«Salvatore. Tesoro.» Die Stimme drang von sehr weit zu ihm. Der weiche Ton ließ auf eine Frau, die akzentfreie Aussprache zweifelsfrei auf eine Italienerin schließen. Aber wie jeden Tag, inklusive Sonn- und Feiertage, war mamma bei ihrer Arbeit. Um ihm in ferner vager Zukunft vielleicht ein besseres, aber nach wie vor kein gutes Leben zu ermöglichen.
Dass er mit ganzem Vornamen angesprochen wurde, deutete darauf hin, dass die Sache sehr ernst war. Er überlegte sich, ob er aufwachen wollte, und entschied sich für eine andere Variante: Vorsichtig versuchte er, das linke Auge zu öffnen. Ohne Erfolg, die Lider klebten zusammen. Nächster Versuch rechts. Trotz minimaler Öffnung blendete ihn das grelle Licht. Er schloss das Auge reflexartig.
«Salvatore», die vertraute, immer noch nicht zuordenbare Stimme hatte auf das Zeichen gewartet. Es hatte keinen Sinn mehr, den Schlafenden zu mimen. Ganz sachte öffnete er das funktionierende Auge, erkannte über sich den Umriss einer Hand, die nervös an einer Art himmlischem Dreieck herumhantierte.
Im Hintergrund hörte er ein monotones, technisch-klares Piepen, das sich allmählich intensivierte, um sich auf höherem Niveau einzupegeln. Tagliabue begann, zuerst seine Finger, dann die Hände in immer weiteren Kreisen zu bewegen, und spürte die weiche Oberfläche eines glatten Stoffs. Weniger bequem war die Position seiner Arme. Er lenkte sie zur Bauchmitte. Dabei fiel ihm auf, dass ihn das viel mehr Kraft kostete, als er erwartet hatte. Neben dem Widerstand spürte er ein Stechen, wenn er den Winkel zwischen Unter- und Oberarm veränderte. Nachdem er seine Finger ineinander verwoben hatte, nahm er an, dass er in dieser Stellung wohl wie ein Toter aussah. Auf jeden Fall hatte er die Mutter der mamma so auf dem Totenbett liegen sehen.
Mit einiger Anstrengung schlug er nun beide Augen auf und erkannte Jade. Daneben eine unbekannte Person.
«Was ist heute für ein Tag?» Er versuchte zu lächeln, aber die Schmerzen waren zu stark.
Jade wartete auf das vage zustimmende Nicken der anderen Frau, bevor sie vorsichtig antwortete: «Heute ist Mittwoch.»
«Okay», überlegte er, «dann war ich gestern am Match. Was für ein erbärmliches Gekicke und Getrete. Ich kann mich nicht mehr genau an das Spiel erinnern. Nur, dass ein paar Chaoten aufs Spielfeld rannten. Aber was mache ich hier?»
«Sie waren in eine Schlägerei verwickelt», antwortete die Frau im weißen Kittel. «Dazu können Ihre Kollegen mehr erzählen. Ich widme mich den medizinischen Fragen. Neben einer Hodenquetschung haben Sie andere Prellungen, die aber nicht so gravierend sind. Sie haben Schürfungen, kleine Schnittwunden. Zwei Rippen sind angerissen, ohne die Lunge zu tangieren. Ihr linkes Jochbein und Ihre Nase sind gebrochen. Die Brauen mussten wir mit einigen Stichen nähen. Ihre Augen sind bis auf ein paar Schwellungen zum Glück heil geblieben.» Als ob sie überlegte, ob sie etwas unterschlagen habe, legte die Ärztin eine Pause ein. «Am meisten Sorge machte uns aber der Umstand, dass Sie das Bewusstsein verloren haben. Wir haben Sie in ein künstliches Koma versetzt. Wie es aussieht, werden Sie keine Folgeschäden davontragen. Sie hatten ziemliches Glück. Als hätten die Angreifer genau gewusst, was Sie taten. Aber jetzt sind wir mal froh, dass es Ihnen gut geht. Sie brauchen jetzt viel Ruhe.» Und bevor sie das Zimmer verließ, richtete sie sich an den Besuch: «Bitte keinerlei Aufregung. Noch fünf Minuten, dann muss ich Sie bitten, endlich heimzugehen. Erholen Sie sich. Sie sind sicher müde nach dem langen Warten.»
Jade nickte und blickte der Ärztin hinterher, bis sich die Tür hinter ihr schloss. Einen kurzen Moment lang waren nur die medizinischen Geräte zu hören.
«Was ist heute für ein Tag?», beendete der Kommissar die Stille.
«Du hast gehört, was Frau Dr. Eckert gesagt hat: Du sollst dich nicht aufregen.»
«Das mache ich aber, wenn du meine Frage nicht beantwortest.»
«Es ist Mittwoch», wiederholte sie vorsichtig.
«Was redet die Ärztin von künstlichem Koma?»
«Du warst eine Woche nicht bei Bewusstsein.» Jade beobachtete ihn genau, um auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet zu sein.
«Eine Woche», wiederholte er langsam, wie um sich der Schwere seiner Verletzungen bewusst zu werden.
«Du hast viel Glück gehabt – wir hatten viel Glück. Aber jetzt musst du dich erholen. Ich bin derart erleichtert, dass du aufgewacht bist. Ich hatte solche Angst um dich, als ich von dieser Attacke hörte. An dem Abend versuchte ich die ganze Zeit, dich zu kontaktieren. Und du nimmst einfach nicht ab. Ich befürchtete, dass du nichts mehr von mir wissen willst. Wie gern wäre ich damals mit dir ausgegangen! Ich habe dich vermisst. Morgen besuche ich dich wieder. So wie ich das jeden Tag gemacht habe.»
Sie bückte sich vorsichtig zu ihm, um ihm einen Kuss auf seine geschwollene Wange zu hauchen. Abrupt richtete sie sich auf. Wandte sich um. Begab sich zur Tür. Wo sie von Tagliabues Stimme gebremst wurde.
«Du bist mir nicht böse?», erkundigte er sich kleinlaut.
Ohne die Hand von der Klinke zu nehmen, antwortete sie auf die Frage, die sie sich selbst immer wieder gestellt hatte: «Ich mag es, dass du danach, im Gegensatz zu den anderen, nie gefragt hast, wie du warst. Du hast dich stets auf deine Gefühle und Instinkte verlassen. Soll ich dir jetzt böse sein und unserer Beziehung deswegen einen Strick drehen?»
Ohne einen Blick zurück öffnete und schloss sie die Tür hinter sich.
Im Zimmer herrschte bis auf das Piepen des EKGs Stille – Tagliabue konzentrierte sich auf seinen Körper.
Er merkte, wie die Wirkung der Schmerzmittel allmählich nachließ. Er versuchte einzuschlafen, bevor sich dieses Pochen, Reißen und Brennen intensivierte.
Als der Kommissar aus seinem traumlosen Schlaf erwachte, fühlte er sich wesentlich besser und ausgeruhter. Bevor er aber die Augen öffnete, wollte er die Lage ausloten.
Die Schmerzen waren fast verschwunden. Er hoffte, dass das mit seiner Genesung zu tun hatte. Befürchtete aber, dass dafür medikamentöse Gründe vorlagen. Er spürte eine weitere Person im Krankenzimmer. Die Atmung ließ einen Mann vermuten. Der alles übertünchende Spitalgeruch ließ eine olfaktorische Bestätigung trotz aller Anstrengungen allerdings nicht zu.
Weil er im Spital, mit der Ausnahme der medizinischen Behandlung, keine Gefahren vermutete, entschied er sich, sein Wachsein gegen außen zu kommunizieren und die Augen zu öffnen. Sofort stellte er fest, dass die Anzahl der Schläuche, Apparate und der Geräte seit seinem letzten Comeback abgenommen hatte. Er vermutete, dass er nicht mehr auf der Intensivstation lag.
Die Reaktion ließ nicht auf sich warten: «159; 4/100; 24.9.»
«Ich brauche dein Mitleid nicht. Oder hast du gemeint, dass der arme Mann im Spitalbett keine schweren Fragen mehr lösen kann? Komm schon, gib dir wenigstens einen Hauch von Mühe.»
«Jedenfalls scheinst du wieder der Alte zu sein. Mein Rätsel konntest du allerdings nicht lösen. Hat dein Kopf Schaden genommen? Wobei der Unterschied zu früher sehr schwer nachzuweisen sein dürfte.»
«Ich darf mich hier gar nicht aufregen. Und du hast es in der kurzen Zeit schon zwei Mal geschafft», lächelte Tagliabue, was ihm dieses Mal besser gelang. Der Besuch legte die Illustrierte weg, erhob sich und schob seinen Stuhl zum Bett.
«Danke, dass du gekommen bist.» Der Polizist streckte dem Journalisten die Hand entgegen, die Nadel in seinem Arm vergessend.
«Nicht der Rede wert. Aber die Auflösung hätte ich schon gerne. Einfach nur, um zu wissen, ob das auf deinem Hals noch richtig funktioniert. Das zwischen deinen Beinen interessiert mich nicht – soll sich jemand anders Sorgen machen. Jade lässt dich jedenfalls herzlich grüßen. Sie musste leider kurzfristig geschäftlich verreisen. Jetzt halte eben ich Totenwache.»
«Lüthi, Lüthi», schüttelte Tagliabue den Kopf. «Hätte ich nur weitergeschlafen. Oder schlafe ich noch, und das ist nur ein Albtraum?» Er kniff sich in die Wange. «Es muss Realität sein. Wenn wir schon beim Thema sind: Wie sehe ich aus?»
Der Journalist betrachtete ihn und überlegte, wie er das, was er sah, formulieren sollte. «Irgendwie erinnerst du mich an einen bedeutenden, wenn nicht gar an den berühmtesten Schlagzeuger des gesamten show business.»
«Bonham? Moon? Collins? Ringo?», wagte Tagliabue mehrere Versuche.
«In Bezug auf die musikalischen Qualitäten liegst du nicht so schlecht. Aber beim Aussehen ... Bonham und Moon sehen sogar in ihrem jetzigen Zustand besser aus als du. Und die zwei anderen sowieso.»
«Schon vergessen», wurde der Patient ungeduldig, «ich darf mich nicht aufregen. Raus mit der Sprache!»
«Die krumme Nase, die angeschwollenen Augen, der leicht verschlafene Gesichtsausdruck und die violette Hautfarbe von den Blutergüssen erinnern mich an Gonzo, den Drummer aus der legendären Muppet Show. Entspricht auch deinem Jahrgang.»
«Alles klar. Danke für das nette Kompliment.» Tagliabue verdrehte die Augen. «Aber ich frage mich schon, wessen Hirn besser funktioniert. Der Drummer der Puppentruppe hieß Das Tier oder Animal. Aber wenigstens hast du mich nicht mit Miss Piggy oder mit Kermit dem Frosch verglichen. Am besten würden für uns beiden eh die zwei miesepetrigen Alten auf dem Balkon passen. Hießen die nicht Statler und Waldorf?»
Lüthi: «Du lenkst ab, weil du die Antwort auf die drei Zahlen nicht kennst.»
«Du hättest es mir nicht einfacher machen können: 100 Meter, 9.78 Sekunden, 1988. Richtig, oder?»
Anerkennend nickte der Journalist: «Dein Kopf scheint wieder in Ordnung zu sein, falls das überhaupt je der Fall war. Aber lass uns von den wichtigen Dingen reden. Die Schwester hat mir fünf Minuten gegeben. Du müssest dich schonen, hat sie gesagt.»
Der Kommissar winkte ab: «Das hätte sie sich überlegen müssen, bevor sie dich hier reinließ. Was ist passiert? Wie Johnson kann ich mich an meinen Zwischenfall nicht mehr erinnern.»
«So wie es aussieht, bist du in eine Schlägerei geraten. Die haben dich übel zugerichtet. Du hattest Glück, dass noch ein anderer so unvorsichtig war, den unbeleuchteten Weg durch diese gottverlassene Gegend zu nehmen. Er hat dich gefunden und ist nicht einfach weitergegangen – ein Zeichen von Zivilcourage. Du hast noch geröchelt, sonst hätte er vielleicht gemeint, du seist ein Landstreicher in einem zerrissenen Prada, der in dieser reichen Stadt draußen pennen muss. Hast du wieder provoziert?»
«Ich habe es gesagt: Ich kann mich nicht mehr erinnern. Lücke, delete, Loch, Amnesie. Ich ging ganz am Schluss aus dem leeren Stadion und bin hier aufgewacht.»
«Hooligans der anderen Mannschaft, wie es scheint. Haben dir ihren Schal ins Maul gestopft – fast wärst du daran erstickt.»
«Kann mich nicht erinnern, als Anhänger eines Teams erkennbar gewesen zu sein», strengte sich der Kommissar an. «Ich war den ganzen Tag auf den Beinen und nehme keine Fanartikel mit zu Untersuchungen. Zudem bin ich aus dem Alter seit einem geschätzten halben Jahrhundert raus.»
«Diese Jungs waren jedenfalls geübt und haben gezielt zugeschlagen.» Lüthi wurde noch nachdenklicher: «Als wollten sie dir einen Denkzettel verpassen. Und dein gestopftes Maul ist auch eine klare Botschaft.»
«Und meine Kollegen? Haben die etwas rausgefunden?»
«Auf den Videos der Stadionkameras ist zu sehen, wie du weggehst. Das gilt einige Minuten später auch für deinen Finder. Sonst ist niemand mehr zu erkennen, der diesen Weg wählt. Wobei die Kameras auch nicht alles abdecken können.»
«Vielleicht der freundliche Kandidat für den kommenden Prix Courage?»
«Der schlendert vom Pissoir zum Tatort und hat sein Handy nicht benutzt, um personelle Unterstützung für den Überfall in der Unterführung anzufordern. Übrigens: Wieso hast du mich nicht angerufen? Dann wäre dir das nicht passiert.»
Wie recht du hast, dachte der Ermittler und erklärte Lüthi, dass dem iPhone unerwartet der Strom ausgegangen war.
«Ich kann dir für den Aufenthalt mein Ladegerät pumpen.» Der Journalist war im Begriff aufzustehen, um zu seiner Computertasche zu gehen.
«Ist nicht nötig. Ich brauche Ruhe», rettete sich der Patient.
Einen Augenblick herrschte gespannte Stille zwischen den beiden Männern, bis Tagliabue begann: «Du willst wissen, ob ich weiß, wer hinter dem Überfall steckt.»
Unschlüssig zuckte Lüthi mit den Schultern.
«Das war kein Zufall. Beim Verlassen der GammaG befiel mich schon das Gefühl, beobachtet zu werden. Auf dem Parkplatz stand ein schwarzer BMW. Das gleiche Modell verfolgte mich über mehrere Kilometer. Vielleicht bin ich Krämer zu nahegetreten.»
Der Journalist zögerte: «Seit jener Geschichte bist du hinter ihm her. Lässt die Leute nicht in Ruhe, kommst selbst nicht zur Ruhe. Lass doch endlich los!» Er war mit jedem Wort lauter geworden.
«Das hat Krämers Anwalt auch gemeint.»
«Glaubst du, ich stehe auf deren Seite?»
Der Gefragte reagierte nicht.
«Ich stehe auf keiner Seite. Nicht einmal auf deiner. Ich interessiere mich für Fakten.» Lüthi regte sich auf und redete inzwischen dermaßen laut, dass sich die Tür öffnete und die Krankenschwester den Kopf durch den entstandenen Spalt schob: «Herr Lüthi, ich denke, es ist an der Zeit. Der Herr Kommissar benötigt jetzt dringend Ruhe.»
Schwerfällig erhob sich der Besucher. «Mal schauen, ob ich dir eine weitere Visite abstatten kann.»
«Kein Problem», flüsterte der Kommissar, «danke mal für heute. Eine Frage noch. Macht ihr – oder besser: Habt ihr eine Geschichte gemacht?»
«Die Zeitung würde zu langweilig und zu dick, wenn wir über jede Schlägerei berichteten. Die Tatsache, dass ein Polizist vermöbelt wurde, hebt den Nachrichtenwert nicht wesentlich. Da müsstest du uns respektive dir schon den Gefallen tun und an den Folgen eines Angriffs sterben. Aber danach sieht es im Augenblick nicht aus. Schlecht für meine Zeitung. Umso besser für dich. Und natürlich auch für mich.» Der Journalist betrachtete ihn, zögerte, fuhr dann fort: «Dr. Huber wollte dir den Fall wegnehmen. Du habest null Fortschritte erzielt. Ich habe ihm dann eine Story erzählt. Vom zusammengehauenen Kommissar, dem man den Fall, während er im Koma liegt, entzieht. Dass sich das auf den Ruf und die Karriere des Vorgesetzten nicht positiv auswirke. Das Argument hat ihn dann doch noch umgestimmt.»
Für eine kurze Zeit herrschte Ruhe.
«Ich bin froh, dass es dir, den Umständen entsprechend, noch nicht gut, aber besser geht. Dein Kopf scheint in Ordnung zu sein – mal abgesehen von Äußerlichkeiten. Das Langzeitgedächtnis funktioniert. Dass du dich nicht an den Unfall erinnern kannst, ist vielleicht von Vorteil – Gedächtnislücken können in ganz speziellen Fällen ganz nützlich sein.»
Lüthi hatte entschieden, auf einen Händedruck oder einen Augenkontakt zu verzichten. Er stellte den Stuhl zurück, schnappte sich seine Tasche und ließ den Ermittler allein. Dieser schlief vor Anstrengung sofort ein.
Stunden später wurde der Patient geweckt. Wiederum eine andere Pflegefachperson.
«Ihr Abendessen, Herr Tagliabue», lächelte sie ihn an.
«Danke», erwiderte er ihre Freundlichkeit und versuchte, in ihren Ausschnitt zu blicken, als sie das Tablett auf das Tischchen neben dem Bett balancierte. Er war froh, dass wenigstens die niederen Instinkte noch einwandfrei funktionierten.
«Wie lange muss ich hierbleiben?»
«Sie müssen wieder ganz gesund werden. Wir rechnen bis Samstag. Falls Sie weiter solche Fortschritte machen.»
«Bis übermorgen?», freute sich der Kommissar.
«Nein, nicht ganz.»
«Warum? Heute ist doch Donnerstag, oder?»
«Sicher», begriff die Schwester jetzt: «Samstag in einer Woche, wenn es keine Komplikationen gibt. Sie brauchen viel Ruhe. Ihre Verletzungen sind gravierend. Momentan ist Ihr Zustand stabil. Einen Rückfall können wir jedoch nicht ausschließen.»
Frustriert sackte der Kommissar in sich zusammen, konnte er sich doch nicht vorstellen, über eine Woche im Spital zu versäumen.
«Hat irgendwann irgendjemand vom Kommissariat versucht, mit mir in Kontakt zu treten?»
«Nein, nichts. Sie sind krankgeschrieben. Die Polizei wurde informiert. Klingt komisch, der Satz. Finden Sie nicht auch?»
Es dauerte, bis Tagliabue diesen Schock verdaut hatte. Das Menü rührte er nicht an. Lieber litt er Hunger, als dass er sich über lieblos gekochtes und angerichtetes Essen aufregte. Und die Verpflegung in Spitälern und Heimen, im Militär und im Kommissariat gehörte für ihn in jene Kategorie. Er drehte sich weg, um das verkochte Gemüse, das klebrige Kartoffelpüree und den Fleischvogel in viel zu viel klumpiger Bratensauce nicht mehr ansehen zu müssen. Der Versuch, seinen Geruchssinn auszublenden, strengte ihn dermaßen an, dass er schnell einschlief.
Als der Ermittler aufwachte, war es im Zimmer nicht mehr künstlich hell. Das Licht floss von draußen in den Raum. Das unberührte Essen war weggeräumt, frisch gebrühter Tee half über den quälenden Durst, den beißenden Hunger hinweg. Er hatte jede zeitliche Orientierung verloren. Die Monitore zeigten vieles an, nur die Datums- oder die Zeitangabe konnte er nicht finden. Er wusste ohnehin, dass es an der Zeit war.
Auf dem Weg zur Tramstation gingen ihm die Leute aus dem Weg, um sich umzudrehen und ihm hinterherzustarren, kaum waren sie an ihm vorbeigegangen.
Anstelle des grünen, hinten offenen Nachthemds trug Tagliabue wieder seine zerrissenen und zerschnittenen, blutverklebten und dreckverschmierten Kleider. Um alle Fragen im Keim zu ersticken, hatte er sich einen Ärztekittel übergeworfen, den er en passant hatte mitlaufen lassen. Er war erstaunt gewesen, dass das Stück weißer Stoff die Wirkung immer noch nicht verfehlte, während der Respekt vor einer Polizeiuniform während der vergangenen Jahre stetig und massiv abgenommen hatte.
Trotz erstaunter Blicke und Getuschel hinter dem Rücken hatte er den Ausgang unbehelligt erreicht und war auf die Straße getreten.
Jetzt hatte er Angst, entdeckt und ins Spital zurückgeschafft zu werden. Seine Verkrampfung löste sich erst, als das abgefahren geglaubte Tram in die Haltestelle einfuhr. Als Erster stieg der flüchtige Patient in die Komposition.
Vergebens suchte er nach der aktuellen Morgenausgabe der Gratiszeitung, fand nur leere Blechdispenser. Als Kompensation zu den fehlenden Gratisblättern weckte die hängende Werbung für ein revolutionäres Aknemittel seine Aufmerksamkeit. «Wie siehst denn du heute aus?» war als Headline zu lesen. Weil er sich diese Frage im Laufe des Tages ebenfalls mehrfach gestellt hatte, blickte er in die Silberfolie, die als Spiegel diente.
Was er sah, erschreckte ihn und erklärte, warum ihm die Leute auf der Straße aus dem Weg gingen. Da die Schmerzen von den Medikamenten übertüncht worden waren, hatte er sein gewohntes Auftreten vorausgesetzt. In Tat und Wahrheit sah er bedauernswert aus: Anstelle der Augenbrauen standen die noch nicht gezogenen Fäden in alle Richtungen. Die Schürfungen im Gesicht waren noch nicht ganz verheilt. Seine Nase war geschwollen, die Augen blutunterlaufen, die Haut schwarz-violett-blau-grün verfärbt. Vereinzelte weiße Pflaster mit getrockneten Blutspuren bildeten einen spannenden Kontrast zu dieser Farbenvielfalt. Die vor Kurzem geplatzten Lippen waren zwar wieder zusammengewachsen, aber noch ziemlich aufgeblasen. Er konnte sich nicht vom Spiegelbild lösen, das gar nichts mehr mit ihm zu tun hatte. Fasziniert und erschrocken blieb er stehen. Was bei den Mitpassagieren den Eindruck erweckte, dass der arme Spinner im Ärztekittel nicht nur physisch, sondern auch geistig völlig abgewirtschaftet war.
Der Ermittler merkte, dass er die Beine über eine Woche nicht bewegt hatte, das ständige Ausgleichen der Vor-, Seit- und Rückwärtsbewegungen des Trams kostete ihn viel Kraft. Er setzte sich und sah an sich herab. Bis auf die eleganten italienischen, nur leicht verschmutzten Schuhe sah seine Kleidung erbärmlich aus. In Kombination mit seinem übel zugerichteten Körper und Kopf ähnelte er den Untoten aus Michael Jacksons Thriller – mit der Ausnahme, dass dem Kommissar nicht nach Tanzen und Singen zumute war, obwohl er als ganz passabler Tänzer galt.
Nachdem sich die Tram nach und nach geleert hatte, stieg der flüchtige Patient als letzter Fahrgast an der Endstation aus. Im Vorbeigehen machte er sich einen Spaß daraus, die Fahrerin durch sein Auftauchen am rechten Seitenfenster zu erschrecken. Aber selbst diese Aktion raubte ihm mehr Energie, als er gedacht hatte.