Drei Wochen später erwachte Tagliabue in seinem eigenen Bett. Ein paar Tage vorher hatte der Herbst erste scheue Lebenszeichen von sich gegeben. Dies ganz im Gegensatz zu Jade, von der er seit ihrem Abgang damals nichts mehr gehört hatte. Nach ungezählten erfolglosen Anrufen brach er die Übung frustriert ab. Er ging davon aus, dass sie seine Nummer gesperrt hatte. Um sie zu bestrafen, ließ er sich einen Anchor wachsen. Jade hasste Gesichtsbehaarung und hatte ihn schon einmal gezwungen, sich seines Bartes zu entledigen. Zitternd vor Wut schnitt er sich damals so tief, dass sich das Blut lange nicht stillen ließ. Aber erst dann durfte er zu ihr ins Bett zurück, was sie zusätzlich aufputschte. Womit die Strafaktion auch für ihn einen befriedigenden Abschluss gefunden hatte.
Wie mit Jade kam der Kommissar auch mit Schläfli nicht weiter. Erstaunlicherweise schien das keinen richtig zu stören: Staatsanwalt Hansen war anderweitig beschäftigt, er konnte sich nicht weiter um die Ermittlungen kümmern. Dr. Bernhard Huber widmete sich wohl der Assistentin und führte Elvira Keiser in die Geheimnisse ihrer Maus ein. Die Medien waren von aktuelleren Themen absorbiert und hatten nicht mehr nach Ergebnissen verlangt.
Nur der Mediensprecher der Polizei hatte sich unerwartet bei ihm nach dem Status der Ermittlung informiert. Albert Eisrauch misstraute der Ruhe und wollte sich auf den seiner Ansicht nach bevorstehenden medialen Sturm vorbereiten. Der Kommissar verhängte auch bei ihm eine Nachrichtensperre.
An diesem ersten herbstlichen Morgen stutzte Tagliabue die Barthaare mit dem Trimmer auf exakt drei Millimeter. Vor Jahren hatte er unter seinen nach wie vor dichten schwarzen die ersten weißen Haare entdeckt. Jetzt musste er feststellen, dass sich die Mehrheiten zugunsten der weißen Haare verschoben hatten. Was er beim Blick ins Becken sah, erinnerte ihn an ein Werk von Joseph Beuys. Vor allem wurde ihm klar, dass auch er nicht älter, sondern alt geworden war. Er fragte sich, wer der Mann vor ihm eigentlich war. Und wohin jener Mensch verschwunden war, den er im Spiegel erwartet hatte. Er sah zwar nach wie vor gut aus. Für sein Alter.
Er machte sich Gedanken zu den Optionen, die ihm noch offenstanden. Er hatte es verpasst, Gelegenheiten zu nutzen. Dazu fehlte es ihm einfach an der erforderlichen Rücksichtslosigkeit, am Opportunismus, an Reaktions- und Gedankenschnelligkeit. So hatten sich Türen, ohne dass er deren Öffnen bemerkt hätte, wieder geschlossen. Andere hatte er selbst mit lautem Knall zugeworfen. Folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass er als Polizist in Pension gehen würde. Ein Gedanke, der ihm bei genauer Betrachtung nicht wirklich missfiel.
Der Kommissar wischte die Beweise fürs Älterwerden mit der Rechten Richtung Abfluss. Was am Handrücken oder im Becken haften blieb, spülte er mit fließendem Warmwasser größtenteils hinunter. Nur ein Rest blieb liegen, um im weißen Becken ein gräuliches Oval zu formen.
In seiner Unterhose von Zimmerli begab er sich in die Küche, wo es nach verbranntem Kaffee duftete. Der Arm der La Pavoni war auf halbem Weg stecken geblieben. Die Espressotasse war kaum bis zur Hälfte gefüllt. Die obersten Zuckerkristalle lugten aus der dunklen, öligen Flüssigkeit, hatten sich zwar schwarz verfärbt, jedoch nicht aufgelöst. Er hatte das braune Pulver zu kräftig angepresst und damit dem warmen Wasser die Möglichkeit genommen, sich einen Weg durch den Kaffee in die Tasse zu bahnen. Er entschied, die paar Tropfen, die es geschafft hatten, zu trinken, bevor sie ganz erkalteten. Der Zucker dämpfte den Geschmack, nicht die Wirkung: Seine Schläfen pochten, als er sich anzog. Er hatte beschlossen, die blaue Bundfaltenhose und das weiß-blau gestreifte Hemd mit einer grauen Strickjacke abzurunden. Erst als er in seine braunen Schnürschuhe schlüpfte, fühlte er wie ein richtiger Italiener.
Im Treppenhaus herrschte Ruhe. Seine Nachbarn befanden sich bereits auf dem Weg zur Arbeit bei einer Bank, einem Beratungsunternehmen oder einer Versicherung. Nach der Billigsanierung waren diese Wohnungen nur noch für kinderlose Paare erschwinglich, die sehr gut und doppelt verdienten. Familien, die jahrelang für Leben im Haus und in der Gegend gesorgt hatten, sahen sich gezwungen, eine neue Bleibe in einer Stadtrandsiedlung zu suchen. In anonymen Quartieren mit künstlich angelegten Seen und geometrisch angeordneten Bäumchenalleen, mit kinderlosen Nullrisikospielplätzen und menschenleeren Treffpunkten. In totgeborenen Retortenvierteln, denen, ebenso mühevoll wie vergeblich, versucht worden war, das absolute Minimum an Charakter, Leben, Charme einzuhauchen.
Seine Wohnung hatte Tagliabue zur Vorrenovationsmiete behalten. Die Inhaberin wusste um seine Position bei der Polizei und fürchtete sich vor den Konsequenzen ihrer wucherischen Mietzinserhöhung. Den Einnahmeausfall glich sie mit zusätzlich erhöhten Mietkosten für die anderen Bewohner aus.
Über die Querfinanzierung war er froh, hätte ihn die normale Miete doch einen beträchtlichen Teil seines Beamtenlohnes gekostet. Ebenso schätzte er, dass seine doppelverdienenden Nachbarn neben den Familien auch den mit ihnen verbundenen Krach und das Chaos verdrängt und damit für Ruhe und Ordnung im und ums Haus herum gesorgt hatten.
Draußen war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Dennoch inspizierte er mehrmals die Umgebung. Er sprach sich gegen den Spaziergang durch die leeren Straßen und zugunsten einer Busfahrt aus.
Das Stimmendurcheinander passte zur orientalischen Mischung unterschiedlichster Gerüche und Ausdünstungen. Zu seiner Überraschung fühlte er sich in dieser Umgebung aufgehoben. Das änderte sich mit der Fahrt in Richtung Zentrum: Immer einheitlicher elegante Männer und Frauen stiegen ein. Tuschelten und lachten hochdeutsch.
Auf dem abschließenden Fußweg zum Kommissariat überlegte er sich, weshalb sich alle über zugewanderte Irakis und Italiener, Tamilen und Eritreer, Griechen und Türken, Portugiesen und Spanier, Serben und Kroaten, Syrer und Iraner, aber niemand über die Invasion aus dem Norden aufregte. Immer noch in Erklärungsversuche versunken traf er im Polizeikommissariat ein.
Huber hatte die Dienstregeln für den Empfang weiter verschärft und den Eingangsbereich – unter Umgehung eines offiziellen Ausschreibungsprozesses – mit einem modernen System inklusive Kameras, Mikrofonen und Präsenzsoftware aufgerüstet. Jetzt musste die doppelte Besetzung während, eine einfache außerhalb der normalen Bürozeiten gewährleistet sein. Heimlich-hastige Raucherpausen waren unter Androhung von maximal zwei Verwarnungen und Disziplinarmaßnahmen untersagt.
Das Empfangskomitee links liegen lassend, ging Tagliabue auf den Fahrstuhl zu. Er drückte den Etagen-, danach den Knopf zum Schließen der Tür. Dort ließ er den Daumen, um Zwischenstopps zu unterbinden. Auf dem Weg nach oben konnte er das an- und abschwellende Fluchen und Klopfen der Wartenden hören. Oben angekommen, ließ er die Taste los, die Tür öffnete sich lautlos, er trat in den Flur. Tagliabue zuckte fragend mit den Schultern, setzte ein breites Grinsen auf. Vor ihm traten die Wartenden zur Seite.
Die Audio-Technica-Kopfhörer über den Ohren, die Füße auf dem Arbeitstisch und die Rückenlehne maximal nach hinten gestellt, interagierte Deubelbeiss mit seinem Computer. Der Assistent hatte seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu Huber für einen unbürokratischen Bezug seines wichtigsten Arbeitsinstruments eingesetzt. So hatte er die Abhängigkeit von seinem Direktvorgesetzten noch einmal minimiert, zugleich aber dessen Misstrauen maximiert.
Der Kommissar setzte sich und startete seinen PC. In seine Gedanken versunken, nahm er auf dem Bildschirm ein tanzendes E-Mail-Icon zur Kenntnis. Im Posteingang fand er eine Mail von Pirmin Deubelbeiss – perplex stellte er fest, dass sein Assistent über einen Vornamen verfügte. Noch mehr verwunderte ihn, dass ihm sein Gegenüber auf eine Distanz von wenigen Metern eine Mail geschrieben hatte.
«Können wir reden?», stand da ohne Anrede, Floskel oder Grußformel. Tagliabue war froh, dass nicht nur «kwr» zu lesen war, und überlegte, wie und auf welchem Kanal er antworten sollte. Er erhob sich bedächtig, bewegte sich zum Jüngeren, was der gar nicht bemerkte. Nach einigen Augenblicken vergeblichen Wartens lupfte der Kommissar die linke Kopfhörermuschel vom Ohr des Assistenten. Er hatte schon vorher überlegt, wie laut er sich bemerkbar machen sollte, um gehört zu werden.
«Ja», hauchte er in das geringe Lautstärken nicht gewohnte Ohr. Deubelbeiss fuhr zusammen, als ob jemand ganz unerwartet das Volumen voll aufgedreht hätte. Mit überraschender Behändigkeit und Eleganz stellte er seine besockten Füße auf den Boden, richtete sich kerzengerade im Bürostuhl auf, riss den Kopfhörer ganz von den Ohren. Dabei blieb sein Blick auf den Bildschirm fixiert.
«Ich habe Sie nicht gesehen», versuchte er sich tief durchatmend zu beruhigen.
«Sie wollen mit mir reden?», ignorierte der Kommissar die Bemerkung. «Sie glauben, dass ich Sie zu wenig in den Fall Schläfli integriere? Haben Sie das Ihrem Onkel verklickert? Er hat Sie im Rahmen Ihrer Privataudienz sicher über sämtliche Details informiert.»
Der Jüngere begriff nicht recht, der Ältere holte aus: «Es ist korrekt, dass ich Sie weder in die Pathologie noch zur Einvernahme der Putzfrau oder zum Gespräch mit Krämer mitgenommen habe. Und doch bin ich überzeugt, dass ich Sie über alle relevanten Sachverhalte genügend informiert habe. Fragt sich nur, welche Folgerungen Sie daraus ziehen.»
«So, wie es ausschaut, handelt es sich nicht um einen Suizid», sagte der Assistent, was der Kommissar hören wollte.
«Und unsere Verdächtigen?»
«Trueboy69 und die illegale Putze, die ihm den Haushalt und was weiß ich sonst noch besorgt hat.»
«Nicht zu vergessen unseren Schachspieler», flüsterte der Kommissar mehr zu sich als zu seinem Gegenüber.
«Ein Schachspieler», wunderte sich der, um sich erklären zu lassen, dass man das königliche Spiel notfalls auch an einem Brett und gegen menschliche Intelligenz spielen konnte.
«María Pinto», begann Tagliabue, «erwähnte im Gespräch einen jüngeren Mann, der Schläfli besucht habe, anscheinend, um mit ihm Schach zu spielen. Die Haushälterin hat ihn nie gesehen, ihm nie die Tür geöffnet. Das hat Schläfli erledigt. Oder der Unbekannte besaß einen Schlüssel.»
Hier hakte Deubelbeiss ein: «Dieser Punkt ist relevant, weil der Zutritt zur Villa und zum Tatort ohne jede Gewaltanwendung erfolgte. Dass der Schachspieler über einen Schlüssel verfügt haben könnte, ist nicht viel mehr als eine Möglichkeit. Im Gegensatz zur Putzfrau. Die hatte einen Schlüssel und freien Zugang zum Anwesen.»
«Das stimmt. Sie hatte den Schlüssel, aber kein Motiv. Vom Schachspieler wissen wir nichts. Wer bleibt noch?» Er behielt die Schlüsselszene mit dem jungen Anwalt für sich.
«Krämer.»
Der Ermittler wusste nicht, wie er auf die Antwort des Jüngeren reagieren sollte. Er nahm Platz, stand wieder auf. Um Zeit zu gewinnen, umkreiste er die beiden Pulte und näherte sich Deubelbeiss, der sich mit abnehmender Entfernung zunehmend unwohler fühlte. Der Ältere legte die linke Hand auf die Arm- und seine Rechte auf die Rückenlehne, kesselte den Jüngeren ein und beugte sich vor. «Krämer?», fragte er lauernd. «Wie kommen Sie auf die absurde Idee?»
«Ich habe mich noch einmal ein wenig umgesehen», begann der Assistent zögernd. Er wartete auf ein Zeichen, mit seinen Ausführungen fortzufahren oder zu stoppen. Er hörte und spürte aber nur den schleppenden, regelmäßigen Atem seines Chefs im Gesicht.
«Es gab offenbar ein Konto, das nur für Transaktionen zwischen Schläfli und Krämer benutzt wurde. Wobei die Beträge ...», Deubelbeiss wich dem Blick des Kommissars aus, «... immer in eine Richtung flossen.»
«Einfach damit ich die Übersicht nicht ganz verliere. Handelt es sich um ein weiteres Konto?»
«Sie haben es erfasst. Ihr Kopf scheint sich langsam zu erholen.»
«Lassen Sie mich raten», ignorierte Tagliabue die kurze Bemerkung und setzte sich auf das Pult. «Das Geld floss von Krämer an Schläfli. Wahrscheinlich, weil es bei seinem alten Freund aus besseren Zeiten geschäftlich nicht mehr rund lief.»
«Weshalb ein zweites Konto?»
«Das ist eine gute Frage.»
«Es handelte sich immer um eine beträchtliche, aber nie um die gleiche Summe. Da sind mehr als zwanzig Millionen zusammengekommen. Alle Aufträge wurden nicht an einem festgelegten Datum, sondern unregelmäßig ausgeführt. Als ob versucht worden wäre, kein Muster erkennen zu lassen und Nachforschungen zu erschweren.»
«Was, wenn Schläfli seinen Freund beklaut hat?» Dem Kommissar gefiel der Gedanke. «Das wäre mal ein Motiv. Über zwanzig Millionen sind für Krämer möglicherweise nicht so viel Geld. Aber sicher eine Frage des Prinzips. Vor allem wenn die Dinge auf dem ersten Konto auch nicht sauber liefen. Wann fing das mit den Überweisungen an?»
«Einige Zeit nach dem Verschwinden von Schläflis zweiter Frau. Das passt zum wirtschaftlichen Niedergang.»
«Da lebte er schon zurückgezogen, in der Öffentlichkeit wurde er kaum noch gesehen ...»
«Das stimmt so nicht.» Der Jüngere begann, an einem Nagel zu kauen.
«Wie meinen Sie das?»
«Sie und Lüthi haben dazu beigetragen, dass Schläfli von der breiteren Öffentlichkeit nicht so schnell vergessen werden konnte. Es dauerte etwas, bis Gras über die Sache gewachsen und er von jeder Schuld am Verschwinden seiner Gattin reingewaschen war.»
«Krämer hat sich eingemischt und alle seine Freunde bei der Polizei und dem Verlag aufgefordert, Lüthi und mir die Weiterarbeit im Fall Tatjana Schläfli zu verbieten. Das zeigt doch, dass an der Sache etwas faul war.»
«Es ist doch bemerkenswert, dass die Ereignisse zeitlich zusammenfallen», ging der Jüngere nicht auf den Gedanken ein.
«Weshalb?»
«Was, wenn sich Schläfli einfach bedient hat? Und Krämer hat es erst nach Jahren entdeckt?», hakte der Assistent nach.
«Glauben Sie, er hätte einen Angriff auf seine Bankdaten nicht bemerkt? Er hat trotz Ihrer Beteuerungen erfahren, dass wir seine Agenda missbraucht haben.» Der Kommissar versuchte, sich nicht aufzuregen: «Da ging es nicht um ein paar Millionen, sondern nur um einen Termin. Für die Kleinigkeit hat er mir einen bösen Denkzettel verpasst. Wie hätte er erst reagiert, wenn er erfahren hätte, dass ihm jemand so eine hohe Summe gestohlen hat?»
«Oder Krämer wurde von seinem Freund einfach erpresst», wechselte der Jüngere rasch das Thema und lehnte sich im Bürostuhl zurück, um wieder etwas mehr räumliche Distanz zu seinem Gegenüber zu gewinnen.
«Weshalb erpresst?» Der Kommissar begann, im Büro auf- und abzugehen.
«Weil er Geld brauchte – das liegt auf der Hand.» Der Assistent drehte den Kopf, um den Chef im Blickfeld zu behalten. Dieser stand unterdessen hinter ihm. Vorsichtshalber lehnte sich Deubelbeiss weit nach vorne und versuchte, den anderen als Spiegelung im Bildschirm zu beobachten.
«Das ist mir auch klar. Womit hat Schläfli den Kameraden Ihrer Meinung nach erpresst?»
«Wer täglich miteinander zu tun hat, kennt Geheimnisse, die den anderen erpressbar machen. Keine Ahnung, worum es ging. Aber Krämer hat gemerkt, dass das mit Schläfli nicht endet, und hat dann einen Schlussstrich – besser: einen Schlussstrick – gezogen. Für ihn dürfte es einfach gewesen sein, in Schläflis Villa zu kommen. Der hätte ihn jederzeit hineingelassen. Dazu benötigte er nicht einmal den Schlüssel. Vielleicht hatte er sogar einen.» Er schaute seinen Vorgesetzten an.
Der Kommissar ging zu seinem Pult, setzte sich, brachte den Bildschirm durch ein Bewegen der Maus zum Leuchten. Er überlegte, seinen Assistenten in die Schlüsselszene einzuweihen, entschied sich anders. «Dann bleibt nur die Frage, weshalb er sich ausgerechnet für diese Todesart entschieden hat.»
«Vielleicht wollte er genau das, was er fast erreicht hätte.»
«Dass wir von einem Selbstmord ausgehen und nicht weiter ermitteln?»
«Schön, wir denken gleich. Das wird noch was mit uns.»
«Der Strang», Tagliabue verdrehte die Augen, «ist sauber – man spricht von ‹trockener Hand›. Im Gegensatz zu jenen Methoden, wo Blut fließt.»
«Sie meinen, er wollte der Putzfrau nicht zu viel Arbeit aufbürden? Wie rücksichtsvoll. War sie denn auch ausgebildete Tatortreinigerin?»
Tagliabue schien vom Bildschirm abzulesen: «Schon früher hat man Gehenkte als Abschreckung und als Warnung hängen lassen. Denken Sie nur an die Western. John Wayne. Henry Fonda. Clint Eastwood. Charles Bronson. Yul Brynner.»
«Ich schaue keine Western. Und erst recht keine Spaghetti-Western.»
«Häufig wurden Diebe und Verräter gehenkt. Für Krämer war Schläfli beides.»
«Fragt sich, wie die Schlinge über den Kopf kam», gab der Assistent zu bedenken.
«Wenn der Täter Schläfli das Seil erst um den Hals gelegt und ihn dann hochgezogen hat?»
«Am Seil zeigt sich vieles, aber keine Zeichen von Abrieb.»
«Bleiben die Verletzungen an seinen Füßen.»
Gedankenverloren starrte Deubelbeiss zur Decke.
«Ich rede von malträtierten Füßen und Sie stieren gen Himmel. Erinnert Sie das an unseren Herrn? Oder warten Sie auf eine göttliche Eingebung?»
«Auf einem Konto wird ein Teil der Überweisungen sofort weitergeleitet. Über ein anderes fließen Millionen, nur um zu verschwinden. Unabhängig davon ist das Geld weder auf anderen Konten des Verstorbenen noch bei Krämer oder sonst wo auffindbar. Als ob sich diese Summen mir nichts, dir nichts in Luft aufgelöst hätten. Können Sie das erklären? Sie haben mehr Erfahrung in solchen Dingen.»
«Das Geld landete demzufolge weder bei Schläfli noch bei Krämer.» Tagliabue erhob sich. «Wohin ging es?»
«Nicht die leiseste Ahnung.»
«Und warum erfahre ich das erst jetzt?»
«Dass ich keine Ahnung habe? Ich bin davon ausgegangen, dass Sie sowieso davon ausgehen.»
Tagliabue versuchte, ruhig zu bleiben: «Sie haben also das Gefühl, dass Sie mich auch noch verarschen müssen. Passen Sie gut auf, mit wem Sie sich hier einlassen. Ich habe ein sehr beschränktes Maß an Humor und noch weniger Geduld. Für Sie wiederhole ich meine Frage gerne: Warum informieren Sie mich erst jetzt über die Sache mit den weiteren Transaktionen?»
«Das habe ich übers Wochenende herausgefunden. Während Sie wer weiß was machten. Digital waren Sie auf jeden Fall nicht aktiv. Analog wahrscheinlich auch nicht. Ich habe Ihnen geschrieben, dass ich mit Ihnen reden möchte. Diese Mail haben Sie erhalten und offensichtlich falsch verstanden.»
«Finden Sie endlich raus, wie sich das Geld aufgelöst hat. Ich habe üble Kopfschmerzen und gehe jetzt nach Hause.» Vor der Tür drehte er sich um: «Ich will, dass Huber nichts von den Recherchen erfährt, bevor wir den Täter haben.»
Kurz darauf stand der Kommissar bereits auf der anderen Seite der Bürotür. Deubelbeiss’ Reaktion hatte er schon nicht mehr mitbekommen. Er nahm die Treppe. Der Empfang war leer, hinter dem dicken Sicherheitsglas war niemand zu sehen. Erleichtert, auch die letzte Hürde problemlos überwunden zu haben, stand er im Freien und machte sich sofort auf den Weg.
In seiner Brusttasche spürte er das lautlose Vibrieren des iPhones – vielleicht würde die SMS die Ziellosigkeit beenden. Er hoffte im besten Fall auf ein Lebenszeichen von Jade, im zweitbesten auf eine SMS von Lüthi. Nervös klaubte er sein Smartphone aus der Tasche: «Erlauben Sie sich nicht, einfach abzuhauen. In 5 Min. bei mir im Büro. MG. Dr. B. Huber.»
Nur kurz zog Tagliabue in Erwägung, den Befehl des Chefs zu ignorieren und so zu tun, als habe er die Nachricht nicht erhalten und gelesen. Da er sich aber nicht sicher war, ob es Möglichkeiten gab, den Empfang und das Öffnen von SMS zu kontrollieren, entschloss er sich zur Umkehr. Jedoch ohne sein Kommen anzukündigen – wenigstens diesen Überraschungsmoment wollte er dann doch auf seiner Seite wissen.
Am Empfang warteten die beiden Damen. «Sie werden schon von Herrn Dr. Huber erwartet», lachte die ältere der zwei und beobachtete ihn aufmerksam. Im Vorbeigehen sah er in einem der neuen Bildschirme, wie er vor wenigen Augenblicken den Flur entlanggeeilt war und von einer Kamera an die nächste weitergegeben worden war.
Ohne zu klopfen, trat er in Hubers Vorzimmer, wo man ihn erwartete. Dass keine Magazine auf dem Pult ausgebreitet lagen, ließ ihn vermuten, dass die Assistentin im Zuge der Modernisierung zu digitalen Kreuzworträtseln und Sudokus gewechselt hatte. Für ihn war deren Konzentration auf die aktivierte Bildschirmoberfläche nicht anders zu erklären.
«Sie werden vom Herrn Doktor erwartet», ließ sie sich, ohne zu grüßen, hören. Mit einem flinken Fußstoß drehte sie den Stuhl, um ihn genau in der Position zu stoppen, in der sie den Kommissar am besten beobachten konnte. Außer einem angedeuteten Kopfschütteln gab sie nichts von sich.
«Da drin?» Tagliabue deutete auf die Tür und legte eine Pause ein. Er sah Keiser an und erkannte eine Frau, die alt geworden war. Obwohl sie sich für ihren neuen Chef, für eine neue Chance in ein neues Outfit und wohl in Unkosten gestürzt hatte. Der Ermittler hätte ihr fieses Grinsen mit einem Wort vernichten, ihre Fassade einstürzen lassen können. Aber zwischen all den Falten und anderen Zeichen, welche die Jahre in ihr Antlitz eingraviert hatten, erkannte er bei näherem Hinsehen auch die herbe Enttäuschung über sich, ihr vergebenes Leben und die schiere Verzweiflung, dass sich daran nicht mehr viel ändern ließ. Er erblickte ihre geblähten Backen, die ihn an den abgewetzten und gehetzten Hamster im unendlichen Laufrad des endlichen Lebens erinnerten. Er wandte sich ab. Sie tat ihm mehr als leid.
Erneut ohne zu klopfen, trat der Kommissar ins Büro des Kommandanten. Er war überzeugt, dass der Besuch mittels Glocke oder Summer vorangekündigt war. Wenn nicht, auch egal. Schließlich hatte er sich an die zeitliche Vorgabe von fünf Minuten gehalten.
«Schön, Sie zu sehen, lieber Tagliabue», wurde er einen Hauch zu freundlich begrüßt. Seine Anspannung und seine Aufmerksamkeit stiegen. Wie vor vielen Jahren, als ihm die Kinder aus dem Quartier übertrieben freundschaftlich begegneten. Um den Tschinggen in einen umso brutaleren Hinterhalt zu locken.
«Nehmen Sie eine mit Schokolade überzogene Kaffeebohne. Ich brauche jetzt eine Portion Koffein und etwas Süßes – jeder besitzt eine Schwäche, nicht wahr?» Huber streckte ihm die Glasschale mit seiner Linken entgegen und wies ihm mit seiner Rechten den Platz. Diese Gleichzeitigkeit der Aktivitäten schien ihn an den Rand der koordinativen Fähigkeiten gebracht zu haben.
«Danke», winkte der Besucher ab. «Wenn schon ein richtiger Kaffee oder gar nichts.»
Mit der Glasschale zog Huber das Angebot zurück. «Und wo stehen wir bei unseren Ermittlungen im Fall Schläfli», gelang es ihm mehr oder eher weniger, seine Verärgerung zu kaschieren. «Tut mir außerordentlich leid, dass ich Sie aus Ihrem wohlverdienten Frühfeierabend zurückgeholt habe. Aber ich muss mich mit Ihnen unterhalten.» Er drückte sich gleich zwei dunkelbraune Dragées in den Mund und übergab das Wort so an sein Gegenüber.
«Wie Sie wahrscheinlich wissen», startete Tagliabue die Ausführungen und repetierte bis ins Detail das, was er herausgefunden hatte.
Zwanzig Minuten später setzte er zu seinem Schlussvotum an: «... sprechen mehrere Indizien sowie das Motiv für die plausible Möglichkeit, dass unser Krämer in den Tod von Schläfli zumindest involviert war.»
Ruhe.
Gedankenverloren warf sich Huber eine Handvoll aufgeweichte Schoko-Kaffee-Bohnen ein. Er ließ sich die Worte und Süßigkeiten auf der Zunge zergehen. Das laute Mahlen ließ erkennen, dass er zum Kern der Sache vorgedrungen war.
Der Polizeikommandant beugte sich zum Stuhl neben sich, förderte ein Laptop zutage. Mit nur einem Tastendruck startete er das Gerät, platzierte es vor Tagliabue. Der erkannte die Szene auf dem Bildschirm sofort: Sah, wie er und Krämers Anwalt an einem Tisch saßen, wie Tagliabue das Couvert mit dem Schlüssel über den Tisch in die Richtung des Gegenübers schob. Was dieser sofort mit einer resoluten Gegenbewegung erwiderte. Womit der Umschlag wieder vor dem Polizisten ruhte.
«Das Dokument der Überwachungskamera habe ich von Herrn Krämer erhalten. Mit der Bitte, Sie nicht zusätzlich in Schwierigkeiten zu bringen. Obwohl Sie mehr als offenbar versuchen, ihm irgendwelches Material unterzujubeln, hat er sich für Sie und Ihren Job eingesetzt. Ich habe keine Ahnung, weshalb, und ich weiß nicht, welcher Teufel Sie bei dieser Aktion geritten hat.» Huber suchte nach einer eleganten Möglichkeit, sich seine schokoladebesudelten Hände abzuwischen. «Was war im Couvert? Wagen Sie nicht, mich anzulügen!»
«Ein Schlüssel zu Schläflis Haus.»
Der Polizeikommandant schüttelte den Kopf, holte ein Papiertaschentuch aus einer Büroschreibtischschublade, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen. «Zum dritten Mal. Zum dritten Mal erfolglos.» Er putzte einen Finger nach dem anderen, als ob er jeden Fall noch einmal einzeln abzählte. «Signor Tagliabue glaubt an eine Verschwörung. Muss an seinen Wurzeln liegen. Ist das nicht pathologisch? Haben Sie es schon mal mit dem Arzt versucht? Ich habe gehört, unser Psychologischer Dienst soll sehr gut sein. Wenden Sie sich doch an unser care team.»
Der Kommissar hatte aufmerksamst zugehört und sich dazu durchgerungen, nichts zu erwidern. Die Taktik hatte er schon bei der GammaG verfolgt.
«Dass Sie den Fall Schläfli trotz all ihrer Befangenheit zugeteilt bekommen haben, kann ich mir allein mit Ihrer Freundschaft zu meinem Vorgänger erklären. Ich meinerseits hätte nicht nur in dieser Personalie anders entschieden. Aber weil Sie bis auf weiteres alle Ermittlungsresultate verantworten, gelten für Sie folgende zwei Befehle.» Huber beugte sich etwas über die Tischplatte und setzte ein drohendes, schräges Lächeln auf: «Erstens», streckte er den sauberen rechten Daumen in die Luft, «bringen Sie mir endlich einen Täter. Zweitens», mit dem Zeigefinger, «und mit Punkt eins eng verbunden: Suchen Sie nicht bei Krämer. Falls Sie die eine oder gar beide Vorgaben nicht innert nützlicher Frist erfüllen, muss ich Ihnen diesen Fall entziehen beziehungsweise ein Disziplinarverfahren anstrengen. Machen Sie sich an Ihre Arbeit. Ich gebe Ihnen noch einmal – auch weil es Hans Krämer gewünscht hat – die Chance, den Fall zur Zufriedenheit aller Beteiligter zu lösen. Aber möglicherweise sind Sie nach Ihrem Zwischenfall gar nicht mehr fähig, diesen Auftrag zum Abschluss zu bringen. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie werden es nötig haben.»
Reaktionslos stand der Kommissar auf, begab sich zur Tür und öffnete sie. Wortlos passierte er Keiser, die kurz vom Bildschirm aufsah, um sich wieder dem Online-Einkauf zu widmen. «Die Bluse wird Ihnen stehen. Der Doktor wird sie lieben», verabschiedete sich Tagliabue.
Genauso verblüfft wie die Assistentin war Deubelbeiss, als sein Vorgesetzter, der sich vor einer Viertelstunde abgemeldet hatte, völlig unerwartet im Büro auftauchte, zu seinem Pult ging, die obere Schublade aufriss, etwas herauszog, in die linke Hosentasche rutschen ließ und wortlos wieder verschwand. Mit weit geöffnetem Mund sah der Assistent aus wie ein Karpfen an Land oder einst Boris Becker vor einem Aufschlag in Wimbledon.
Hinter der Bürotür kontrollierte Tagliabue, ob er in der Eile den richtigen Schlüssel erwischt hatte. Am Empfang hatte ein alter Portier Position für die Nacht bezogen. Seine volle Aufmerksamkeit galt dem winzigen Bildschirm unmittelbar vor ihm, auf dem aber nicht die Bilder einer der vielen neuinstallierten Kameras zu sehen waren.
Kaum trat der Kommissar in die Straße, wiederholte sich das Vibrieren in der Hose. Trotz der Angst, dass sich erneut Huber melden könnte, fischte er das iPhone aus der Tiefe. Erleichtert und enttäuscht über Jades Dickköpfigkeit, ließ er das Handy wieder in die Tasche gleiten: Der Hinweis auf den verpassten Anruf von Deubelbeiss schimmerte noch für kurze Zeit durch den dunklen, dünnen Stoff.
Je weiter er sich vom Polizeipräsidium und -kommandanten entfernte, desto weniger hatte der Ermittler Lust, bei der Lösung des Falles keine Zeit mehr zu verlieren. Er beschloss, seinen Alfa mindestens eine weitere Nacht in der Garage zu lassen und keinen Gebrauch vom Schlüssel in seiner Tasche zu machen. Abrupt änderte er den Kurs Richtung Strega, wo die üblichen Gäste zu überteuertem Weißwein würfelten. Mit einem schwachen Zunicken – die scheppernde Musik hätte jedes Wort übertönt – grüßte er ins Leere, um auf der anderen Seite des Tresens Platz zu nehmen. Er orderte ein Glas Bier, nicht lauwarm, das er wenig später trotzdem so erhielt.
Nachdem er mehrere Gläser geleert hatte und noch nicht genug besoffen war, um die Tänzerinnen vor ihm attraktiv oder wenigstens erregend zu finden, legte er den Betrag auf den Tresen, der das kleinstmögliche Trinkgeld ergab. Was bei der Bardame erste richtige Emotionen hervorrief. Ohne sich um das leise, aber deutliche Fluchen und die Reaktionen der zwei Glücksspieler zu kümmern, schritt er aus der Strega, um wenig später vor einem neuen, wieder lauen Bier zu sitzen. Er begann, das Gebräu mit billigem Gebrannten zu ergänzen.
Diese Taktik setzte er auch über die folgenden Stationen seiner nächtlichen Runde mit aller Konsequenz fort. Die letzte Etappe, an die er sich zu erinnern vermochte, war die Bar-Tout und der Umstand, dass er die Rechnung nicht hatte begleichen können und deswegen anschreiben ließ.