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Beim Aufwachen fehlte ihm die örtliche und zeitliche Orientierung. Nachdem der erste Punkt rasch geklärt war, richtete er sich auf, um in den zerrissenen, schmutzigen Hosen nach dem Smartphone zu suchen. War ihm das Aufsetzen schon schwergefallen, bereitete ihm das Aufstehen noch mehr Mühe. Sich abstützend, schleppte er sich durch das Gartenhäuschen.

Trotz mehreren Durchgängen war die Suche nicht von Erfolg gekrönt. Das führte ihn zurück auf das Sofa und dazu, die Suchaktion mental fortzusetzen. Rasch hatte er das Rätsel des vermissten iPhones gelöst. Dass er folglich weder geortet noch kontaktiert werden konnte, tröstete ihn über den Verlust hinweg.

Ohne sich an den Überfall erinnern zu können, versuchte er herauszufinden, was oder wer hinter den Ereignissen der besagten Nacht steckte. Für ihn war klar, dass die Erklärung nicht in einem gewonnenen oder verlorenen Derby lag.

Bei seiner Analyse versuchte er, Lüthis Aufforderung zu folgen und sich nicht nur auf Krämer und Schläfli zu konzentrieren. Nachdem er alle in Frage kommenden Personen durchgegangen war, fiel ihm auf, dass er einen Protagonisten vergessen hatte: Deubelbeiss. Je länger der Kommissar sich mit dem neuen Assistenten auseinandersetzte, desto mehr ärgerte er sich, dass er diesem gegenüber nicht vorsichtig genug, sondern viel zu offen, zu fahr- und nachlässig gewesen war.

Er ließ seine Begegnungen mit Deubelbeiss Kapitel für Kapitel Revue passieren. Dabei war er nie sicher, ob die Erinnerung ihm nicht gewisse Sachverhalte verschwieg.

Ihm fiel ein, wie dieser sich im Büro an seinem PC zu schaffen gemacht hatte. War es nicht möglich, dass der Untergebene ihm ein Virus oder sowas – was wusste er denn von diesen Dingen? – auf den PC gepflanzt hatte, um jeden seiner Schritte zu kontrollieren? Danach hatte sich der Assistent in Krämers Agenda eingeloggt, um den Termin zu fixieren. Auch das Auto war auf diese Art und Weise gebucht worden. Dass dann der Spurensicherer aufgetaucht war, verstärkte sein Misstrauen und seinen Glauben an eine niederträchtige Verschwörung. Was, wenn Deubelbeiss gar keinen Termin mit Krämer vereinbart, sondern ihn zur GammaG geschickt und ihm die Schläger auf den Hals gehetzt hatte? Vielleicht waren die Informationen zu den Bankgeschäften zwischen Schläfli und Krämer erfunden, um ihn in eine Falle zu locken. Wenn Deubelbeiss so gerissen war, die Spezialisten der Polizei an der Nase herumzuführen, warum war es dann Krämers Leuten gelungen, die Cyber-Attacken bei ihm zu lokalisieren? Dass sein Assistent der Neffe des neuen Chefs war und ihm von diesem einfach so zur Seite gestellt wurde, machte ihn noch stutziger.

Tagliabue nahm sich vor, vorsichtiger zu sein. Mehr konnte er zurzeit nicht machen. Er schlief ein.

Schmerzen am ganzen Körper weckten ihn. Die Medikamente hatten mittlerweile ihre Wirkung verloren. Immerhin nahm er sich wieder bewusst wahr. Was dazu führte, dass er sich der Kleider entledigte, um all den Schmutz mit einem Lumpen und Wasser wegzuwaschen. Dabei tat ihm jede Bewegung, jeder Kontakt mit seinem Körper weh. Nachdem er sich äußerst vorsichtig trockengetupft hatte, nahm er die letzten Kleider seines Notvorrats aus dem Schrank, zog sich langsam an. Das gab ihm ein neues, aber nicht sein altes Selbstwertgefühl.

Nach rund einer Woche mit frischem Gemüse aus Nachbars Garten, Konserven, viel Schlaf und Ruhe machte sich der Kommissar bereit fürs Comeback im Kommissariat.

Einigermassen erholt und fast vollständig genesen, traf er auf seinen Assistenten, der nicht überrascht schien.

«Schön, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?», hörte er Deubelbeiss sagen.

«Danke der Nachfrage. Aber Sie brauchen kein Interesse zu heucheln. Sie hätten mich im Spital besuchen können.»

«Ich habe Ihnen etliche SMS und E-Mails geschickt, um mich nach Ihnen zu erkundigen. Ich habe mich um Sie gesorgt und keine Antwort erhalten. Was auch nicht verwundert hat, wenn man Sie kennt. Erst als Ihr Smartphone vergangenen Freitag bei uns abgeliefert wurde, habe ich meine Schreiberei aufgegeben. Das Gerät liegt übrigens auf Ihrem Pult. Ich hätte es sehr gern für Sie aufgeladen, habe aber kein Kabel für dieses alte Modell gefunden.»

Tagliabue ging zum Schreibtisch und steckte das Telefon ein. «Ergebnisse von der Spurensicherung?»

Der Assistent war auf die Frage vorbereitet. «Seit Dienstag vorletzter Woche.»

«Der Tag, an dem ich überfallen wurde?»

Deubelbeiss war angehalten worden, den Vorgesetzten nicht aufzuregen, und nickte kaum wahrnehmbar.

«Warum nur, porca miseria, wurde ich nicht informiert? Dann hätte ich den Ausflug zu Krämer platzen lassen, und es hätte keinen Streit mit Schläppi gegeben. Und mein Abend hätte nicht in diesem Spital-‍, sondern im eigenen oder in einem anderen Bett geendet.»

«Wieso Streit?»

Im Kommissar stiegen Zweifel hoch: «Sie haben doch den Boliden von seinem auf meinen Namen umgebucht.»

«Sicher habe ich das gemacht: Ich habe mich ins System eingeloggt, um diese Umbuchung rasch vorzunehmen. Aber sicher nicht, ohne Schläppi vorher zu informieren und zu fragen, ob das für ihn in Ordnung sei. Er hat, ohne zu zögern, zugestimmt. Was mich aufgrund ihres angespannten Verhältnisses überrascht hat. Aber nicht nur das», fuhr der Jüngere fort, «da Schläppi wusste, dass Sie das Auto übernehmen und wo Sie es holen würden, hat er sich auch bereit erklärt, Ihnen die Resultate der Spurensicherung vor Ort persönlich zu übergeben, um keine Zeit mehr zu verlieren und Dr. Huber vorläufig zufrieden zu stellen.»

Langsam dämmerte es dem Kommissar. «Schläppi und seine Kollegen haben sich viel Zeit gelassen. Da liegt Huber ganz richtig, obschon er von der Sache an und für sich auch nicht den leisesten Schimmer hat. Wo befinden sich die Ergebnisse jetzt?», grummelte er.

«Nachdem eine persönliche Übergabe missglückt war, hat Schläppi seinen Bericht hergebracht.» Deubelbeiss wurde unsicher: «Huber hat mir den Auftrag gegeben, Ihnen die Dokumente ins Spital zu schicken. Er meinte, dort hätten Sie genug Zeit, um die Ergebnisse der Spurensicherung zu studieren und Ihre Schlüsse zu ziehen. Ist das Dossier nicht angekommen? Vielleicht gab es medizinische Gründe, Ihnen keine Post zuzustellen.»

Für Tagliabue lag es auf der Hand, dass ihn die Dokumente nach seiner vorzeitigen Selbstentlassung nicht mehr im Krankenhaus erreicht hatten. Sie waren vermutlich an seine Privatadresse weitergeleitet worden. Wo sie seitdem im Briefkasten lagen, während er sich in seinem Schrebergartenhäuschen erholt hatte. «Macht gar nichts», wiegelte und winkte er ab, lehnte sich zurück, um die Flexibilität des Bürostuhls zu testen. «Sie haben sicher eine Kopie gemacht, bevor sie die Unterlagen weitergeschickt haben. Nicht wahr?» Der Assistent errötete. Der Kommissar merkte, wie sein Zorn wuchs. Ein ärztlich verordnetes «Keine Aufregung!» sah anders aus. «Das heißt, dass der Bericht im dümmsten Fall verloren ist?»

«Wie kommen Sie denn auf diese Idee?», wunderte sich der Jüngere. «Die Spurensicherung hat noch ein Exemplar, auf das wir zurückgreifen können.»

«Wenn wir sie anrufen, um die Unterlagen noch einmal zu verlangen, wird sich Schläppi ins Fäustchen lachen und sofort allen davon erzählen, dass der liebe Tagliabue unter akutem Dokumentenschwund leidet und dass die seltene Krankheit trotz langem Spitalaufenthalt nicht geheilt wurde. Und Ihr Onkel wird den Druck ebenfalls erhöhen. Da wir schon dabei sind: Haben Sie auch davon gehört, dass Ihr Onkel uns den Fall Schläfli wegnehmen wollte?»

«Nein.» Deubelbeiss’ Erstaunen schien echt. «Was oder wer hätte ihn von der Idee abgebracht? So wie ich ihn kenne, ist er nicht leicht umzustimmen. Da muss etwas ganz Außergewöhnliches vorgefallen sein.»

Der Kommissar grinste: «Haben Sie den Bericht gelesen, bevor Sie ihn abgeschickt haben?»

«Danach wäre ja kaum möglich gewesen.» Der Assistent merkte, dass er mit dem Feuer spielte: «Ja.»

«Und?»

«Was und?», trieb es Deubelbeiss wieder Richtung Spitze.

Überraschend einfach gelang es dem Vorgesetzten, ruhig zu bleiben: «Was hat die Spurensicherung festgestellt? Können Sie sich erinnern? Oder ist Ihre Festplatte zu voll, um sich die wirklich relevanten Dinge zu merken?»

«Meine Anerkennung: Sie lernen schnell – wenigstens Ihre technischen Defizite lassen sich eliminieren», konterte der Jüngere.

«Vielleicht», lenkte der Kommissar ein, «sollten wir uns nicht gegenseitig blockieren, sondern den Versuch wagen, gemeinsam vorwärtszukommen.»

«Ich habe den ganzen Bericht gelesen, obschon er an Sie adressiert war. Er war mit ‹nur für dienstlichen Gebrauch› beschriftet. Da ich Ihr offizieller Stellvertreter bin, habe ich mir gedacht ...»

«Versuchen Sie nichts Neues. Erzählen Sie schon!»

«Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vieles werden Sie schon kennen. Ich möchte Sie nicht überfordern. Sie nicht vollspammen.»

Vorsichtig schüttelte Tagliabue den Kopf: «Machen Sie sich nicht meine Sorgen. Legen Sie los – dann wissen wir, ob sich meine Erinnerungen mit Ihren decken.»

«Die Kollegen der Spurensicherung trafen als Erste in Schläflis Anwesen ein. Das Tor zur Auffahrt stand offen, die Putzfrau erwartete die Beamten schon an der Haustür. Sie hatte die Polizei sofort alarmiert, nachdem sie den Hausherrn erhängt vorgefunden hatte. Davor war sie ihrer Arbeit im Haus nachgegangen. Details zu Frau Pinto waren im Dossier nicht zu finden. Aber Sie», musterte er den Vorgesetzten, «haben sich mit María unterhalten. Wo ist Ihr Protokoll? Schreiben Sie eine Zusammenfassung, wenn Sie die Dame das nächste Mal treffen?» Je länger, desto mehr gefiel dem Kommissar die Option, nicht jedem auf alles antworten zu müssen. Gleichzeitig beunruhigte ihn die Tatsache, dass er nicht wusste, was er Deubelbeiss alles erzählt hatte.

«Die Putze», fixierte der Jüngere den Chef, «begleitete die Spurensicherer zum Tatort, zog sich zurück und blieb nachher unauffindbar.»

«Vielleicht hat ihr keiner mitgeteilt, dass sie sich zu unserer ständigen Verfügung halten musste.»

Mit einem Lächeln quittierte Deubelbeiss diesen Versuch einer Erklärung: «Wie dem auch sei. Außer im Zimmer mit Schläfli wurden keine verwertbaren Spuren gefunden. Die Putzfrau hat ganze Arbeit geleistet und alles gründlich weggefegt und -gescheuert. In einer Villa, die schon in perfektem Zustand war. Als hätte sie etwas zu vertuschen gehabt. Im ganzen Haus sind lediglich Hinweise auf Schläflis und mutmaßlich ihre Anwesenheit zu finden. Außer am Heizungsregler. Da wurden Fingerabdrücke einer weiteren Person gefunden, die aber nicht im System erfasst sind. Da wir beim Thema sind», er sah zum Vorgesetzten, «warum haben Sie Frau Pinto beim Vorsprechen im Kommissariat nicht gleich noch die Fingerabdrücke abnehmen lassen? Damit hätten wir verifizieren können, dass ein Großteil der Spuren in der Villa von ihr stammt.»

«Ich kann mich nicht mehr erinnern», nutzte Tagliabue die möglichen Folgen des nächtlichen Überfalls zu seinen Gunsten.

«Kein Problem», schlug Deubelbeiss einen versöhnlicheren Ton an, «das lässt sich beim nächsten Besuch von Frau Pinto nachholen. Sie hat sich übrigens erkundigt, ob noch ein Treffen mit Ihnen stattfinden muss. Ich habe ihr gesagt, dass Sie sich nach Ihrer Rückkehr bei ihr melden.»

«Herzlichen Dank. Ich rufe gleich morgen an. Nun fahren Sie schon fort mit Ihren Erinnerungen an den Bericht der Spurensicherung.»

«Als die Kollegen in Schläflis Haus kamen, fiel ihnen sofort die ungewöhnliche Hitze in den Räumen auf. Draußen war es, wie im Spätsommer häufig der Fall, recht warm, die meisten Fenster waren verdunkelt. Entweder», kam der Assistent der nächsten Frage seines Chefs zuvor, «sollten Ein- und Ausblicke verhindert werden. Oder das Innere sollte vor der Sonneneinstrahlung geschützt werden. Das ergibt allerdings keinen Sinn, wenn gleichzeitig die Fußbodenheizung, wieso auch immer, auf Maximalbetrieb gestellt ist.» Deubelbeiss legte eine kurze Pause ein. «Wir haben beim Sanitärinstallateur nachgefragt, ob die Anlage in der Vergangenheit öfter Probleme gemacht hat. Urs Mast der Firma Roggenmoser, Mast und Partner GmbH, wusste nichts von Fehlern. Er sei schon lange nicht mehr zu Wartungsarbeiten bestellt worden. Am Telefon meinte er erst, dass Schläfli eventuell einen Mitbewerber beauftragt haben könnte, um die in die Jahre gekommene Heizung, so gut es ging, in Betrieb zu halten. Er erinnerte sich auch noch, dass er vor ein paar Jahren eine Offerte für die Installation eines neuen Fabrikats erstellt hatte. Obwohl er nie eine Antwort erhalten hat, konnten wir ihn überzeugen, sofort zur Villa zu kommen, um sich die Anlage genau anzusehen. Er stellte fest, dass es sich nach wie vor um dieselbe alte Ölheizung handelte, und schien beruhigt, dass kein Konkurrent zum Zuge gekommen war. Er bemerkte, dass die Temperatur manuell auf die maximale Leistung erhöht worden war. Der zentrale Regler sei komplett verhockt und nur mit viel Kraft zu bewegen gewesen – keine Ahnung, woher der das wissen will.»

«Die Fingerabdrücke», fiel Tagliabue in die gemurmelten Überlegungen des Assistenten.

«Ja, wie erwähnt, nicht zuzuordnen. Von Schläfli selbst übrigens überhaupt keine Spuren da unten. Der scheint sich nicht um die Heiztechnik gekümmert zu haben. Dafür hatte er ja schließlich sein mies bezahltes Personal.»

«Wie kommen Sie auf die Idee?»

«Dass das Personal dafür zuständig war?»

«Nein. Wie kommen Sie zu dem Schluss, dass die Angestellten schlecht entgolten wurden? Haben Sie wieder in Schläflis Angelegenheiten herumgeschnüffelt?»

«Nein. Befehl bleibt doch Befehl», treuherzig schaute der Assistent ins Gesicht seines Chefs, «nur eine Vermutung, männliche Intuition.»

Der Kommissar grinste und forderte ihn auf fortzufahren.

«Wie Sie vom Pathologen erfahren haben, starb Schläfli einen jämmerlichen Erstickungstod, da es nicht zum Genickbruch kam. Die Tat- und Todeszeit sind wegen der ungewöhnlich hohen Zimmertemperatur nicht mehr präzise zu bestimmen – er hing wahrscheinlich schon eine ganze Weile, bevor er entdeckt wurde.»

«Diese Innentemperatur», überlegte der Kommissar, «haben wir eine Ahnung, wie lange es dauert, um diesen Wert zu erreichen?»

«Wir haben keine Vorstellung, wie warm es im Haus war, bevor die Heizung aufgedreht wurde. Und», zögerte der Assistent, «die Spurensicherer haben es nicht für nötig erachtet, die Raumtemperatur zu messen. Daran hat niemand der am Tatort Anwesenden gedacht. Es war einfach sehr heiß ...»

«Was ist mit dem Strick?», unterbrach der Ermittler ungeduldig.

«Es handelt sich um ein relativ teures Baumwollseil mit einer Seele. So heißt der synthetische Kern. Dieser verhindert, dass sich Knoten zu stark zusammenziehen. Acht Meter Länge, offenbar schon vorher auf die Länge zugeschnitten. Zehn Millimeter Durchmesser, sechzehnfach geflochten. Solche Seile können in jedem Hobby-Center oder im Internet gekauft werden. Spannend ist die Tatsache, dass das Seil schon mehrmals stark belastet wurde. Die Untersuchungen zeigen zum Teil starke Dehnungen. Sogar in Bereichen des Seils, auf die der Unfall keinen Einfluss gehabt hat.»

Tagliabue wunderte sich über die vielen Details, an die sich der Assistent ohne technische Hilfe erinnerte.

«Noch etwas», referierte Deubelbeiss weiter, «die Kollegen haben in den Baumwollfasern Gewebespuren gefunden. Das nicht nur in dem Abschnitt, der sich in den Hals eingegraben hat, sondern auf dem ganzen Seil. Zudem gibt es noch andere Spuren wie Seifen, Body Lotion und so weiter. Ausnahmslos alles stammt von Schläfli persönlich beziehungsweise aus einem seiner Badezimmer. Nichts von einer anderen Person, nichts von draußen – das Seil wurde ausschließlich von ihm und nur im Innenbereich benutzt.»

«Sie wollen sagen, das Seil wurde nur an ihm benutzt?», hakte der Kommissar nach.

Nach einigen Augenblicken hatte der Assistent immer noch keine Ahnung, was der Vorgesetzte meinte.

«Sie glauben doch nicht», setzte der Alte an, «Schläfli hätte in der Villa mit sich selbst Räuber und Gendarm gespielt?» Er schüttelte den Kopf: «Und der Knoten?»

«Der Knoten?»

«Wie wurde die Schlinge gebunden?»

Der Assistent reagierte mit einer erhöhten Wipp-Frequenz der Füße und dem intensivierten Verbiss der Fingernägel.

«Selbstverständlich», dem Kommissar wurde die Situation zu blöd, «können wir auch mit dem Knoten am anderen Ende des Seils beginnen.»

Deubelbeiss stand auf, zog den angeknabberten linken Daumen aus dem Mund, um ungehindert und deutlich sprechen zu können: «Ich habe keine Ahnung.»

Damit hatte Tagliabue nicht gerechnet: «Kapieren Sie die Frage immer noch nicht? Oder erinnern Sie sich nicht an die Passage im Bericht der Spurensicherung? Wie, bitte, darf ich Ihre Ahnungslosigkeit verstehen?»

«Ich habe Ihre Frage durchaus verstanden. Ich erinnere mich genau, dass der Bericht die Machart des Knotens nicht erwähnt und auf den Fotos auch nichts zu erkennen ist. Und jetzt ist er nicht mehr da.»

«Wie bitte?» Tagliabue traute seinen Ohren nicht.

«Die Kollegen haben das Seil durchtrennt und damit auch den Knoten zerstört. Die armen Kerle mussten Schläfli zu zweit aus der misslichen Lage befreien, ihn anheben, um das Seil zu entspannen und ihn abschneiden zu können. Da kann es doch passieren, dass der Schnitt falsch angesetzt und der Knoten aufgelöst wurde. Ihn bei gespanntem Seil abzuschneiden, wäre erstens gefährlich, zweitens wäre es stil- und pietätlos gewesen, ihn einfach zu Boden fallen zu lassen. Ich weiß gar nicht: Wie wirkt sich das auf die pathologische Untersuchung aus, wenn man einem todesstarren Körper einen Schlag versetzt?» Der Assistent widmete sich wieder seinen Fingernägeln. «Wieso ist es denn wichtig, wie der Knoten geschlungen wurde?»

«Sie haben wirklich keine Ahnung. Die Art – das meine ich durchaus im Sinn von Kunst –, wie das Seil verknotet wurde, kann vieles über die Hintergründe, vielleicht das Motiv der Tat und über unseren Täter aussagen. Dass die Experten der Spurensicherung nicht besser auf das Detail geachtet haben, ist unbegreiflich und unverzeihlich.»

«Dafür haben wir ja Sie», meinte Deubelbeiss beiläufig, sein Fuß begann vor Anspannung wieder zu wippen.

«Wie meinen Sie das?» Tagliabue lehnte sich nach vorne.

«Sie, Chef, haben sich den Knoten sicher genau angesehen und können mir mit absoluter Leichtigkeit sagen, um was für eine Art es sich handelt und was wir von seiner Beschaffenheit über den Mörder und seine Motive erfahren. Habe ich recht? Sie haben den hängenden Schläfli eine Zeitlang intensiv beobachtet.»

In die Ecke gedrängt, musste sich Tagliabue sammeln: «Wegen des Überfalls kann ich mich nicht mehr an alles genau erinnern. Ich entsinne mich nur in Fragmenten an den lieben Schläfli, wie er – wie sagt ihr Jungen? – in der Villa abhängt. Ich weiß noch genau, wie das Seil am Sichtbalken befestigt worden war, während», begann er zu bluffen, «die Erinnerung an den Henkersknoten aus mir rausgeprügelt wurde. Vielleicht kehren auch die Details eines Tages wieder zurück.»

Gespannt wartete Deubelbeiss.

«Sagt Ihnen der Hondaknoten etwas?», beendete Tagliabue die Stille.

Sein Gegenüber versuchte eben, den Niednagel am linken Nagelrand des linken Zeigefingers durch einen gezielten Biss zu entfernen.

«Verdammt nochmal», verlor der Ältere die Geduld und die Fassung, «nehmen Sie endlich Ihre Finger aus dem Gesicht und hören Sie zu! Honda ist spanisch und heißt Schlinge. Der Hondaknoten wird verwendet, um ein Lasso zu knüpfen. In vorliegenden Fall hat unser Mörder ...»

«... oder unser Selbstmörder», unterbrach der Assistent und tupfte mit seinem Shirt das Blut vom malträtierten Finger.

«Unser Mörder hat das Ende des Stricks von unten um den hinteren Querbalken geschlungen und oben durch das Auge des Hondaknotens am Anfang des Seils gezogen. Damit war es verankert. Das Seil wurde nachher über den vorderen Querbalken gelegt, an dem das Todesopfer schlussendlich baumelte. Ein gut gemachter Hondaknoten verlangt einige Übung, wäre interessant zu wissen, wie der Henkersknoten ausgesehen hat.»

«So schwierig ist das nun auch nicht.» Deubelbeiss hatte sein Shirt notdürftig in die verwaschene Jeans gedrückt. «Bei den Pfadfindern haben wir den Honda oft geübt und gebraucht. Jedoch nicht unbedingt für die Befestigung am Balken. Leute haben wir auch äußerst selten aufgehängt.»

«Ihr Sarkasmus ist nicht angebracht.» Die esploratori waren für den Italienerjungen immer ein Traum geblieben. Jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag musste er zusehen, wie die Altersgenossen in olivgrünen Hemden und mit bunten Halstüchern zu ihren Abenteuern und Übungen in Wiesen und Wäldern ausrückten. Während er sich in den engen vier Wänden ihrer Wohnung verstecken musste. Bis die Eltern am Abend von ihrer Arbeit kamen und er mit jemandem ein paar Worte und Gedanken wechseln durfte, bevor sie nach dem oft kargen, immer nahrhaften Essen vor Erschöpfung in einen tiefen Schlaf fielen und ihn mit seinen Gefühlen allein ließen. «Sie waren bei den Pfadfindern?», unterbrach er die Reise in seine zeitlich weit zurückliegende, emotional jedoch nach wie vor präsente Kindheit.

«Das liegt schon so weit zurück. Habe keine guten Erinnerungen. Die vielen Leute, diese militärische Organisation und die Hierarchien. Zum Glück ist mir wenigstens die Rekrutenschule und der ganze Schwachsinn, der damit einhergeht, erspart geblieben.»

Tagliabue fragte sich, warum sich Deubelbeiss trotzdem für die Arbeit bei der Polizei entschieden hatte. Und er wunderte sich noch mehr, dass der Assistent diesen Job erhalten hatte, war doch der absolvierte Militärdienst, soviel er wusste, eine der Grundvoraussetzungen für den Eintritt in die Polizeischule. Er beschloss, beides mit dessen enger Verbindung zum neuen Kommandanten zu erklären.

«Warum beharren Sie so darauf, dass es ein Mord und kein Suizid war?» Der Assistent lehnte sich im Stuhl zurück.

«Da ist einmal die Aussage von Friedrich Frischknecht, dem Pathologen. Sie kennen den Bericht. Sie hatten genug Zeit, um alles im Detail zu lesen und zu studieren. Dann ist da meine Intuition, das Gefühl, das mir sagt, dass es zur Tatzeit noch jemanden am Tatort gegeben hat. Und dann ist da der Stuhl.»

«Der Stuhl?» Deubelbeiss beugte sich mit aufgerissenen Augen wieder nach vorn, als ob er im Nachhinein etwas erkennen könnte, das ihm bislang entgangen war. Dass er dabei die Hände versteckte und seine beiden Arme eng an den Körper anlegte, ließ ihn wie einen Wasserspeier an einer gotischen Kathedrale aussehen.

«Genau: der Stuhl. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass er viel zu weit von Schläfli entfernt stand?»

«Und wenn jemand den Stuhl verschoben hat? Zum Beispiel die Putzfrau, als sie den Toten entdeckte?»

Der Ältere stand auf und bewegte sich, ohne ihn aus den Augen zu verlieren, langsam auf den jüngeren Kollegen zu und baute sich vor diesem auf. Er beugte sich nach vorn, um sich auf den Armlehnen des Bürostuhls abzustützen. Er näherte sich Deubelbeiss so weit, dass er den Atem des Untergebenen spüren konnte.

«Da tippe ich noch eher auf die Experten», er begleitete das Wort mit einem Lächeln, «der Spurensicherung als auf eine pingelige Haushälterin. Die stand so unter Schock, dass sie gar nicht daran dachte, etwas zurechtzurücken. Was hätte sie für ein Motiv gehabt? Sie ist mit Schläfli eine der wenigen Verliererinnen». Er setzte sich zwanglos auf Deubelbeiss’ Bürotisch. «Außerdem gab es im Teppich keine Abdrücke von einem – wie anzunehmen ist –mit gut achtzig Kilo belasteten Stuhl. Dafür haben wir die Flüssigkeit im Teppich. Darauf kann ich mir keinen Reim machen. Sie etwa?»

«Weil wir nicht wissen, wie lange die Heizung aufgedreht war, haben wir keine Ahnung, wie viel Wasser verdunstet ist. Aber die Kollegen», der Assistent sah ihn vorsichtig an, «der Spurensicherung haben das nasse Stück des Teppichs rausgeschnitten. Im Labor wurde der Fetzen auf eine Waage gelegt und mit einem gleich großen trockenen Teil verglichen.»

«Schlau. Und, was haben die Kollegen rausgefunden?»

«Der Vergleich hat ergeben, dass der Teppich unter Schläfli vierhundertachtundneunzig Gramm schwerer war. Das ist fast ein halber Kubikdezimeter oder eine halbe Packung Milch.»

«Ich trinke keine Milch.»

«Die Frage bleibt: Wie kam diese Flüssigkeit dorthin?» Deubelbeiss hatte sein Selbstvertrauen wiedererlangt, um unbeirrt fortzufahren: «Das Labor hat null Harnstoffe entdeckt, und an der Hose wären zumindest noch Feuchtigkeitsränder zu erkennen gewesen.»

Der Kommissar versuchte vergeblich, sich einen Reim auf die Erklärungen des Assistenten zu machen, und forderte diesen mit einer Handbewegung auf weiterzusprechen.

«Die Experten haben vor allem Wasser und Elemente, die von der Teppichreinigung stammen, nachgewiesen. Zugleich gab es organische Teile, wie Sporen und Samen, die wohl beim Lüften oder mit den Schuhen von draußen in die gute Stube getragen wurden. Sie blieben im Teppich hängen und leisteten den Putzversuchen von Frau Pinto erfolgreich Widerstand.»

«Das ergibt Sinn, erklärt aber noch nicht die Frage nach dem Ursprung der Flüssigkeit. Ich erinnere mich schwach daran, dass noch weitere Abklärungen zu den organischen Stoffen am Laufen sind.»

«Ein Rätsel.»

«Wer viele Menschen kennt, kennt viele Rätsel», gab der Kommissar zum Besten. «Wie der zu weit entfernte Stuhl spricht auch die schwarze Binde für die Anwesenheit einer zweiten, eventuell dritten Person am Tatort. Und damit für die Möglichkeit eines Mordes.»

Der Gesichtsausdruck des Assistenten verriet, dass er den Ausführungen nicht folgen konnte.

«Der Obduktionsbericht erwähnt schwarze Textilfasern in den Augenbrauen und an den Wimpern des Opfers. Aber als Schläfli gefunden wurde, bedeckte die passende Binde die Augen nicht. Sie hing weiter unten um den Hals.»

Deubelbeiss reagierte nicht sofort. Er schien intensiv mit der Rekonstruktion des Tathergangs beschäftigt: «Ist es denn möglich, dass sich Schläfli das Tuch angesichts des nahenden Todes in Panik selbst heruntergerissen hat? Zeit hätte er gehabt.»

«Gut überlegt», nickte Tagliabue. «Meiner Ansicht nach spricht jedoch einiges dagegen, dass sich das Opfer das schwarze Tuch selbst von den Augen gezogen hat: Erstens wurde die Binde scheinbar fein säuberlich platziert. In Panik und Todeskampf hätte Schläfli wohl keinen Wert auf diesen Aspekt gelegt. Zweitens: An den Händen, den Fingern und Nägeln sind keinerlei Fasern der Augenbinde nachzuweisen. Das weist ebenfalls darauf hin, dass weitere Personen an Schläflis Tod beteiligt waren, um den Begriff ‹Mord› nicht in den Mund zu nehmen. Fertig für heute. Gehen Sie schon nach Hause, sofern Sie so etwas kennen.»

Der Ältere setzte sich in den Stuhl und beobachtete, wie der Jüngere das Büro verließ.

Tagliabue startete den PC. Er hatte sich fest vorgenommen, mehr über die neuesten Technologien zu erfahren. Und über den ihm zugeteilten Assistenten.

Sein Bildschirm zeigte noch nichts an, da hörte er, wie die Klinke sachte nach unten gedrückt wurde. Er zog die Schublade auf und tastete nach der Dienstwaffe. Die Tür ging auf: «Fast hätte ich es vergessen, obwohl ich nichts auf den Kopf gekriegt habe: Die Putze wartet auf Ihren Anruf, um ihr nächstes Tête-à-Tête abzumachen. Und noch etwas: Wenn Sie den Bildschirm nicht mit der Taste links unten aktivieren, können Sie noch lange warten, bis Sie etwas erkennen ...»

Tagliabue hatte sich einen Hefter gegriffen. Der flog jetzt sehr knapp an Deubelbeiss’ Kopf vorbei, prallte an die Wand und spie eine Metallklammer aus.

Die Tür wurde schneller geschlossen, als sie geöffnet worden war.

Zwei Stunden später hatte der Ermittler viel erfahren und dazugelernt. Sein Kopf schmerzte. Und er wusste nicht, ob dies von der ungewohnten, bisher ungeliebten Arbeit am Bildschirm oder noch vom Überfall herrührte. Ohne sich abzumelden, zog er dem Computer den Stecker, stand auf, ging zur Tür und schloss das Büro ab.

Müde trat er aus dem Präsidium, mischte sich unter die Menschenmasse. Vorsichtig vermied er jede Konfrontation oder Kollision, begann sich im Strom nicht besser, aber sicherer zu fühlen. Dennoch suchte er regelmäßig nach einer Nische, in der er sich dem Sog nach vorn entziehen und einen Kontrollblick nach hinten werfen konnte.

Als er im Notausgang eines Nachtclubs stand, um sich die aktuelle Übersicht zu verschaffen, entdeckte er hinter dem Fenster eines gegenüberliegenden Restaurants seinen Vater.

Papà war nicht nur älter, sondern alt und noch kleiner geworden, wirkte eingefallen, eingebrochen. Er hockte allein auf dem Stuhl und beobachtete vor einem leeren Glas sitzend die Passanten, die keine Notiz von ihm oder seinem Beitrag für die Gesellschaft genommen hatten und nie nehmen würden. Das resignierte Lächeln schien auf dem Gesicht eingefroren. Der Kommissar dachte kurz daran, zu papà hinüberzugehen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Um einmal nicht über die Dinge zu reden, die sie trennten, sondern über jene, die sie verbanden. Er lotete den Weg quer durch die Masse aus, beobachtete dabei, wie sein Vater sich gemächlich erhob. Jetzt musste der Sohn sich sputen, um das unvorhergesehene Treffen zu realisieren. Kaum hatte er sich durch die von allen Richtungen auf ihn zuströmenden Menschen gekämpft, blieb er stehen, was böse Kommentare der gestressten Passanten provozierte. Er sah, wie sich der Vater einer Frau zuwandte, die zu seinem Tisch getreten war.

Papà küsste die ihm hingestreckte Hand und wartete, wie die nicht nur für ihr Alter äußerst attraktive Frau ihm gegenüber geschmeidig Platz genommen hatte. Die zwei begannen ein angeregtes Gespräch. Dabei sah der Beobachter eine Ausgelassenheit, Unbeschwertheit und Fröhlichkeit, wie er sie im Zusammenleben seiner Eltern nie wahrgenommen hatte. Tagliabue führte dies nicht auf Mutter oder Vater zurück. Sondern auf die Umstände, in denen sie sich täglich bewegen mussten und die keine anderen Gefühle als Heimweh, Existenzangst und Ermattung zuließen. Aber wie es schien, hatte der Vater diese Ära hinter sich gelassen und nicht nur im Club der Italiener Anschluss gefunden. Im Gegensatz zu Salvatore, seinem beispielhaft integrierten Sohn, der den einzigen Freund vor vierzig Jahren verloren hatte.

Damals waren Claudio und er mit ihren Eltern aus Italien in die Schweiz gekommen. Hier hatten die Eltern zwar Arbeit, aber keine neue Heimat gefunden. Die Knaben teilten die Nachmittage, ihre Spielsachen und ihre Sehnsucht nach Abenteuern außerhalb ihrer vier Wände, in denen sie sich abwechselnd trafen.

Für Emilia, ein weiteres Italienerkind in ihrer Umgebung, gab es nicht mal bei ihnen einen Platz. Nicht nur, weil sie ein Mädchen war. Vor allem darum, weil sie aus dem noch tieferen Süden stammte. Deshalb hatten die ragazzi bloß in der Schule flüchtigen Kontakt mit der ragazza.

Jahre später traf Tagliabue die erwachsene Frau: Emilia hatte die Dolmetscherschule mit Bestnoten abgeschlossen, war in die Verwaltung gewechselt, ihre Kinder schon gross, angepasst und erfolgreich. Sie arbeitete inzwischen als Medienverantwortliche in einem Amt. Beim Gespräch, in dem sie meist über sich redete, fragte sich Salvatore, ob ihr mehr als latentes Minderwertigkeitsgefühl in ihrer Herkunft wurzelte. Er grübelte, was sie selbst als erwachsene Frau noch dazu bewegte, schweizerischer als jeder Schweizer sein zu wollen, wonach sie beinahe krankhaft strebte, und wem gegenüber, außer vielleicht sich selbst, sie noch etwas zu beweisen hatte. Um nicht mit ihren Ursprüngen konfrontiert zu werden, hatte sie sogar den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, die als gemachte Leute in die Stiefelspitze zurückkehrten und seither auf den Besuch ihrer verlorenen Tochter warteten.

Dies ganz im Gegensatz zu Claudios Vater: Der war eines frostigen Tages im langen Winter nicht von der Arbeit heimgekommen. Aus Verzweiflung hatte er sich vor einen TEE-Zug geworfen – seine Frau musste sich eine noch winzigere Wohnung suchen und mit ihrem Sohn in eine neue Stadt ziehen.

Jahre später hatten Claudio und Salvatore ein Treffen vereinbart, um die verflossenen Zeiten aufleben zu lassen. Der Versuch scheiterte kläglich, weil sie nicht mehr das gleiche Schicksal teilten. Der andere hatte schon früher gewisse zeichnerische Fähigkeiten gezeigt und sich selbst zum Grafiker ernannt. Sein zu wenig ausgeprägtes Talent konnte er aber nicht überspielen: Er schaffte den Sprung in die Stadt zu einer der vielen renommierten Kreativagenturen nie und landete bei einem Verlag in einem Kaff im Hinterland. Dabei neigte er zu einer massiven Selbstüberschätzung, gepaart mit einer Arroganz, die eine distanzierte Auseinandersetzung mit sich, seinen Ursprüngen und seinen aktuellen Umständen verunmöglichte.

Auch das Treffen mit Totò bestärkte ihn in der Annahme, dass er es schon weit gebracht hatte, während der andere in der Polizeischule noch darauf vorbereitet wurde, den Verkehr zu regeln und Parkbußen unter Scheibenwischer zu klemmen.

Claudio Gajerini hatte seine Geringschätzung mit jedem Satz, mit jeder Geste und jeder Miene unverhohlen zum Ausdruck gebracht. Was dazu führte, dass das Wiedersehen unter den zwei ehemaligen Freunden rasch für beendet erklärt wurde und sich ihre Wege erneut trennten. Einige Zeit später fand Salvatore bei seinen Recherchen heraus, dass sein Jugendfreund mit einigen Partnern eine Firma in den Sand gesetzt, die Investoren um ihren Einsatz und seine eigene Mutter um die hart verdiente Rente, die ihr in ihrer Heimat ein sorgenfreies Alter garantiert hätte, geprellt hatte.

Trotz der Menschenmenge um ihn herum und nur ein paar Meter vom Vater distanziert, fühlte sich der Kommissar wie damals allein. Er mengte sich wieder unter die Masse und ließ sich langsam in Richtung seiner Wohnung treiben. Er sehnte sich nach Ruhe, nach Für-sich-Sein – mangels Alternativen blieb ihm gar nichts anderes übrig.

Als er ins Treppenhaus trat, spürte er die Anwesenheit einer Person, die nicht gesehen, nicht gehört oder sonst wie bemerkt werden wollte. Er wartete, bis das Licht erlosch. So leise wie möglich stieg er Stufe für Stufe nach oben. Die Bedächtigkeit verlieh ihm die Möglichkeit, noch etwas gründlicher über seine Taktik nachzudenken. Sehr schnell stellte er fest, dass in der Dunkelheit alle Vorteile bei dem eventuellen Angreifer lagen. Eine Tatsache, die er vor Jahrzehnten in seiner Ausbildung gelernt hatte. Eine Erfahrung, die er vor Kurzem in einer Unterführung auf schmerzhafte Weise gemacht hatte. Und da das Knarren der Treppe eine leise Annäherung sowieso verunmöglichte, beschloss er, sich zum nächsten Schalter zu stehlen, um das Treppenlicht in Gang zu setzen.

Nachdem seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt und er sich etwas beruhigt hatte, nahm er die Fernsehgeräte der Nachbarn aus der ersten Etage wahr. Seine Sinne waren so geschärft, dass er die minimale zeitliche Verschiebung im Kommentar des Aviatik-Experten hörte: Offenbar lief in mindestens zwei Wohnungen derselbe Sender, nur der Abstand zwischen den Geräten und ihm variierte. Seine Sinne zum Zerreißen angespannt, setzte er den Aufstieg fort. Dabei blieb die Anwesenheit einer weiteren Person nicht mehr als eine Hypothese, die sich allerdings mit jedem Schritt zur Gewissheit verfestigte.

«Wenn du so weitermachst, dann kaufe ich dir bald einen Treppenlift.» Jade saß vor ihm auf dem Absatz, die Beine angewinkelt, die Füße mit rotlackierten Zehennägeln zwei Stufen weiter unten aufgesetzt.

«Wieso machst du dich nicht bemerkbar», ließ er seinem Ärger, vor allem jedoch der Erleichterung freien Lauf, nahm ihre Hand und half ihr elegant auf.

«Soll ich etwa durchs Treppenhaus rufen?» Sie streckte sich, strich ihren farbig gemusterten Sommerrock glatt. «Die Nachbarn hätten ihre wahre Freude. Zudem: Ich habe dir eine SMS geschickt, dass ich hier warte.»

«Und weshalb hast du das Licht nicht angemacht?»

«Weil es mir stinkt, alle zwei Minuten aufzustehen. Der Hausmeister könnte die Zeitschaltuhr umstellen und die Energie woanders sparen.»

Inzwischen hatte er den Schlüsselbund aus einer Tasche geklaubt, die Tür geöffnet und war in die Diele getreten.

«Du darfst ablegen.» Tagliabue nahm das iPhone in die Hand. Er aktivierte das Gerät, legte es auf den Tisch. Sofort erschienen die verpassten Anrufe und Nachrichten.

Gedankenverloren drehte er sich zu ihr um. Sie hatte die Aufforderung wörtlich genommen: Splitternackt stand sie vor ihm.

Sie zog ihn spielerisch zum Fußende des Betts, stieß ihn über die harte Kante auf die weiche Matratze, entledigte ihn seiner Kleider. Sie nahm seine Beine zwischen ihre Beine, ihre Knie berührten seine Knöchel. Sie richtete sich auf. Er staunte einmal mehr über ihren Körper, an dem das Altern vorbeigegangen war. Immer noch aufrecht ließ sie ihre Hände an den Innenseiten seiner Beine nach oben wandern. Beinahe an der empfindlichsten Stelle angekommen, änderte sie ihre Route: Sie steuerte ihre Finger mit einem Lachen auf die Außenseite seiner dunkel behaarten Oberschenkel und von den Hüften zu den Fußgelenken zurück. Das Spiel wiederholte sich einige Male, bis sie ihre beiden Hände weiter nach oben bewegte. Als Ergänzung beugte sie sich in Zeitlupe nach vorne, ihn nicht für einen Moment aus den Augen lassend. Sie steigerte seine Erregung bis zum Moment, in dem er sich aufrichtete, um ihre Hände zu fassen und zur Ruhe zu bringen.

«Heute lieber nicht, die Schweine haben mich so heftig in die Eier getreten.»

«Du hast ganz recht: Die Schwellung ist nicht nur da, wo sie sein sollte.» Sie richtete sich wieder auf, um ihm ins Gesicht zu lachen und sich nicht davon irritieren zu lassen, dass er die Bemerkung nicht annähernd so witzig fand wie sie. «Ich habe gedacht, sie sind so groß, weil du lange nicht mehr zum Zug gekommen bist. Nur schade, dass sich daran für dich auch heute Abend nichts ändert.»

Vorsichtig beugte sie sich zu ihm hinunter, bis die feuchte Spitze der ausgestreckten Zunge unter seinem Bauchnabel aufsetzte und sofort begann, den direkten Weg nach oben in Angriff zu nehmen.

Bei jeder Vorwärtsbewegung spürte der Kommissar ihre Brüste unterschiedlich lang, wechselnd stark, aber immer gleich schmerzhaft. Die unberechenbare Unregelmäßigkeit ließ ihn fast durchdrehen, da richtete sich Jade auf.

Sie saß auf seiner Brust, die Knie auf seinen Oberarmen. So aufreizend, wie sie die Zunge nach oben hatte gleiten lassen, so langsam schob sie jetzt das Becken nach vorn. Er spürte und roch ihre Erregung. Kurz vor dem Ziel zog sie sich zurück. Er wollte eine Wiederholung verhindern und versuchte sie zu fassen. Was ihm nicht gelang. Um seinen Widerstand zu brechen, lehnte sie sich über ihn. Platzierte seine Hände am Kopfende des Betts. Wieder in Position, blickte sie ihm lächelnd in die Augen: «Wenn du deine Hand auch nur einen Millimeter von ihrer Stelle bewegst, gehe ich sofort nach Hause. Und jetzt: Baciami, fammi gridare, ubriacami.»