um Printmedien steht. Die sind fast so orientierungslos wie du im Infight mit unserem Ali.» Er wies mit dem Kinn zu Pesche, der einer verzweifelten Fliege beim Schwimmen in seinem Most zusah.
Im Aufstehen und Vorbeigehen legte der Journalist seine Rechte auf die Schulter des Polizisten: «Ciao. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.»
Tagliabue nahm Glas und Boccalino. Platzierte beides auf dem Tresen neben Gina. Wagte einen kurzen Streifblick in ihr Dekolleté, überlegte kurz, platzierte den Zwanziger dann aber doch auf dem blankgeputzten Metall.
«Der Rest ist für dich.»
«Danke.»
«Danke dir, dass du ihn zur Besinnung gebracht hast.»
«Entsinnung wäre das passendere Wort.»
«Servus, Ali», richtete sich der Polizist an den mit dem Herausangeln der ertrunkenen Fliege beschäftigten Pesche.
Vor dem Merlotto war niemand zu sehen. Der Kommissar langte nach dem iPhone und ließ es klingeln.
«Deubelbeiss.»
«Fragen Sie mich nicht, warum, arrangieren Sie mir einen Termin mit Krämer, bitte. Dann gehen Sie nach Hause und genießen die freien Tage. Bis Montag.»
Der Assistent bestätigte den Auftrag. Bestellte einen Aperol Spritz und genoss den Ausblick über die Stadt.
Auf dem Heimweg durch sein Quartier fühlte Tagliabue sich verfolgt. Und je näher er seiner Wohnung kam, desto komplizierter gestaltete es sich für ihn, die Übersicht zu behalten: Die Straßen und Gassen begannen sich zögerlich zu füllen. Dealer und Kunden traten nach abgeschlossenem Geschäft aus Hauseingängen. Nutten definierten mit ihren Freiern die Konditionen. Einzel- und Pauschaltouristen suchten Orientierung. Unbehelligt nahm er den Weg durch die Leute. Man kannte ihn hier als Element des Mikrokosmos und sprach ihn lediglich aus Versehen, aus Unerfahrenheit oder unter Drogeneinfluss an.
Gehetzt und gestresst kam Tagliabue an. Die Seitengasse machte trotz der laut pulsierenden Umgebung den gewohnt verschlafenen Eindruck. Mit einem letzten Kontrollblick nach allen Seiten öffnete er die Haustür. Die fiel erst krachend ins Schloss, als er den Großteil der Treppe zurückgelegt hatte. Er hörte die einzelnen Fernsehgeräte der Nachbarn. Die leisen Geräusche verfolgten ihn bis vor die Wohnungstür. Er wartete, bis das Licht ausging. Öffnete und schloss die Tür. Prüfte, ob es im Treppenhaus wieder hell wurde.
Erst in der Küche mit dem Fenster zum Innenhof schaltete er das Licht an. Nachdem er seine Halbschuhe ausgezogen hatte, warf er einen nach dem anderen in kontrolliertem Bogen in den Flur, wo sie mit lautem Rumpeln, das in den unteren Etagen zu hören war, liegen blieben.
Tagliabue ging zu seinem Radio und wählte ein Programm mit Hits der 70er und 80er. Er fuhr sich durch die Haare und bilanzierte, dass mehr graue oder weiße als schwarze zwischen seinen Fingern hängengeblieben waren: In kurzer Frist gleich zwei klare Indizien dafür, dass er älter wurde.
Ohne dem Programm konzentriert zuzuhören, entkorkte er eine Flasche Barbera von Stefanino Morra: Castellinaldo ’08, passend zu einem Teller selbstgemachter Teigwaren. Er zog eine Zehnerschachtel Eier aus dem Kühlschrank, nahm den geöffneten Sack Weißmehl tipo 00, balancierte beides zu der beschränkten Arbeitsfläche seiner Küche. Nachdem er die Platte sauber gewischt hatte, schüttete er zirka fünfhundert Gramm Mehl zu einem Berg auf, formte mit dem Löffel einen tiefen und breiten Krater und begann die Eier aufzuschlagen. Acht Dotter ließ er in die Mulde gleiten, die Eiweiße übergab er direkt der Entsorgung via Kanalisation. Zum Schluss fügte er zwei ganze Eier und einen kurzen Strich ligurisches Olivenöl bei und begann, das Mehl behutsam von außen in die glibberige Masse in der Mitte einzuarbeiten. Der gelbe Teig klebte auf, unter und zwischen seinen Fingern. Er musste mehr Mehl hinzufügen. Als er den Sack tipo 00 gepackt hatte, betätigte jemand die Klingel beim Hauseingang. Ein verirrter Besoffener, der sich eine Nische für seine Notdurft, oder ein Junkie, der sich einen stillen Platz für seinen nächsten Schuss suchte, beruhigte sich der Kommissar. Aber das Schellen wiederholte sich.
Er nahm sich vor, dem Klingeln keine Beachtung zu schenken. Ein noch schrilleres Läuten ließ sein Vorhaben jedoch nicht Realität werden. Schnell wischte er sich die Hände an der Hose ab, löschte das Licht, schlich zum Eingang. Trotz Dunkelheit und mit klebrigen Fingern schaffte er es, den Baseballschläger zu packen. Das erneute Klingeln kam nicht mehr von unten, sondern von seiner Wohnungstür – eine Hand am Türschloss, eine am Sportgerät, war er im Begriff aufzuschließen.
«Totò, mach endlich auf. Apri! Ich weiß, dass du da bist», reagierte die flüsternde Stimme hinter der Tür auf das Zögern in der Wohnung.
Weil sich der Schlüssel im Dunkeln nicht auf Anhieb ertasten ließ, schaltete Tagliabue das Licht an. Jetzt klebte der unvollendete Teig auch noch am Schalter und an der Klinke, als er öffnete.
«Was versteckst du hinter deinem Rücken», begrüßte die Frau den Kommissar mit einer Stimme, die zur eleganten Erscheinung passte. «Ein neues Spielzeug? Für wen?»
«Gehen deine Fantasien wieder mit dir durch? Ich dachte, heute Abend nicht.»
«Nett, dass du dich freust, mich zu sehen. Ich kann auch wieder gehen – darf ich reinkommen?», schmiegte sich der Besuch am Gastgeber vorbei in den Flur. Tagliabue schloss die Augen, um sich auf den Duft konzentrieren zu können: ein seltenes Gemisch aus Unbekümmertheit und Energie, Sommer und einem Parfum, dessen exotischen Namen er sich trotz bestem Willen nie merken und ihr deshalb nicht schenken konnte. Was sie ihm aber nie zum Vorwurf machte.
Er beobachtete, wie sich der unerwartete Gast die teuren Schuhe elegant von den Füßen strich und sich, mit einem Arm an der Wand abstützend, die Knöchel und Fersen massierte.
«Was starrst du mir auf den Hintern?», drehte sie sich zu ihm um, der nicht daran dachte, ertappt zu erröten. Vielmehr fühlte er sich bestätigt, dass Jade nach wie vor zu den beeindruckendsten Personen gehörte, die er je kennengelernt hatte.
Tatsächlich beherrschte die Mittvierzigerin sofort jeden Raum, den sie betrat. Auch ohne ihre High Heels konnte sie dem Kommissar waagrecht in die Augen blicken. Ihre gewellten roten Haare und blauen Augen waren von einer Intensität, der sich keiner und keine entziehen konnte. Das vornehm geformte Gesicht erinnerte an klassische Marmorstatuen. Die strahlend weißen Zähne verliehen ihrem Lachen zusätzliche Frische. Das ein bisschen zu wuchtig geratene Kinn betonte die Härte, die Entschlossenheit, den Durchsetzungswillen der Inhaberin.
Nicht nur Gesicht und Haut ließen die Besucherin um einiges jünger erscheinen, als sie war. Auch ihrem ganzen Körper war anzusehen, dass viel Zeit und Geld in ihn investiert wurde: «Mein Körper ist mein einziges Kapital, und Kapital lässt sich nur durch den Einsatz von Kapital maximieren», lautete die Überzeugung jener Frau, die ihm jetzt einen zärtlichen Kuss auf die Wange hauchte.
«Fass mich nicht an. Wasch dir zuerst die Finger, da klebt allerlei Zeug. Was weiß ich, wo sich deine Hände überall herumtreiben. Zwei Kunden haben abgesagt, darum: heute Abend doch.»
«Zwei nacheinander?», fragte er nach, um sicher zu sein, richtig gehört zu haben.
«Zwei miteinander. Vielleicht hast du es bereits in den News gehört: Krisensitzung der Regierung. Da bekam ich plötzlich frei.»
«Ich hoffe, sie waren wenigstens von derselben Partei.»
«Ein Berufsgeheimnis.» Sie folgte ihm in die Küche und strich ihm mit dem Handrücken vom Kinn bis zum Ohr.
«Lass das, Jade. Du solltest mich nicht reizen. Ich bin schon ziemlich geladen.»
«Weshalb nicht, poliziotto, poliziottino? Ti amo molto. Tam. Darf ich dich vielleicht jetzt reizen?» Sie wechselte zum Zeigefinger, ließ diesen von der Wange über das Kinn aufreizend langsam nach unten gleiten.
«Ist dir im Treppenhaus nichts aufgefallen?» Auf der Höhe seines Bauchnabels schob er ihren Finger zur Seite.
«Dass alle deine Nachbarn vor ihrem Fernseher sitzen und sich denselben Müll ansehen, weil sie nichts Besseres zu schaffen haben? Oder hat der liebe Totò wieder mal Angst vor den garstigen Männern, die ihm folgen und ihm Böses wollen? Lauern sie dir auf, um dich zu piesacken, zu plagen und zu schlagen? Musst du dich in deiner kleinen Wohnung vor der Welt verstecken? Soll dich la mamma ins Bettchen tragen, damit dem kleinen Tschinggeli nichts passiert?» Sie fuhr ihm mit der Hand in den Schritt.
Der Kommissar packte Jade an den Oberarmen, hob sie ohne Anstrengung hoch. Machte elegant eine halbe Drehung um die eigene Achse. Setzte sie auf die mehlbestäubte Arbeitsfläche. Glitt mit beiden Händen zu ihren Schultern. Wo er die schmalen Träger des Kleides ergriff. Um ihr den Stoff in einer Bewegung, allerdings in zwei Teilen vom Körper zu reißen und zu Boden segeln zu lassen.
«Scheiße, Gucci», war die einzige wahrnehmbare Reaktion. Nur mit einem String bekleidet, saß sie vor ihm.
«Sei triste? Muss dich papà ins Bettchen bringen?» Er packte Jade erneut, legte sie sich über die Schulter, zog ihr auf dem Weg ins Schlafzimmer die letzte Andeutung von Textil aus.
Im spärlich beleuchteten Raum ließ er seine Last mit Schwung, das Gesicht nach oben, aufs Bett sinken. Er setzte sich auf ihren Bauch, befreite sich vom Hemd, streifte sich Hose, Slip und Socken ab, ohne die Umklammerung der Beute zu lösen. Er beugte sich zu einem der Nachttische und angelte sich zwei Handschellen – ein Original und ein Modell aus einem der vielen Sexshops im Quartier. Nachdem sie sich mit «Mach endlich weiter!» und einem Lächeln ergeben hatte, fixierte er sie gekonnt am Bettgestell, zauberte zwei kurze Seile aus dem anderen Nachttisch, drehte sich um hundertachtzig Grad und band ihre Füße am unteren Bettende fest. Als er begann, ihre Unterschenkel zu küssen, dachte er plötzlich an María.
Als Tagliabue am folgenden Morgen aus seinem Tiefschlaf erwachte, hatte er jegliches Gespür für Zeit und Raum verloren. Das leise Atmen in seinem Rücken holte ihn in die Gegenwart zurück. Er wusste, dass die Person hinter ihm wach lag. Oft hatte er ihr beim Schlafen zugehört, wenn es ihm nicht gelungen war, zur Ruhe zu finden.
«Binde mich bitte los», begrüßte sie ihn. Er drehte sich um und blickte in schlaflose Augen. Nervös tastete er nach dem Hemd, um es zwischen ihre Beine zu legen.
«Mach dir keine Mühe. Jetzt ist eh schon alles trocken», zischte Jade, die sich immer noch nicht in der Position befand, sich zu wehren. «Mach mich los!»
Sachte schloss er die Handschellen auf, ohne sie aus den Augen zu lassen: Er hatte Angst vor ihrer Reaktion, die heftiger ausfallen konnte, als ihre aktuelle Passivität erahnen ließ.
Aber Jade kümmerte sich nicht um ihn. Sie ging kommentarlos zu jenem Teil des Einbauschranks mit ihrem Kleidernotvorrat und versorgte sich.
Nur Augenblicke, nachdem sie die Spülung betätigt hatte, stand sie schon vor dem Badezimmer, ging durch den Flur, packte ihre Schuhe, zog die Tür wortlos hinter sich zu.
Er versuchte, noch einmal einzuschlafen, was ihm nicht richtig gelang.