Am folgenden Morgen erwachte Tagliabue allein im Bett. Nicht unerwartet. Jade konnte sich offenbar besser von den emotionalen und körperlichen Anstrengungen erholen. Überraschend war aber der Umstand, dass sie ihn, während er schlief, ans Bett gefesselt hatte. Nachdem er davon die ganze Nacht nichts bemerkt hatte, geriet er jetzt in Panik, zog die Schlinge enger zu, was seine Verzweiflung zusätzlich steigerte.
Erst als er es aufgab, am Strick zu zerren, zu ziehen und zu reißen, bemerkte er, dass allein die komplette Entspannung das Lösen des Knotens erlaubte. Nach einer Stunde hatte er sich befreit. Schweißnass lag er im Bett und musste sich ausruhen.
Irgendwann stand er doch noch auf und trat in den Flur. Wie erwartet, war von ihren Kleidern, Schuhen und ihrem Schmuck nichts mehr zu sehen. Er ging zur Tür, die zu seinem Entsetzen einen Spalt weit offenstand. Tagliabue streckte den Kopf in das Treppenhaus, zog die Tür leise zu, drehte den Schlüssel.
Noch in Gedanken versunken, schlich der Kommissar in die Küche und erkannte die volle Espressotasse von Mokabar, die er in einer bar nicht weit von Alba hatte mitgehen lassen, nachdem ihm der Wirt das Souvenir weder schenken noch verkaufen wollte. Der Espresso hatte keinen Schaum, sah schal aus, duftete kaum. Sein Griff an die Tasse bestätigte, dass ihr Inhalt abgekühlt war. Jade hatte den Kaffee am Morgen mit der La Pavoni zubereitet und auf den Gebrauch der Mühle verzichtet, um ihn nicht aus seinem Schlaf zu reißen.
Vielleicht hatte sie den Muntermacher für ihn gemacht.
Inzwischen war das kalter Kaffee. Neben der Tasse lag sein iPhone. Er schaltete es ein und sah die Nachricht und begriff sofort: «Morgen. Gleicher Ort, gleiche Zeit, María.» Er blickte auf seine Uhr. Es blieb ihm wenig Zeit, um den Termin einzuhalten – und keine, um Jade über das Missverständnis aufzuklären.
Zehn Minuten später knallte er die Wohnungstür hinter sich zu, rannte die Treppe hinunter, trat vors Haus. Mit feuchten Haaren sprintete er zum Taxistand. Sein frisch gebügeltes Hemd begann, auf der Haut zu kleben, wechselte die Farbe. Er riss die Autotür hinter dem Fahrer auf und hechtete ins Innere.
«Ins Kommissariat?», war eine bekannte Stimme zu hören.
«Thanks, Jamal.» Der Polizist richtete sich im Fond des alten Mercedes auf und erwiderte den freundschaftlichen Blick des Jamaikaners, der seine gewaltigen Dreadlocks unter einer Wollmütze versteckt hielt, die nicht in der Einfältigkeit, sondern in ihrer Dreifarbigkeit an eine große Koalition erinnerte.
Mit Fantan Mojah und Dexta Daps führte die Reise durch die Stadt. Nicht nur die Musik aus dem Ghettoblaster auf vier Rädern erinnerte an Kingston, auch Jamals Fahrstil hätte perfekt auf die Karibikinsel gepasst. In kurzer Zeit waren sie am Ziel angelangt. Das Taxi stoppte auf dem für den Kommandanten reservierten Parkplatz direkt vor dem Präsidium.
«Thanks, Jamal. Ich revanchiere mich gern ein andermal. Du weißt, was ich meine.» Er blinzelte dem Fahrer zu und war, ohne zu bezahlen, aus dem Auto gestiegen. Jamal tat so, als hörte er den wild hupenden Lenker des blauen BMW X5 M50d hinter sich nicht. Er hatte die Stereoanlage voll aufgedreht und sang in breitem Dialekt und mit noch breiterem Grinsen «Sie wänd e Palme» von Stereo Luchs & The Scrucialists. Mit einem Blick in seinen Rückspiegel steuerte der Taxifahrer sein Gefährt aufreizend langsam vom Parkplatz.
Inzwischen war der Ermittler am Präsidium angekommen. Er stieg nach oben und wartete, um sich zu erholen, im Vorraum des Vernehmungszimmers, wo er das Bild der Haushälterin betrachtete, das von einer Kamera direkt übertragen wurde. Sie schien ruhig zu sein und zu wissen, dass man sie beobachtete.
Im Vergleich zum ersten Aufeinandertreffen schien María ergreist, ergraut und erschöpft. Die Erscheinung vor ihm hatte nichts mehr von der Person, die er vor Kurzem getroffen hatte. Ihre schwarzen Haare waren zu einem unspektakulären Knoten aufgesteckt und von mehreren silbernen Strähnen durchsetzt. Vom langen, schlanken Hals war nichts mehr zu erahnen. Der Körper schien nicht nur kleiner, sondern auch breiter. Ihre Jacke war ausgeweitet, und der Rock passte schlecht. Die blickdichten, groben Strümpfe, die grauen absatzlosen Schuhe in Lederoptik passten perfekt zu der aktuellen Erscheinung, aber nicht zu seiner Erinnerung an María.
Als ob sie bemerkt hätte, dass er seine Musterung abgeschlossen hatte, drehte sich die Person im Bild, um direkt in die Kamera zu blicken.
Tagliabue ergriff das Telefon, wählte dreimal die Eins: «Wer ist das?», blaffte er in den Hörer.
«Und wer sind Sie überhaupt?», vernahm er die aufreizend ruhige Stimme der Dame vom Empfang.
«Hauptkommissar Salvatore Tagliabue.»
«Ihr Besuch hat sich als María Pinto angemeldet und auch ausgewiesen. Alle ihre Namen konnte ich mir beim besten Willen nicht merken. Danach führten wir die Dame in den durch Ihren Assistenten reservierten Raum. Dort ließen wir sie dann allein, in der unbegründeten Annahme, dass Sie zur abgemachten Zeit am vereinbarten Ort eintreffen.»
Fassungslos blickte der Ermittler auf den Bildschirm, María in die Kamera. Er zoomte auf ihr Gesicht und betrachtete jedes Detail. Aber nichts passte zum Bild, das er von ihr gespeichert hatte. Jetzt bedauerte er, niemanden zum ersten Gespräch mit ihr mitgenommen zu haben, wie es das Dienstreglement vorschrieb. Seine letzte Hoffnung, hinter das Rätsel zu kommen, bestand darin, die Kollegen der Spurensicherung zu fragen.
Die Frau auf der Mattscheibe blickte ihm nach wie vor in die Augen. Ihre Haut war bleich, mit leicht gräulicher Note. Fast so blutleer und dünn waren die Lippen. Die Augen dunkel umrahmt und tief im Schädel versunken. Die Finger gehörten zu einer Putzfrau, die mehr Ressourcen in den Unterhalt fremder Häuser als in die eigene Körperpflege investierte. Er entschied, das Warten zu beenden.
«Danke, dass Sie gekommen sind», gestaltete er den Start so einfach wie möglich und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Eine Entschuldigung für die Verspätung hielt er nicht für nötig.
«Keine Ursache.» Wenigstens ihr Deutsch klang so, wie er es erwartet hatte. Im Gegensatz zur splittrigen, leisen Stimme, die er kaum hören konnte.
«Nur der Form halber und für unser Protokoll», er versuchte erfolglos, Augenkontakt mit ihr aufzunehmen, «Ihren Vornamen und Namen bitte.»
«María Pinto.»
«Sie waren schon einmal hier?»
«Vor exakt drei Wochen. Sie haben mich damals zum Unfall in Dr. Schläflis Villa befragt.»
«Er war weder medizinisch noch akademisch ein Doktor.»
«Das wusste ich gar nicht», war sie noch dünner hörbar.
«Was haben Sie in seinem Haushalt gemacht?»
«Ich war seine Putzfrau.»
Er ließ sich nichts anmerken: «Sie haben ihn gefunden?»
«Er hing einfach da.»
«Was haben Sie gedacht?»
«Er sah schrecklich aus.»
Er beugte sich vor: «Das ist die Antwort auf eine andere Frage.»
«Ich weiß nicht. Er sah erschrocken aus.»
«Wie meinen Sie das?»
«Als ob er das nicht erwartet hätte.»
«Was?»
«Dass er ...», sie zögerte.
«... so enden würde?» Tagliabue wurde ungeduldig.
Sie machte eine Pause und schien die Griffe ihrer Tasche erwürgen zu wollen: «Ja.»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Diese weit aufgerissenen Augen. Als ob er etwas gesehen hätte, das er nicht erwartet hatte.»
«Den Tod?»
«Vielleicht haben Sie recht, Herr Kommissar.»
Er ärgerte sich, dass er ihr die Antwort geliefert und das Thema so begraben hatte. «Sie gehen davon aus, dass der Herr Doktor nicht allein im Haus war?»
«Ich weiß nicht. Ich habe niemanden gesehen.»
«Hätten Sie denn jemanden sehen müssen?»
«Von meiner Wohnung aus habe ich keine Sicht auf den Eingang zum Haus. Ich sehe nur einen Teil der Zufahrt. Und das auch nur, wenn ich mich vorne aufhalte. Und im Haus ging ich ihm aus dem Weg. Das war sein Wunsch und Bedingung für meine Anstellung.»
«Sie wohnen auf Schläflis Anwesen?» Tagliabue war sich unsicher, ob er sich an dieses Detail hätte erinnern müssen.
«Mit seinem Tod habe ich dieses Recht verloren.»
«Ich möchte Sie bitten, klar auf meine Fragen zu antworten.»
«Entschuldigung. Ja, ich hatte eine Wohnung im einstigen Personalhaus. Das gehörte zum Lohn. Dafür hatte ich Herrn Dr. Schläfli zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung zu stehen.»
«Zum Putzen?»
«Ja. Natürlich habe ich weitere Arbeiten und Aufgaben übernommen.»
«Zum Beispiel?»
«Es kam ab und zu vor, dass ich gekocht habe, wenn er es gewünscht hat.»
«Eigentlich waren Sie mehr Haushälterin als Putzfrau?»
«Wenn Sie so wollen.»
Allmählich fragte sich der Ermittler, welche Ausführung von Pinto er bevorzugte: «Gab es andere Bedienstete?»
«Wie meinen Sie?»
«Beschäftigte Schläfli weiteres Personal? Und wo wohnten diese Personen?»
«Einen Hausmeister, der rund ums Haus für Ordnung gesorgt hat. Der wohnte aber in der Stadt.»
«Und zur Tatzeit?»
«War er in den Ferien. Er kam nicht mehr oft – Doktor Schläfli schuldete ihm anscheinend noch Lohn.»
«Sie haben also niemanden gesehen?»
«Nein.»
«Wie darf ich das verstehen?»
«Ja, ich habe niemanden gesehen», präzisierte María.
«Und sonst. Hatte er oft Besuch?»
«Seit ich für ihn arbeitete, lebte er zurückgezogen in seiner Villa und empfing selten Gäste.»
«Das heißt, es gab Besuch. Zum Beispiel?»
«Einen jungen Studenten zum Schachspielen.»
«Kennen Sie seinen Namen?»
«Er hat ihn mir nie persönlich vorgestellt. Nur auf dem üblichen Zettel angemeldet. Wenn ich etwas für die zwei vorbereiten musste.»
«Ein Zettel?»
«Für die Aufträge. Er hat mir so mitgeteilt, was es im Haus zu erledigen gab.»
«Frauen?»
«Nicht, dass ich wüsste. Der Verlust seiner Frau saß vermutlich viel zu tief.»
«Wie kommen Sie denn darauf?»
«Nur so eine Vermutung. Tut mir leid. Sie sind sicher nur an Fakten interessiert.»
«Hören Sie auf, sich zu entschuldigen und zu vermuten, was mich interessieren könnte. Krämer?»
«Den habe ich lange nicht mehr gesehen. Tut mir ...»
«Sie haben niemanden gesehen?»
Er interpretierte ihr kaum wahrnehmbares Nicken als Ja. «Ist Ihnen am besagten Tag am Tatort nichts aufgefallen? Mal abgesehen davon, dass ihr Arbeitgeber ein erstauntes Gesicht machte.»
«Es war außerordentlich warm im Haus. Das fiel mir schon beim Betreten auf. Dabei habe ich immer darauf geachtet, gut durchzulüften.»
«Was haben Sie dann gemacht?»
Er deutete die lange Pause als Aufforderung, die Frage präziser zu stellen: «Sie kamen ins Haus und haben die Hitze wahrgenommen. Was haben Sie da gemacht?»
«Ich bin durch die Villa gegangen, um nach dem Grund zu suchen.» Sie zog die Handtasche näher zu sich, um Halt zu finden.
«Nach Aussage des Fachmanns funktionierte die Heizung einwandfrei. Haben Sie andere Beobachtungen gemacht?»
«Wie meinen Sie das?» María duckte sich.
«Hat sich die Heizung schon früher einmal selbstständig eingeschaltet?»
«Ich weiß nicht. Das müssten Sie den Hausmeister fragen. Der kümmerte sich um die technischen Belange.»
«Sie sahen also erst nach der Heizung, gingen nach oben und haben den Toten gefunden.»
«Nein.»
«Wieso nicht?»
«Es wurde mir nie gezeigt, wie die Heizung funktioniert. Es gehörte auch nicht zu meinen Aufgaben. Also habe ich mich nicht darum gekümmert.»
«Und was ist mit dem Wasser?»
«Gerne.» Sie blickte ihn verlegen lächelnd an.
Tagliabue begriff nicht: «Wie bitte?»
«Ich nehme gerne ein Glas Wasser.»
«Wir sind bald fertig. Es gibt Verpflegungsautomaten auf den Etagen. Und auf den Toiletten führen wir fließendes Wasser in zwei Varianten: lauwarm und laukalt.»
«Danke.»
«Sehr gern geschehen. Danach? Was haben Sie gemacht, als Sie Schläfli entdeckten?»
«Ich war schockiert und bin etwas stehen geblieben.»
«Sie haben den, sagen wir mal, erstaunten Blick erwähnt: Seine Augen waren also nicht mit einer Binde zugedeckt.»
«Nein. Sie hing um seinen Hals.»
«Ist es nicht verwunderlich, dass Sie sich an dieses Detail erinnern? Wie war der Boden unter Schläfli?»
«Darauf habe ich nicht geachtet.»
«Haben Sie per Zufall irgendetwas berührt oder am Tatort verändert?»
«Ich war zu erschrocken. Für ihn kam sowieso jede Hilfe viel zu spät.»
«Wie meinen Sie das?»
«Er war tot. Das sah man sofort. Ihn anzufassen, um ihn wiederzubeleben oder um herauszufinden, ob er noch lebt, hätte keinen Sinn gehabt. Zudem hat es mich angewidert, ihn so hängen zu sehen. Und erst recht, ihn anzufassen, zu berühren.»
«Sie haben nichts berührt und verändert», resümierte er, «auch keinen Stuhl?»
«Nein.»
«Und wieso ist es überall so klinisch sauber? Sieht fast so aus, als hätten Sie absichtlich Spuren verwischt.»
«Sauberkeit lautete der Auftrag. Doktor Schläfli war heikel. Die Villa war, wie jeden anderen Tag, am Vortag geputzt worden, obwohl es eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Er hat sich nur in zwei, drei Zimmern bewegt und aufgehalten.»
«Sie blieben stehen, haben nichts verändert und haben danach, als sie den ersten Schock überwunden hatten, die Polizei alarmiert. Sie haben unsere Beamten empfangen. War die Eingangstür denn abgeschlossen, als Sie bei der Villa eintrafen?»
«Ja, alles andere wäre mir mit Sicherheit aufgefallen. Und die Alarmanlage war ausgeschaltet, als ich ins Haus kam. Darum ging ich auch davon aus, dass Herr Dr. Schläfli anwesend war.»
«War er auch, zumindest physisch.» Tagliabue lehnte sich etwas zurück, um ihre Reaktion abzuwarten. Die blieb aus. «Und an der Eingangstür haben Sie dann gewartet, bis die Polizei eingetroffen ist?»
«Ja.»
«Sie haben sich demnach nicht wegbewegt? Laut Protokoll sind zwischen Ihrem Anruf und dem Eintreffen der Beamten nur sechs Minuten vergangen.»
«Ich habe an der Tür gewartet, um das Tor zum Anwesen zu öffnen und zu schließen, damit Ihre Kollegen so schnell wie möglich den Tatort erreichen konnten.»
«Das heißt also, dass eine zweite Person an ihnen hätte vorbeigehen müssen, um das Haus zu verlassen», nahm der Ermittler den Faden wieder auf.
María schwieg. Man hatte ihr keine Frage gestellt.
«Gibt es weitere Türen?»
«Den Hinterausgang und die Tür zur Küche. Die waren von innen verriegelt.»
«Wie wollen Sie das wissen?»
«Die waren immer verriegelt.»
«Die Garage?»
«Es gibt keine direkte Verbindung zwischen der Villa und der Garage.»
«Und die Fenster?», versuchte der Kommissar eine nächste Hypothese.
«Die sind nur von innen verschließbar. Wurden mit einem spezifischen Einbruchschutz aufgerüstet. Man braucht den Schlüssel, um die Vorrichtung zu entriegeln. Außerdem», sie starrte auf ihre Tasche, «wäre es im Haus nicht so warm gewesen, wenn der Mörder ein Fenster offengelassen hätte.»
«Wieso Mörder?»
«Erstens: Sie sind von der Mordkommission. Zweitens: Hat ein vom Leben derart verwöhnter Mann wie Dr. Schläfli einen Grund, von sich aus einen Schlussstrich zu ziehen?»
«Männer wie er machen sich zwangsläufig Feinde», dachte der Kommissar laut.
«Ich verstehe nicht, was Sie meinen.»
«Ist Ihnen nie aufgefallen, dass Ihr Arbeitgeber Streit oder Diskussionen mit anderen Personen hatte?»
«Nicht, dass ich wüsste.»
«Der Hausmeister? Und Sie?»
«Wie meinen Sie das?»
«Sie erwähnten, Schläfli hätte den Lohn nicht bezahlt.»
«Sicher gab es Auseinandersetzungen. Aber es wäre dumm gewesen, ihn deswegen umzubringen, oder? So wären wir erst recht nicht an unser Geld gekommen.»
«Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Beamten in die Villa gelassen hatten?»
«Ich bin in meine Wohnung gegangen und habe mit Packen begonnen.»
«Warum die Eile? Wollten Sie sich aus dem Staub machen? Sieht so aus, als hätten Sie etwas zu verbergen.»
«Nach dem Tod von Dr. Schläfli habe ich keine Arbeit, keine Bleibe mehr. Trotz der Jahre, die ich für ihn gearbeitet habe, hat er mich im Testament nicht berücksichtigt.»
«Woher wissen Sie das?»
«Er hat mich darüber informiert. Das war Teil unserer Abmachung – ich will mich auch gar nicht beklagen.»
«Sie sind sozusagen das zweite Opfer des Mordes.» Er konnte ein gewisses Mitleid nicht unterdrücken.
«Wenn Sie das so sehen.» María sackte noch mehr in sich zusammen.
«Sie haben also gepackt ...»
«... und bin zu meiner Mutter nach Palmela in Portugal abgereist. Ich habe sie jahrelang unterstützt. Jetzt brauchte ich halt ihre Hilfe. Zudem hat ihre Arbeit in der Fremde sie schnell altern lassen. Nicht einmal das Altern war meinem pai, meinem Vater, vergönnt.» Ihre Stimme war noch leiser geworden.
«Trotzdem: Es sieht aus wie eine Flucht», blickte er sie noch durchdringender an.
«War es wohl auch», hob sie die schmalen Schultern.
«Das verstehe ich jetzt nicht.»
Zum ersten Mal suchte sie direkten Blickkontakt. Er wich aus, scannte den kahlen Raum nach einem visuellen Halt.
«Ich bin nicht vor Ihnen, sondern vor Ihren Kollegen von der Fremdenpolizei geflohen.»
«Wie meinen Sie das?»
«Ich habe weder eine Aufenthalts- noch eine Arbeitserlaubnis und halte mich demzufolge illegal hier auf. Bis zu seinem Tod haben Dr. Schläfli und seine Freunde dafür gesorgt, dass sich niemand darum schert und dumme Fragen stellt, wie mein Arbeitgeber es nannte.»
Der Kommissar erinnerte sich an seine Kindheit. Zu gut kannte er die lähmende Angst, verpfiffen, entdeckt oder ermittelt zu werden und von der Fremde, die noch nicht Heimat geworden war, in die Heimat, die einem entfremdet war, zurückgeschickt zu werden.
«Ich», nahm sie ihre Ausführungen wieder auf, «wollte keine Spuren meiner Anwesenheit zurücklassen. Nicht vor, nicht nach seinem Tod. Darum hinterlasse ich die Villa so perfekt, wie ich sie angetroffen hatte. Das gilt auch für meine Wohnung: Sie befindet sich in dem Zustand, wie ich sie nach dem Verschwinden von seiner Frau damals übernommen habe.»
«Wie meinen Sie das?», beugte sich Tagliabue vor.
«Ich war nicht dabei», wich sie aus. «Ich habe aber gehört, dass die Schläflis etliche Probleme hatten und sie ins leerstehende Personalhaus umgezogen ist.»
Obwohl der Beamte bei den Ermittlungen zum Verschwinden von Schläflis Frau jeden Stein mehrfach umgedreht hatte, hörte er zum ersten Mal von ihrem Auszug aus der Villa. Er überlegte sich, welche Konsequenzen Marías Aussage auf die Nachforschungen von damals gehabt hätte. Er kam zu keinem Schluss.
«Schläfli hat Sie über sein Testament informiert. Was wissen Sie über seine finanziellen Angelegenheiten?»
«Darüber hat er mir gegenüber nie ein Wort verloren. Das war kein Thema. Ich habe meinen Lohn und die vereinbarte Summe für die Haushaltführung stets erhalten. Mehr weiß ich nicht. Aber wer in so einem Anwesen wohnt und solche Autos fährt, wird wohl keine finanziellen Sorgen haben.»
«Und Krämer?», versuchte es der Kommissar erneut.
«Keine Ahnung.»
«Das glaube ich Ihnen nicht. Spielt für die Untersuchung aber keine große Rolle.» Tagliabue erhob sich, schritt um den Tisch, um hinter María Pinto stehen zu bleiben. Er konnte sie riechen, ihre Ausdünstung passte nicht zu ihrer Erscheinung.
Mit sichtlichem Unbehagen reagierte María auf die Nähe. Er beendete die Umrundung des Tisches und setzte sich wieder in seine Ausgangsposition.
«Zwei Sachen, bevor ich Sie gehen lasse: Ich will, dass Sie uns Ihre Adresse und die Telefonnummer zurücklassen, damit wir Sie in Portugal, oder wo Sie sich aufhalten, erreichen. Dann kümmert sich ein Beamter um Sie, damit wir Ihre Fingerabdrücke abnehmen können.»
Er stand auf ging zur Tür: «Sie dürfen gehen.»
Nachdem sie lange auf sein erlösendes Zeichen gewartet hatte, fiel es ihr jetzt schwer, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Sie erhob sich langsam, zupfte und strich sich die Kleider zurecht und näherte sich dem Kommissar, der die Klinke mit seiner Rechten umfasste, um ihr die Tür zu öffnen.
«Warten Sie draußen auf der Bank, bis sich ein Polizist um Sie kümmert.» Er stieß die Tür auf. Sie schritt auf ihn zu und an ihm vorbei.
«Was man Ihnen angetan hat, tut mir leid.» Sie blickte ihm in die Augen. Er blieb erstarrt zurück.
«Folgen Sie mir bitte, Frau Pinto», hörte er die Stimme einer Beamtin.
Es dauerte eine Viertelstunde, und Tagliabue saß im Büro am Personal Computer, den er nach langwierigem Anmelde-, Identifikations- sowie Sicherheitsprozedere aufgestartet hatte. Sein Telefon klingelte.
«Pronto?», nahm er gedankenverloren ab.
«Ambach von der IIT. Sind Sie es, Herr Kommissar?»
«Ja, weshalb?»
«Entschuldigen Sie, bitte. Wir möchten nur sicher sein, dass sich niemand anderer mit Hilfe Ihres Badges, Ihrer PIN und Ihrem Passwort ins System einloggt. Sie zählen zu unseren seltenen Besuchern. Nur zu Ihrer Sicherheit.»
Der Kommissar versuchte, ruhig zu bleiben.
«Ich muss Ihnen ein paar einfache Fragen stellen, um Sie identifizieren zu können. Sind Sie bereit? Wann sind Sie geboren?»
«Sie meinen also, dass ich mein Badge verliere? Dass ich meine PIN sowie das Passwort auf dem Badge notiere? Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich?»
«Das reicht. Sie haben sich identifiziert. Ihre Angaben decken sich mit unseren Notizen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag.»
Der Kommissar hielt den Hörer immer noch am Ohr, als er hinter sich die Anwesenheit einer Person unangenehm nah spürte.
«Haben Sie sich ein paar neue Freunde gemacht? Bei der Auswahl, die Sie haben, kommt es auf einen mehr oder weniger nicht an. Ich hoffe, Ihre Unterhaltung mit der Putzfrau ist erfreulich verlaufen.»
Tagliabue versetzte dem Drehstuhl einen Stoß mit seinem Bein. Die Kürze des Telefonkabels stoppte die Drehung, er wurde etwas zurückgezogen. Vor ihm stand Deubelbeiss. Der Ermittler legte rasch auf und erhob sich. Er hasste es, wenn man sich von oben herab mit ihm unterhielt. «Wieder Sie? Woher wissen Sie, dass ich mich mit Frau Pinto unterhalten habe?»
«Genau dafür gibt es elektronische Agenden. Zudem habe ich Ihren Termin koordiniert, schon wieder vergessen?» Rasch machte der Assistent einen Schritt zur Seite, um seinem Vorgesetzten den Weg freizumachen. «Sollten Sie im Übrigen auch ab und zu konsultieren. Sie sollten in Hubers Büro oder in seinem Vorzimmer hocken. Wenn Sie sich etwas beeilen, schaffen Sie es noch rechtzeitig zum Treffen mit unserem Chef».
Ohne zu klopfen, trat der Kommissar ins «Keiserreich», wie das Vorzimmer des Polizeikommandanten nicht erst seit Huber genannt wurde. Hinter ihrem PC thronte wie immer die Assistentin. Ungewohnt war aber die Tatsache, dass Keiser das Gerät eingeschaltet hatte, sich ihrem Bildschirm und nicht einem Kreuzworträtsel widmete. Dass der Chef hinter der Assistentin stand, mit ihr auf die gleiche Oberfläche starrte und seine Rechte auf ihre Rechte gelegt hatte, um ihre Maus zu bewegen, war neu und überraschte den Ermittler. Anderseits nicht: The Pelvis, dachte er und versuchte, sich bemerkbar zu machen, sich aber nichts anmerken zu lassen.
Schnell erbleichte hingegen Huber, der sehr ungeschickt versuchte, sich von fremder Hand und Maus zu trennen. Die Assistentin blieb unberührt und grüßte Tagliabue, als ob nichts Ungewöhnliches vorgefallen wäre: «Der Herr Kommissar. Schon wieder pünktlich. Das wird allmählich zu einer Gewohnheit. Dass es Ihnen erneut gelingt, mich so zu verblüffen», schüttelte sie übertrieben den Kopf, um sich wieder dem Bildschirm zuzuwenden.
«Das Licht an der Tür war auf Grün und Bitte eintreten. Da habe ich mir halt gedacht, dass ich reinkommen kann», scheiterte der Versuch des Besuchers, die Situation von ein bisschen Peinlichkeit zu befreien. Mit der gleichen Absicht hatte sich Huber in sein Büro zurückgezogen.
«Der Herr Doktor erwartete Sie bereits drinnen», vernahm Tagliabue die gelangweilte Stimme, «jetzt ist er noch am Telefon und dann bald so weit, nehmen Sie Platz.»
Die routinierte Beiläufigkeit, mit der die Assistentin so tat, als sei gar nichts passiert, verunsicherte den Kommissar. Er setzte und fragte sich, ob ihn seine Sinne so getäuscht hatten.
Wenig später öffnete sich die Tür. Beni Huber erschien und brachte nicht viel mehr als sein verzerrtes Lächeln zustande.
«Tagliabue», begrüßte er den Untergebenen, «wie lange warten Sie schon? Man hat mich nicht informiert, dass Sie hier sind. Ich muss mich wohl mal mit Frau Keiser unterhalten». Die letzte Bemerkung war schon hinter geschlossener Tür gefallen. «Nehmen Sie Platz. Ein Stückchen Schokolade?»
Der Kommissar setzte sich mit dem Gesicht zur Tür an den Besprechungstisch und winkte mit einer Handbewegung ab: «Ich muss auf meine Linie achten, danke.»
«Sie erlauben?», langte der Kommandant in die Glasschale und befreite eine mit Schokolade ummantelte Kaffeebohne im Handumdrehen von ihrer goldenen Verpackung und ließ die Nascherei im Mund verschwinden.
Huber widmete sich dem quadratischen, hauchdünnen Stück Kunststoff, das vor einem Augenblick noch kein Abfall gewesen war. Er faltete das Material zu immer kleineren Dreiecken. Nicht ganz zufrieden, brachte er das Plastik wieder in seine ursprüngliche Form zurück, um die Enden ineinander zu verdrehen, bis eine Art gewickelte Wurst entstand. Die legte er vor sich, um zu beobachten, wie sich die Folie aus eigenem Antrieb wieder entfaltete.
«Wo stehen Sie mit den Ermittlungen im Fall Schläfli?», stellte er die erwartete Frage, seinen Blick immer noch auf den Kunststofffetzen geheftet.
«Sicher wurden sie schon über den Stand der Ermittlungen informiert.»
«Sie meinen, von Staatsanwalt Hansen?» Huber blies die neu gefaltete Folienschildkröte über den Bürotisch, um sie knapp vor außer Reichweite einzufangen und das Spielchen wieder von vorne zu beginnen.
«Dieser Deutsche kümmert sich wohl lieber um sein neues Auto als um unseren Fall. Er lässt Ihnen freie Hand, was mich sehr wundert.» Huber beförderte das Folientier mit einem gekonnten Luftstoß auf den Rücken, um es im Handumdrehen in ein Schiff zu verwandeln.
«Nach unseren neusten Erkenntnissen hielt sich Schläfli zur Tatzeit nicht allein in der Villa auf. Darauf deutet einiges hin», begann der Kommissar seine Ausführungen.
Eine halbe Stunde später hatte Beni Huber das Interesse an seinem Plastikspielzeug verloren. Wie ein kleiner Junge wischte er das Schiff über den Rand des Pults in die Tiefe. Der Kommissar erinnerte sich daran, dass die Leute einst dachten, die Mutter Erde sei eine Scheibe und wer sich zu weit hinauswage, würde über ihre Kante ins Verderben stürzen.
«Zurzeit haben wir keine Hinweise darauf, wer die andere oder die anderen Personen gewesen sein könnten», schloss er seine Zusammenfassung.
«Lieber Tagliabue: Das nehme ich Ihnen nicht ab. Weshalb belästigen Sie nach Barbara Burgener auch noch Krämer in dessen Firmensitz? Kreuzen dort einfach unangemeldet auf und verlangen ein Gespräch? Wie kommen Sie auf die Idee, dass Krämer etwas mit Schläflis Tod zu tun haben könnte? Nur weil sich die zwei kannten? Unter diesen Umständen zähle ich mit einigen anderen auch zu den Verdächtigen. Zudem: Krämer hat gar kein Motiv.»
«Krämer hätte uns möglicherweise etwas zu Schläfli sagen können. Ihn ohne Voranmeldung aufzusuchen, war ziemlich naiv, wie ich zugeben muss. Bei seinem wirtschaftlichen und sozialen Engagement.» Tagliabue hasste sich für den Satz.
«Sie kennen mein MRI», schien Huber beruhigt. «Ich dulde nicht, dass mein Korps die Gelder der Steuerzahler mit sinnlosen Aktionen zum Fenster hinauswirft. Und schon gar nicht, wenn es sich um Persönlichkeiten handelt, die sich in einem solchen Maße um die Gesellschaft verdient gemacht haben wie Krämer.»
«Wenn ihn seine einstigen Verdienste unantastbar machen, dann lasse ich die Finger von ihm. Unabhängig davon, ob als Verdächtiger oder als Informationsquelle.»
Der Polizeikommandant fixierte seinen Hauptkommissar und versuchte zu verstehen, was der genau gesagt hatte: «Die Öffentlichkeit, die Steuerzahler erwarten Resultate, die Presse sitzt uns schon lange im Nacken.»
«Apropos: Wie wäre es denn mit etwas positiver Publicity für unseren neuen Polizeikommandanten? Wie steht es mit den Ermittlungen zum brutalen nächtlichen Überfall auf den Kriminalkommissar?»
«Die haben wir eingestellt. Das war ein dummer Zufall, dass gerade Sie an dieser Stelle aufgetaucht sind – es hätte jeden treffen können, der so fahrlässig ist, zu dieser Zeit diesen Weg einzuschlagen. Wobei das vielleicht das falsche Wort ist.»
Innerlich kochend zog es Tagliabue vor, sich nichts anmerken zu lassen, als Huber gleichgültig weiterfuhr: «Die Täter konnten gar nicht wissen, dass es sich um einen Polizisten handelte. Und da wir schon dabei sind: Ich habe zu wenige Leute, um jeder Bagatelle nachzugehen. Der Fall – und das ist Ihr persönlicher Fall mit null Relevanz für das breite Publikum – ist abgeschlossen.»
Huber hatte seinen Untergebenen nicht aus den Augen gelassen. «Case closed ist auch, was ich den Bürgern zum Mord an Schläfli so rasch wie möglich mitteilen möchte. Verlieren Sie keine Zeit mehr!» Er zeigte zur Tür. «Halten Sie mich auf dem Laufenden!»
Tagliabue verkniff sich eine Replik und schritt Richtung Tür. Bevor er ins Keiserreich hinüberwechselte, drehte er sich um und musterte seinen Vorgesetzten: «Passen Sie auf, wo Sie Hände, Augen und weitere Körperteile haben. Polizeikommandanten kommen und gehen», schloss er die Tür und raubte Huber die Möglichkeit zu reagieren.
Die Assistentin im Vorzimmer saß in ihrem zirka vier auf fünf Meter großen Reich, bewegte sich geistig aber schon wieder in anderen Dimensionen: Während sie angestrengt in den waag- und senkrechten Feldern nach dem Sohn des Dädalus suchte, verabschiedete sie sich von Tagliabue.
«Suchen Sie im System. Dort finden Sie die Antwort auf alle Fragen», ließ er Elvira ratlos zurück.
Auf der anderen Seite der Tür blickte er sofort auf eine der in regelmäßigen Abständen angebrachten Uhren. Durch einen elektronischen Impuls ausgelöst, hüpften sämtliche Zeiger gleichzeitig in ihre neue Position. Es war zwölf Minuten vor vier. Es hatte keinen Sinn mehr, ins Büro hochzusteigen. Auf die Gefahr hin, Deubelbeiss vergebens warten zu lassen, entschied sich der Kommissar, so rasch wie möglich den Nachhauseweg anzutreten. Er wollte nicht riskieren, noch einmal aufgehalten und zurückbeordert zu werden. Von Elvira drohte hingegen keinerlei Gefahr: Sie würde noch lange mit Ikarus beschäftigt sein. Falls sie nicht von ihrer Suche abgehalten wurde.
Tagliabue eilte an der Dame vom Empfang vorbei und gab sich keine Mühe, so zu tun, als ob er ihr Winken nicht sehen und ihr Rufen nicht hören würde. Er quittierte ihre Gebärden mit einem enthusiastischen Zurückwinken.
Endlich draußen wähnte sich der Ermittler in Sicherheit.
Einige Häuserblöcke weiter hielt er das nächste Mal, das Handy in der feuchten Hand. Er berührte das Nachrichten-Icon, tippte, sendete eine SMS: «bar jeden geschmacks?» Ohne die Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg durch die Stadt in ein Lokal, das er schon länger nicht mehr berücksichtigt hatte. Er orientierte sich an den belebten Straßen und beliebten Läden. Aus Angst vor einer neuen Attacke auf seine körperliche Integrität mied er die Nebengassen, die direkt zum Ziel geführt hätten.
Im Raum war es düster. Dank der über die Jahre dunkler gewordenen Fenster und der schweren Tür blieb mit dem Sonnenlicht auch die spätsommerliche Schwüle draußen. So kurz vor Feierabend war der Schuppen fast leer. In einer Ecke versuchte eine Dame osteuropäischer mit einem Gast ostschweizerischer Herkunft handelseinig zu werden. Dass sie es bisher zu keinem zähl- sowie zahlbaren Resultat gebracht hatte, lag nicht an Sprachproblemen, sondern an unterschiedlichen Preisvorstellungen. Tagliabue bestieg einen Barhocker. Die einst braune Sitzfläche war durch das stetige Rauf- und Runter-, Hin- und Herrutschen bis auf das ehedem weiße Leinengewebe durchgescheuert.
Hinter dem Tresen bückte sich eine Dame, die viel jünger war, als sie aussah, gelangweilt über die chromstählerne, saubere Arbeitsfläche und sah so aus, als hätte sie ihre Position seit Jahren nicht mehr verlassen.
An einer Wand prangte eine Neonreklame für Schlitz-Bier. Das rote ON TAP hatte das Blinken schon lange aufgegeben. Verstaubte, verbogene, beschädigte Emailschilder machten für längstens erloschene Zigarren- und Zigarettenmarken Werbung. Obwohl sie den Rücktritt schon vor langer Zeit gegeben hatten, klebten die Panini-Bilder von Neeskens, Overath, Zoff, Blochin, Rivelino und anderen so dicht an dicht an den Vitrinen, dass nicht zu sehen war, was sich dahinter versteckte. Auf den Holztischen standen die traditionellen Plattmenagen. An den Maggi-Flaschen hatte sich eine schwärzliche, klebrige Kruste gebildet. Die Aromat-Streuer waren verbeult und durch jahrelange Benutzung bis zur Unleserlichkeit abgegriffen. Die meisten der roten Deckel fehlten. An den kleinen Löchern klebte mehr Gewürzgranulat, als sich in der Dose befand. In den Salzstreuern überwogen die Reis- die Salzkörner. Beim Pfeffer war eine Aussage zur Füllhöhe ebenfalls nicht machbar. Die Innenwände der Streuer waren durch den Gewürzstaub absolut blickdicht verkleistert. Wie die Bierdeckel sahen auch die Zahnstocher so aus, als ob sie ihre Aufgabe bereits mehrmals erfüllt hätten und nur darauf warteten, endlich durch unverbrauchten Nachschub ersetzt zu werden. Eine Hoffnung, die sich beim kurzen Blick auf die geistig und körperlich unbewegliche Masse hinter dem Tresen als illusorisch erwies.
Nervös wanderte Tagliabues Blick durchs Halbdunkel. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, was es ihm ermöglichte, Details zu erkennen. Das ungleiche Paar zur Völkerverständigung hatte sich schon entfernt. Offenbar durch die dafür vorgesehene Hintertür. Vom Hochsitz blickte der Kommissar in die Sitznischen. In ihrer Mitte standen Tische, in denen sich Wein- und Biergläser, Zigaretten und Gäste für immer sichtbar eingefressen, eingebrannt und eingeritzt hatten. Die Plüschsitzbänke sahen ebenso abgesessen und abgegriffen wie sein Barhocker aus. Das einst einheitliche Dunkelrot hatte einem Gemisch unterschiedlicher Farben Platz gemacht. Unzählige Brandlöcher im Polster waren der gut sichtbare Beweis dafür, dass das Etablissement seit der Einführung des Rauchverbots vor einigen Jahrzehnten nicht renoviert worden war.
Die Sitznischen waren durch mannshohe Wände voneinander separiert. Den Abschluss bildeten Holzblenden, beinahe vollständig bedeckt von meist zerschnittenen schwarzen Krawatten und Schulterklappen in bunter Reihenfolge, mit unterschiedlichen Zahlen und Zeichen. Ab und zu wurde das Bild durch einen behelfsmäßig angenagelten String, Strumpf oder BH unterbrochen – Trophäen von Rekruten der nahen, längst ausgemusterten Stadtkaserne.
Nach wie vor war keinerlei Unterstützung im Kampf gegen den Durst des Ermittlers zu erwarten. Der studierte die Aufkleber des lokalen Hockey- und eines Fußballvereins. Für den Stadtrivalen blieb nicht einmal ein wenig Raum übrig. Tagliabue entzifferte ein paar Jahreszahlen: Die letzten Titel der Clubs lagen ewig zurück. Eine Schande für die Stadt, die für sich in Anspruch nahm, in jedem kulturellen und wirtschaftlichen Bereich zur Spitze zu gehören.
«24. 10. 1971?», vernahm er hinter sich die vertraute Stimme seiner Verabredung.
«Meinst du das ernst?», antwortete er reflexartig, ohne sich zum Fragesteller umzudrehen. Im noch nicht blinden, aber stark sehbehinderten Spiegel an der Wand hinter dem Tresen konnte er Lüthi ausmachen, der eben in die Bar eingetreten war.
«Brands Hatch, England», begann der Kommissar, «bei dem nicht zur WM gehörenden World Championship Victory Race bricht in der 15. Runde die Radaufhängung am BRM von Jo Siffert bei hoher Geschwindigkeit. Der äußerst populäre Rennfahrer, ein Freund von Jean Tinguely und Vorlage für Steve McQueens Film Le Mans, stirbt eingesperrt in seinem brennenden Boliden an einer Rauchvergiftung. Rund 50’000 Leute säumen an der Beerdigung die Straßen von Freiburg. Als Gesamtfünfter der Formel-1-Weltmeisterschaft wird er postum zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt. Es war 1971 sein insgesamt 41. Start und das allerletzte Rennen seines Lebens.»
«Gar nicht übel. Wie ein Beitrag aus Wikipedia», lachte der Journalist aus der Entfernung.
Die Frau am Tresen hatte sich in Positur gestellt, als der Journalist die Bar betreten hatte: «Schön, dich wieder einmal zu sehen, Lolo», begrüßte sie ihn freundlich. Sie wischte hastig die metallene Oberfläche, um ihm zu zeigen, wo er sich hinsetzen sollte. Der Polizist verfolgte die Szene mit wachsendem Erstaunen.
«Für mich ein kühles Bier. Ist das Beste bei der Hitze. Und was nimmst du?», wandte sich Lüthi an ihn, ohne sich um die Antwort zu kümmern. «Oder hast du etwa schon ausgetrunken? Entschuldige, hat länger gedauert.»
«Nein, ich habe nicht bestellt», nutzte der Gefragte die Gelegenheit. «Wenn du mir einen Gin Tonic organisieren könntest.»
«Habt ihr Breil Pur und Tonic von Fever-Tree?», richtete sich Lüthi an die aus ihrer Lethargie gerissene Bardame. Ohne Zeit zu verlieren, bediente diese den Zapfhahn und stellte Lüthi ein Glas Bier hin.
«Bitte sehr, Prost», versuchte sie, in Blickkontakt mit ihrem Gast zu treten. Nach mehreren erfolglosen Anläufen nahm sie einen Tumbler aus einem Regal und hämmerte ihn vor Tagliabue auf den Tisch. Sie schaufelte Eis aus dem Kübel vor sich, schüttete es ins blinde Glas, goss etwas Gordon’s darüber und brachte den Inhalt als Krönung mit einem Schweppes zum Überlaufen.
«Kennst du die Dame?», grinste Lüthi, der mittlerweile auf den Hocker geklettert war.
«Nein.»
«Dann kennt sie dich.» Der Journalist führte das perfekt eingeschenkte Bier zum Mund. «Und sonst? Was gibt es Neues?»
«Ich trete auf der Stelle. Habt ihr was rausgefunden?»
«Du weißt, dass wir im Fall Schläfli nichts mehr machen dürfen. Komm, raus damit! Ich weiß, dass du mir etwas verheimlichst.»
An seinem Glas nippend, verspürte der Ermittler einiges Mitleid mit den Engländern, die ihren Gin und ihr Tonic in der feuchten Hitze Indiens ebenfalls lauwarm trinken mussten. «Deubelbeiss.» Er setzte das Glas ab, trank das restliche Tonic aus der Flasche.
«Deubelbeiss?», wiederholte Lüthi entgeistert. «Der neue Assistent?»
«Ich habe einfach den Verdacht, dass er Krämer und Huber Informationen zuspielt. Keiner wusste von meinem Meeting mit Krämer. Vielleicht haben sie mir die Falle gestellt. Jedenfalls war Krämer auf dem Laufenden und hat seinen Anwalt geschickt. Danach wurde ich überfallen, um mich nicht gerade kalt, aber immerhin ruhig zu stellen. Als unmissverständliche Warnung.»
«Ich denke, deine Urteilskraft hat gelitten», schüttelte Lüthi den Kopf. «Wie kommst du auf die Idee, Deubelbeiss hätte dich verraten?»
«Er wurde mir, ohne dass man mich gefragt oder wenigstens vorher informiert hätte, zur Seite gestellt ...»
«Du hättest dich ohnehin vehement gegen ihn gewehrt, das macht demnach keinen Unterschied.» Der Journalist leerte sein Glas.
«Deubelbeiss wurde mir von Beni Huber zugeteilt. Er ist der Neffe des Kommandanten. Und der ist ein Kollege von Krämer. Der Doktor hat Deubelbeiss zu meinem Assistenten ernannt, weil er mich so besser kontrollieren und Krämer warnen kann.»
«Dein Verfolgungswahn nimmt beängstigende Dimensionen an. Glaubst du nicht, dass du dich und deine Rolle etwas überschätzt? Der Assistent ist demzufolge nicht mehr als ein Informant, der jeden deiner Schritte überwacht. Noch nie auf die Idee gekommen, dass er wegen irgendwelcher Qualifikationen zu seinem Job gekommen ist? Zum Beispiel, weil er die äußerst rare Fähigkeit besitzt, mit dir zu arbeiten. Was weißt du von ihm, nur mal abgesehen davon, dass er der Neffe des Chefs ist? Für ihn noch einmal das gleiche», bestellte er für den Kommissar.
Der nahm die Brühe widerwillig entgegen. «Ich habe recherchiert. Wie der Onkel, der es bis zum Polizeikommandanten geschafft hat, ist er Quereinsteiger. Er hat hier und in den USA Informatik studiert und mit Bestnoten abgeschlossen. Wahrscheinlich einer jener Nerds, die ihre Zeit lieber vor dem Bildschirm als mit einer Frau verbringen. Sieht jedenfalls nicht aus, als hätte er jemals eine Freundin gehabt. Verheiratet ist er auf jeden Fall nicht. Hat seine Arbeit über irgendwelche Algorithmen geschrieben, konnte mir den Titel nicht merken, und ist so zu Doktorehren gekommen. Es folgte sein zweites Studium in Kriminalistik, wieder in Amerika. Nach ein paar Praktika ist er mit der Hilfe von Huber bei uns im Allgemeinen und mir im Speziellen gelandet.»
Lächelnd hörte Lüthi dem Polizisten zu. Dieser studierte den Inhalt des Glases und überlegte sich, ob die Abscheu oder sein Durst stärker war, und fuhr fort: «Privat findet Deubelbeiss überhaupt nicht statt ...»
«Spielt gar keine Rolle», unterbrach ihn Lüthi, der sich zu ärgern begann, «dein Privatleben geht ja auch niemanden etwas an, obwohl es dort nicht zum Besten steht. Wie geht es eigentlich der lieben Jade?» Und ohne die Antwort abzuwarten: «Ein Profi wie Deubelbeiss weiß, wie er sich im Internet tarnt, versteckt oder unsichtbar macht. Er bewegt sich ebenso laut- wie spurlos durch die Parallelwelten. Er entscheidet, wem er sich zu erkennen gibt, wem nicht. Er scheint jedenfalls alle Fähigkeiten mitzubringen, um seinen Job gut zu erledigen, sofern man ihn machen lässt. Vielleicht ist es gerade das, was dir Sorgen macht. Dass er viel besser qualifiziert ist als du. Vor allem, wenn ich an deine IT-Kenntnisse denke. Da bist du, gelinde gesagt, ein Neandertaler. Aber die Zeiten haben sich im Gegensatz zu dir massiv geändert. Wenn du dich weiter dagegen wehrst, wirst du untergehen. Da reicht die einfache Bedienung des Smartphones nicht. Benutzt du deinen Computer überhaupt? Kann ich bitte die Rechnung haben? Ich muss in die Redaktion. Habe etwas zu klären. Das Redaktionssystem ruft», grinste er.
Ohne die Rechnung abzuwarten, schob er eine Note über den Tresen, erhob sich, klopfte dem Kommissar auf die Schulter.
«Übrigens», er drehte sich auf halbem Weg hinaus abrupt um, «Beni Huber hat einen Zwillingsbruder, Roland. Roli hat mit Krämer Militärdienst geleistet. Dein Chef war gar nicht tauglich und legte trotzdem eine bemerkenswerte Karriere innerhalb der Polizei hin. Deubelbeiss ist der jüngste Sohn der älteren Schwester der Zwillinge. Ich dachte, Fakten, nicht Vermutungen seien dein Geschäft. Findest du alles im World Wide Web. Schon einmal gehört? Erhol dich ein wenig. Du bist nicht ganz gesund.» Lüthi entschwand durch die offene Tür in die Hitze der anbrechenden Nacht.
Gegen zehn hatte sich der Raum gefüllt mit Touristen aus aller Welt und Besuchern aus der Agglomeration, die sich gegen den Pendlerstrom in die Stadt gequält hatten, weil in ihren Käffern nach sieben Uhr abends nichts mehr los war, außer im Fernsehen. Ob exotisch oder urig: Die bunt durchmischte Gästeschar hielt die Bar jeden Geschmacks nicht für das Resultat jahrzehntelanger Nachlässigkeit sowie Ignoranz, Dumm- und Faulheit, sondern für ein total innovatives Gastrokonzept.
Gegen Mitternacht begann sich das Lokal allmählich zu leeren. Der Kommissar blieb hocken. Bis die Kellnerin sich zum ersten Mal um ihn kümmerte, um ihn vor die Tür zu setzen.
Draußen war nicht mehr viel los. Die Dealer versorgten ihre letzten Kunden. Die Huren waren schon längst nach Hause gegangen. Ein paar Besoffene torkelten und lallten durch die Straßen und Gassen. Die dunklen Hausmauern warfen die Geräusche von der einen Seite zur anderen und zurück. Über den Kreuzungen blinkten die Lichtsignale orange. Der Wind drückte die aufgehängten Lampen, soweit es ging, nach hinten, bis sie nach vorne schnellten. In den Hauseingängen und -nischen stank es nach Pisse und Kotze. Hin und wieder lag ein Betrunkener in einem eigen- oder fremdverursachten Gemisch. Tagliabue war der einzige Polizist weit und breit. Er musste aufpassen, in der Dunkelheit nicht zu stolpern, nicht in menschliche oder in tierische Ausscheidungen zu treten.
Heil daheim angekommen, legte er sich in seinen Kleidern auf das Sofa.