Mit Brummschädel, klammen Fingern, steifem Rücken wachte Tagliabue auf. Er brauchte einige Zeit, bis er sich im Schrebergartenhaus wusste. Der datierten Quittung neben der Liege entnahm er, dass er am frühen Morgen mit einem Taxi eingetroffen war. Er schaffte es jedoch nicht mehr, sich zu erinnern, wer den Chauffeur quer durch die Stadt gelotst und ihm ins Holzhaus geholfen hatte. Weil ein Taxifahrer sein Auto um die Zeit nicht unbewacht in der gottverlassenen Gegend hätte stehen lassen, blieben noch zwei Möglichkeiten: Tagliabue hatte es trotz Vollrausch geschafft, den einsamen Weg allein zu finden. Dass er nicht in die Stadtwohnung gegangen war, verdeutlichte ihm lediglich, wie betrunken er die vorige Nacht gewesen sein musste. Die zweite Theorie beunruhigte ihn mehr: Die einzige Person, die außer ihm das Versteck zwischen den zwei Autobahnen kannte, war Jade.
Mit Hilfe der Quittung hätte er in der Zentrale anrufen, sich nach dem Taxifahrer erkundigen und diesem ein paar Fragen stellen können. Es sah aber so aus, als seien der Name des Chauffeurs sowie die Nummer des Taxis extra so unleserlich hingekritzelt worden, um genau das zu verhindern. Auch die Tatsache, dass er ins Niemandsland geliefert worden war, ergab aus der Distanz betrachtet Sinn. Man wollte ihn in diese verwaiste Gegend zwingen, damit er sich Gedanken machte. Zu seinem Alkoholkonsum, zu seinem Leben im Allgemeinen, zu beruflichen Ambitionen im Speziellen.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wuchs die Vermutung zur Tatsache, dass Jade ihn bis zum Sofa begleitet, ihn mit der Decke gegen die nächtliche Frühherbstkälte im nicht isolierten Bretterverhau geschützt hatte. Er selbst wäre in seinem Zustand physisch und gedanklich kaum dazu in der Lage gewesen.
Der Ermittler richtete sich auf und versuchte, sich zu sammeln, seine Erinnerungsfragmente zu einem plausiblen Ganzen zusammenzusetzen. Nachdem ihm dies trotz einiger Versuche nicht gelungen war, gab er auf. Er erhob sich mühsam, schleppte sich zur Kochnische, um die Bialetti mit Wasser zu füllen, mit Kaffeemehl zu stopfen und die Einzelteile zu einer Einheit zusammenzuschrauben. Während der kleine Gaskocher sein Bestes gab, wusch und kämmte er sich behelfsmäßig ohne jede Möglichkeit, seine verrauchten, verschwitzten und verdreckten Kleider gegen frische einzutauschen. Seine Notreserve hatte er bereits aufgebraucht und nicht wieder ersetzt. Als olfaktorische Erleichterung riss er die Tür des Holzhäuschens auf. Er stellte fest, dass keine Post für ihn gekommen war.
Er ließ die Tür, soweit es eben ging, offen, und kehrte zur Kaffeemaschine zurück: Trotz jahrelanger Erfahrung traute er dem Prinzip nicht. Wie am ersten Tag, an dem er die Aluminiumkombination auf den Herd gestellt hatte, überkam ihn die Angst, dass mit der kleinen 3 tazze die Schrebergartenkolonie, ja die ganze Großstadt in die Luft fliegen, sich gar vollständig auflösen könnte. Er verbrannte sich die Finger, die schwarze Griffisolation war teilweise abgesprungen. Tagliabue steckte sich die betroffenen Finger zwecks Abkühlung in den Mund, zog sein Hemd aus der Hose, um es als Topflappen zu missbrauchen, und stellte die Bialetti auf den Holztisch. Nachdem er endlich die Tasse und den noch viel wichtigeren Zucker gefunden hatte, trank er den Kaffee im Stehen.
Schluck für Schluck kehrte seine Präsenz so weit zurück, dass er sich klare Gedanken zum weiteren Verlauf seines bevorstehenden Wochenendes machen konnte. Kaum Empfang, kein Strom, keine Ablenkung: Das war der Ort für eine zweitägige Retraite. Flüchtig warf er einen Blick in den Schrank. Die Beutelsuppen würden reichen, auch wenn ihre Verfalldaten ziemlich weit in der Vergangenheit lagen –Hauptsache, es gab genügend Kaffee. Alkohol stand jetzt nicht zuoberst auf seiner Prioritätenliste.
Kaum hatte er sich mit dem Exil zwischen all den Leuten, die ihre Schrebergärten ernst nahmen, abgefunden, begann er sein iPhone zu suchen. Nach erfolglosen Versuchen in den Taschen und auf allen Oberflächen der wenigen Möbel fand er das Gerät zwischen seinen Büchern der winzigen Bibliothek. Er hätte sein Telefon kaum dorthin gelegt. Allerdings konnte er das nur für die nüchterne Ausgabe von sich behaupten.
Erfolglos versuchte er, das iPhone in Betrieb zu setzen. Was ihm wegen des leeren Akkus nicht gelang. Er stürzte zwei der drei Tassen Kaffee hinunter und machte sich auf den Weg durch die Nachbarschaft.
Schnell fand er einen älteren Griechen – die Schweizer fragte er erst gar nicht, weil er die Antwort kannte –, der kein einziges Wort Deutsch sprach, ihm aber sein Solarladegerät auslieh. Auf dem Rückweg wunderte sich der Kommissar einmal mehr darüber, mit wie viel Liebe und Akribie diese Anlagen gehegt und gepflegt wurden – bis auf die Abmessungen glich kein Garten einem anderen. Öfter blieb er verblüfft stehen, erwiderte die jovialen Grüße der Inhaber, die, ebenso misstrauisch wie stolz, an die Grenzen ihrer Mini-Königreiche gekommen waren. Der Eindringling fühlte sich an die Geschichte von Jim Knopf und Lukas, dem Pfeife schmauchenden Lokführer, erinnert. Auch Drachen lugten ab und an hervor. Um nachzusehen, wo ihre Männer nun schon wieder steckten.
Auf dem Rückweg strich er an seiner Hütte vorbei. Er musste bis zum Haupteingang wandern, um den gewohnten Pfad zu nehmen. Erst da fand er seinen Schrebergarten in ungewohnter Ordnung: Sein Rasen war nicht bloß perfekt gemäht, sondern, wie die bis dahin brachliegenden Beete, gejätet worden. Wasserfass und Dachrinne waren wieder verbunden, der grünliche Gartenschlauch hing pingelig exakt aufgerollt am Haken, die Schlingpflanzen an Haus und Zaun präsentierten sich gestutzt, der kurze Kiesweg erstreckte sich wieder einmal befreit von jedem Unkraut und sauber geharkt vom Tor zur Tür. Verunsichert blieb der Polizist eine Zeitlang stehen und trat erst ein, als er die absolute Gewissheit hatte, tatsächlich vor seiner Anlage zu stehen.
Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, sich Gedanken zum Fall Schläfli zu machen, investierte er die zur Verfügung stehenden Ressourcen in die Lösung dieses Rätsels: Ob Alkoholexzess oder nicht, konnte er sich bei allerbestem Willen nicht vorstellen, dass er die Anlage persönlich in Ordnung gebracht hatte. Plausibler schien da die Vermutung, dass seine Nachbarn präventiv alles auf Vordermann gebracht hatten, um eine Verbreitung der wilden Pflanzen und des Unkrauts in ihre Gärten zu verhindern.
Er beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, und machte sich nochmals auf die Reise durch die Anlage. Er erwarb und – je nach Gutmütigkeit der Gärtner – erschnorrte sich eine breite Palette an Saatgut und ließ sich noch zu Dünger und Pestiziden, zu Erde und Wasser, zu Mondphasen und Sonneneinstrahlung informieren.
Mit dem letzten Sonnenstrahl, später ließ es die Gartenordnung gar nicht zu, pflanzte er seine ersten Zucchetti. Ein alter Italiener hatte ihm dazu geraten, diese, weil ein Nachtschattengewächs, bei möglichst schwachem Licht zu setzen. Der Kommissar fühlte sich völlig verdreckt und verschwitzt, vor allem aber hundemüde. Ohne etwas zu essen – die letzte Suppe hatte er am Mittag in der Tasse kalt werden lassen –, wickelte er sich in die Decke, legte sich aufs Sofa.
Am Montagmorgen kratzte er seinen letzten Kaffee aus der Dose, presste das dunkelbraune Pulver in den Filter, um auch das allerletzte Quäntchen Koffein herauszuholen. Er nabelte sein iPhone ab, das zwischenzeitlich zur Hälfte geladen war, und entschloss sich, keine Zeit mehr für das Zurückbringen des Ladegeräts zu besitzen. Beim Verlassen seines Holzhüttchens verschloss er die Tür nicht. In der kleinen Hoffnung, dass jemand während seiner nächsten Anwesenheit auch noch für perfekte Ordnung im Holzhaus sorgen würde. Das Gartentor stand ohnehin immer offen.
Kaum hatte er das von Rosen überwachsene Anlagentor passiert – ein Geschenk der Stadt zur Einweihung der Siedlung, mit der man die armen, selbstversorgenden Fremden mit all ihren Problemen und Messern aus dem Stadtzentrum an den Rand zu lotsen beabsichtigte – begann es in Tagliabues rechter Hosentasche dank des zurückgekehrten Empfangs wie wild zu zucken. Aus Angst, Jade oder, was noch viel abwegiger schien, papà auf dem Display zu lesen, holte er das Handy nach einer Verzögerung aus der Tasche. Es dauerte, bis er sich an die Zahlenkombination erinnern konnte.
Insgesamt zwölf Anrufe waren unbeantwortet geblieben. Alle von Deubelbeiss. Der erste kurz nachdem Tagliabue den Arbeitsort fluchtartig verlassen hatte. Komplettiert wurde der Anruf-Tsunami durch eine very short message: «Trueboy69 ist zurück.» So schnell er konnte, rannte der Kommissar zur Tramendhaltestelle, verzichtete dabei auf den Gratis-Kaffee und ein Rencontre mit dem Pöstler.
Als er im Büro eintraf, waren dreißig Minuten vergangen. Offenkundig hatte Deubelbeiss nicht mit ihm gerechnet. Der Kollege lag vor seinem Bildschirm, schlief tief und fest. Was bei dem Krach aus seinem Kopfhörer unmöglich schien.
Vorsichtig näherte sich der Vorgesetzte dem Assistenten. Nach etwas Suchen fand er die Lärmquelle, veränderte die Lautstärke. Es dauerte etwas, bis der andere beinahe vom Bürostuhl kippte und die Kopfhörer herunternahm.
«Guten Morgen.» Tagliabue begab sich zu seinem Platz und betrachtete mit Schadenfreude, wie sich sein Assistent zu sammeln und aufzurichten versuchte.
«Ciao.» Deubelbeiss kramte seinen Kopfhörer zusammen und setzte sich aufrecht auf den Stuhl. Er sah übernächtigt, bleicher, noch einseitiger ernährt und noch ungepflegter aus als üblich.
«Sie würden den Zombies aus diesen amerikanischen Serien Angst und Schrecken einflößen. Was haben Sie denn das Wochenende über gemacht?»
«Ich habe rund um die Uhr Sport getrieben.» Grinsend lehnte sich der Jüngere zurück und fixierte den Chef.
«So wie Sie aussehen, haben Sie sich tatsächlich richtig ausgekotzt. Sie sind das vorgezogene Bild Ihrer eigenen Leiche.»
«Das passt», und als Reaktion auf den fragenden Ausdruck auf dem Gesicht des Älteren: «Wir haben e-Sport gemacht. League of Legends. Es hat mich ein paar Mal erwischt und ich bin jedes Mal zurückgekommen.»
«Und das auf Ihrem Computer?»
«Das sieht niemand, falls Sie das meinen.» Dann, kleinlaut: «Warum sind Sie an einem Montagmorgen schon so früh da?»
«Ich habe heute Morgen eine SMS erhalten und gelesen, um sofort hierherzuhetzen», half er seinem Assistenten auf die Sprünge.
«Klar, jetzt erinnere ich mich wieder.» Er klatschte sich die Linke theatralisch auf die Stirn. «Ja, genau, Trueboy69 ist wieder aufgetaucht. Ich hatte ihn seit seinem Kommentar auf dem Radar, und peng: Am letzten Freitag, nachdem Sie das Büro verlassen haben, erscheint er auf meinem Bildschirm. Als ob er Ihnen extra aus dem Weg gehen wollte. Wofür ich natürlich vollstes Verständnis habe.»
Tagliabue forderte den Assistenten mit einer ungeduldig kreisenden Handbewegung auf, mit seinen Ausführungen fortzufahren.
«Interessanterweise meldete er sich auch jetzt wieder bei diesem Boulevardblatt, aber in einer anderen Rubrik: Ich gebe Ihnen drei Versuche ...»
«Langweilen Sie mich nicht. Heraus mit der Sprache!»
«In den Kontaktanzeigen.»
«Und jetzt?» Tagliabue schnitt ein dämliches Gesicht, das wegen seines Bartes aber nicht richtig zur Geltung kam.
«Nicht er sucht sie, sondern er sucht ihn», erklärte der Assistent etwas genervt.
«Und weiter?»
«Der wahre Junge ist schwul oder bi. Und was die beiden Zahlen zu bedeuten haben, lässt sich unschwer erahnen.»
«Dafür werden Sie nicht bezahlt», wich der Kommissar aus, «sondern für Fakten. Weiter!»
«Was weiter?»
«Was steht im Inserat?»
«Dass er wieder in der Stadt sei und sich nur an seriöse und gepflegte, wohlhabende und etwas ältere Männer mit Niveau richte. All der Scheiß, der in Inseraten steht, in denen arme Frauen reiche Männer suchen und offenbar finden.»
«Sie scheinen sich ausgezeichnet auszukennen. Dazu noch etwas: Sie klingen älter als mein lieber Großvater, der sein kleines, italienisches Dörfchen ein Leben lang nie verlassen hat und zum Ersatz für die große, weite Welt jeden Sonntag in die kleine Kirche ging, um sich das Paradies versprechen zu lassen, falls er sich an all die Vorgaben des Vatikans und des Dorfpfarrers hielt. Dazu gehörte auch, dass er ein Leben lang mit meiner Großmutter schlief, obwohl er sich vielleicht in eine andere Frau oder – Gott bewahre – gar in einen Mann verliebt hatte. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht? Und ich meine nicht über meine nonna oder meinen nonno. Aber lassen wir das. Geht mich gar nichts an. Zurück zu unserem Fall.»
Es dauerte ein Weilchen, bis Deubelbeiss seine Gedanken wieder organisiert hatte. «Im Inserat stand eine E-Mail-Adresse, um mit Trueboy69 Kontakt aufzunehmen.» Feixend fixierte er den Kommissar.
«Was grinsen Sie so blöd», blaffte der zurück. Er ahnte schon, was jetzt auf ihn zukommen könnte.
«Ich bin äußerst erleichtert», begann der Jüngere, «dass Sie in Ihrem fortgeschrittenen Alter Ihre Weltoffenheit bewahrt haben, um allem und jedem eine Chance zu geben.»
«Wie meinen Sie das?»
«Ich habe ein Kennenlern-Date zwischen Ihnen und Trueboy abgemacht. Schließlich treffen die im Inserat genannten Kriterien auf mich nicht zu. Zwar sind Sie vermutlich nicht wohlhabend – bei unseren Löhnen – und nicht sehr niveauvoll, aber immerhin recht seriös und, mit Ausnahme von heute, meistens gepflegt und sicherlich ein älterer Herr. Darum habe ich Sie angemeldet.»
«Wann?» Mehr brachte Tagliabue nicht zustande.
«Gleich morgen Abend, Huber hat es schließlich eilig. Um Punkt zwanzig Uhr. Er freut sich. Ich hoffe, Sie müssen darum nichts Privates abblasen. Denn, kreuzen Sie nicht rechtzeitig am rechten Ort auf, wird unser – was ist er eigentlich? – Verdächtiger, unser Zeuge misstrauisch und lässt sich eventuell nicht mehr aus dem Loch locken.»
«Und wo?»
«Castro», nannte der Assistent mit breitest verfügbarem Grinsen eine weit über die Stadt hinaus bekannte Bar, die einem international bekannten Theateragenten gehörte, der mit dem einzigen Berater einer kleinen PR-Agentur liiert war.
«Wie identifiziere ich die Verabredung? Das Lokal wird wie immer proppenvoll sein.»
«Sie brauchen nicht nach einer Rose am Revers Ausschau zu halten. Trueboy interessiert sich offensichtlich für modernes Design und Innenarchitektur. Da haben Sie beide etwas gemeinsam und ein Gesprächsthema für einen schönen Abend. Vielleicht wird mehr draus.»
«Und wie erkenne ich dieses Interesse für modernes Design und Innenarchitektur? Ich vermute, im Castro verkehrt – sie brauchen gar nicht so doof zu grinsen, so habe ich das nicht gemeint – eine breite Kundschaft mit Affinität zu den schönen Dingen des Lebens.»
«Er hockt in der Lounge mit einer Designzeitschrift auf dem Beistelltisch. Auf der Titelseite ist ein Designer-Stuhl abgebildet.»
«Immerhin. Und der Name?»
Mit seiner Mimik brachte Deubelbeiss unmissverständlich zum Ausdruck, dass er die simple Frage nicht verstanden hatte.
«Unter welchem Namen», der Kommissar streckte sich weit nach vorn, «haben Sie mich angemeldet? Ich gehe mal davon aus, dass Sie einen falschen Namen angegeben haben, oder?» Er fixierte den jüngeren Partner zwischen den Bildschirmen hindurch. Der versuchte dem fragenden Blick des Chefs auszuweichen.
«Ich habe keinen Namen angegeben. Es liegt an Ihnen, ob und als wer Sie auftreten wollen.»
«Wie wollen Sie denn wissen, dass es sich bei Trueboy um unseren Mann handelt? Dass er keine Frau ist?»
«Ich weiß beides nicht. Aber zu Ihrer ersten Frage: Die E-Mails stammen vom gleichen Computer, von dem die erste message nach Schläflis Tod versendet wurde. Es handelt sich um einen für alle Studenten verfügbaren Computer der Universität – Fakultät für Architektur. Es scheint sich um einen angehenden Architekten oder um eine Lehrperson zu handeln. Passt auf jeden Fall perfekt zum vereinbarten Erkennungszeichen», sagte der Assistent und fingerte an seinem iPad herum.
«Vielleicht gehört er zum Personal, putzt nur die Zimmer und nutzt dabei die Gelegenheit, um E-Mails auf doppelte Kosten seines Arbeitgebers zu versenden», gab Tagliabue zu bedenken.
«Das begreife ich nicht.»
«Ist das denn so schwierig? Zuerst verschickt er E-Mails während seiner Arbeitszeit und dann benutzt er auch noch die ganze Infrastruktur der Hochschule gratis.»
«Ich denke nicht, dass sich Facility Manager, oder wie sich das Reinigungspersonal heutzutage nennt, während den Vorlesungen an einen der Computer setzt, um private Mails zu schreiben. Denn die E-Mails wurden nicht in Randstunden verschickt, sondern zu Zeiten, in denen im Normalfall Hochbetrieb herrscht und zu wenige Computer zur Verfügung stehen. Möglicherweise handelt es sich um einen Mitarbeiter des Supports oder einen externen Techniker, die nur ab und zu an die Geräte kommen. Das könnte die Pause zwischen den Mails erklären. Immerhin erwähnt er in der zweiten E-Mail, dass er wieder in der Stadt sei. Mit Ihrem Geschick finden wir morgen heraus, ob es sich um einen Professor, einen Studierenden oder um eine Putzkraft handelt. Apropos: Wo steckt eigentlich Ihre Frau Pinto?»
Nur kurz überlegte Tagliabue, auf die Frage einzugehen. Entschied dann aber, aufzustehen und seinen Partner ohne Antwort und Worte sitzenzulassen.
An der Bürotür drehte er sich um: «Finden Sie es nicht spannend, dass er unter demselben und nicht unter einem anderen Namen wieder auftaucht? Entweder er fühlt sich sehr sicher in seiner vermeintlichen Anonymität, oder er hat mit unserer Sache nichts zu tun. Immerhin ein Lokal, das ich noch nicht gut kenne.»
Er öffnete die Tür von der einen und schloss sie von der anderen Seite.
Die Entscheidung, keine Bar zu berücksichtigen, Lüthi nicht anzurufen, und sein Verdacht, verfolgt zu werden, führten dazu, dass er den Heimweg in rekordverdächtiger Zeit zurücklegte. Treppenhaus und Wohnung verwaist. Nirgends eine Nachricht. Von niemandem.
Ernüchtert schälte er sich aus den Kleidern, die er vier Tage ohne Unterbruch getragen hatte. Er schritt zur Dusche, drehte das Wasser auf und pirschte nackt zum Kühlschrank. Den langen Schluck aus dem angebrochenen Karton, der einst Milch, inzwischen eine Art Flüssigkäse enthielt, konnte er erst nach seinem Sprung zur Spüle ausspeien. Dabei vergaß er jede Vorsicht: Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass er seiner Nachbarin auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs den baren Hintern präsentiert hatte. Was diese mit erfreutem, freundlichem und anerkennendem Kopfnicken quittierte. Er ergriff das Küchentuch, schlang es um die Hüfte, um es wieder fallen zu lassen, sobald er sich außer Sicht wusste.
Er stieg in die Duschkabine und stellte sich unter die Brause, die endlich das gewünschte Heißwasser von sich gab. Mit dem Schmutz fiel die ganze Anspannung von ihm. Als der Warmwasservorrat früher als erhofft erschöpft war, hatte er immer noch keine, auch nur ansatzweise überzeugende Hypothese. Nach einem zweiten Blick in den Kühlschrank und zur Nachbarin, die am Fenster sitzend auf den nächsten Auftritt wartete, orderte er bei einem Chinesen um die Ecke etwas zu essen. Bis der vorherige Wirt das Handtuch geworfen hatte, war das Restaurant bekannt für Spezialitäten aus dem Kanton Graubünden gewesen, jetzt für seine kantonesische Küche.
Per Velokurier traf das Essen eine halbe Stunde später immer noch recht heiß vor der Wohnungstür ein. Was den Empfänger zu einem großzügigen Trinkgeld veranlasste. Er fragte sich, wie der Lieferant durch die verschlossene Haustür unten gekommen war, ohne bei ihm zu klingeln. Er legte die Sicherheitsgedanken zugunsten seiner Chopsticks beiseite und konzentrierte sich auf sein Essen. Die Anstrengung und die vorangegangenen Nächte mit sehr wenig und erst noch schlechtem Schlaf forderten ihren Tribut. Ohne die Zähne zu putzen oder einen Gedanken an Jade zu verschwenden, legte er sich in seinem Diadora-Trainer ins Bett, um sofort einzuschlafen. Und erst nach Mittag aus dem todesähnlichen Schlaf aufzuwachen.
Es dauerte eine Weile, bis der Ermittler seine Gedanken und die Wohnung geordnet hatte. Am meisten Zeit kosteten ihn aber die Wahl einer unauffälligen Garderobe und die Überlegung, den Bart zu rasieren oder zu behalten. Er sprach sich gegen das rosa Hemd, das ihm seiner eigenen Meinung nach besonders gut stand, und für ein blaues Modell mit feinen weißen Streifen, dunkler Knopfleiste, Innenmanschetten und Kentkragen aus. Beim Sakko setzte er auf Casual: graues Leinen, zwei Knöpfe und hellblaues Einstecktuch. Als Kontrast die klassische Chinohose im zeitlosen Fünf-Pocket-Stil in Bordeaux, komplettiert durch einen Gürtel in derselben Farbe. Als Ergänzung der Mischung aus Drykorn, Hilfiger, Boss und Yves Gerard setzte er auf einen leichten weißen Strick von Warren & Parker für die kühle Phase des Abends. Seine Burlington nahmen das Blau und das Orange ebenso auf wie seine rahmengenähten Schuhe von Shoepassion – ein Oxford mit geschlossener 4-Loch-Schnürung aus blauem Velours mit herzförmig ausgeschnittener Kappe und Rist in Bordeaux aus Kalbsleder.
Er sah um Jahre jünger aus. Ein Resultat, das nicht einmal durch die weißen Haare im stehengelassenen Bart zunichte gemacht wurde. Im Gegenteil. Wenigstens etwas Gutes hatte das ebenso unerwartete wie kindische Abtauchen von Jade.
Die Linienbusse entließen mehr Fahrgäste, als sie wieder aufnahmen. Für die Bars und die Restaurants, Casinos und Bordelle galt das Gegenteil. Er wusste, dass er sich beeilen musste, um rechtzeitig im Castro zu erscheinen. Zumal er sich vorgenommen hatte, nichts für ein Taxi auszugeben und sich nicht unter die miefigen Passagiere im ÖV zu mischen, sondern den Weg zu Fuß zurückzulegen.
Obwohl er schnell unterwegs war, kam er knapp vor acht am Lokal an. Er hatte schmale Gassen gemieden, vor einer Unterführung war er längere Zeit stehen geblieben, um sich dann doch gegen einen Umweg zu entscheiden. Aus Angst, verspätet zu der Verabredung zu erscheinen und damit den Kontakt zu Trueboy zu verlieren. Ab und zu hatte er abrupt angehalten, um so zu tun, als würde er eine heruntergerutschte Socke hochziehen, einen Schuh schnüren. Oder er hatte sich in einen Eingang gedrückt und so getan, als würde er alle Namensschilder an der Klingel lesen. Waren die vermeintlichen Verfolger an ihm vorbei, setzte er die Strecke Richtung Castro fort. Er fühlte sich unsicher und nahm sich vor, die Dienstwaffe in Zukunft wieder mit sich zu führen. Ein Gedanke, der im Moment nicht zu seiner Beruhigung beitrug.
Als er heil an seinem Ziel eintraf, wartete bereits eine Menschenschlange auf Einlass. Der Abend schien unter einem besonderen Motto zu stehen, und Deubelbeiss hatte ihn sehr wahrscheinlich mit Absicht genau heute hierherbestellt. Ohne zu zögern, marschierte der Kommissar an der Reihe vorbei und zog einige bissige Kommentare auf sich, was ihn kaltließ.
Nur bei einem Zwischenruf blieb er kurz stehen: «Ciao, Totò, was machst du hier? Kannst du mir helfen? Ich will rein.»
Als er sich umdrehte, entdeckte er zwischen den modisch angezogenen Wartenden eine schwarz gekleidete, ungepflegte, unrasierte Person, der die Agglomeration sofort anzusehen war.
«Claudio. Echt, du hier? Ist nicht so einfach, wie in die Dorfdisco in der Turnhalle reinzukommen? Geh doch nach Hause. Mach dich nicht lächerlich. In diesem Sinne werde ich beim Türsteher ein gutgemeintes Wort für dich einlegen.» Er drehte sich ab und ließ den Jugendfreund stehen.
«Hallo, Tom», begrüßte der Ermittler fünfzig Meter weiter vorne den am Eingang stehenden Riesen, den er von Weitem erkannt hatte. «Ich wusste gar nicht, dass du jetzt hier arbeitest.»
«Hatte genug vom Ärger vor den anderen Clubs.» Damit deutete dieser auf die lange Narbe quer über seinen kahlen Schädel. «Eine Flasche von hinten, als ich einen Besucher vor die Tür stellen wollte. Du kennst es selbst: Es ist nichts mehr wie einst. Hier habe ich meine Ruhe. Angenehme und gepflegte Gäste, gutes Trinkgeld.» Er zupfte am Revers seines dunklen maßgeschneiderten Anzugs.
Anerkennend nickte der Kommissar. «Kannst du mir bitte zwei Gefallen tun?»
«Ist etwas übertrieben, findest du nicht?», lachte der Riese zurück.
«Lässt du mich rein?»
«Sicher. Hast du wieder einmal Ärger mit Jade? Deswegen hier aufzukreuzen, finde ich etwas übertrieben. Es gibt viele Mütter mit hübschen Töchtern, wie meine Mutter – Gott hab sie selig – zu sagen pflegte. Wer braucht da die Söhne?»
«Nein. So ist’s nicht», schüttelte der Polizist den Kopf. «Und lass das tätowierte Landei nicht rein», drückte er im Vorbeigehen die kleingefaltete Fünfzigernote in Toms Pranke.
Kurz darauf stand der Ermittler im Innern des Castro, einer einstigen Gießerei im ehemaligen Industriequartier der Stadt. Als er durch einen engen Gang in die farbig beleuchtete Halle trat, kollidierte er beinahe mit einer blau schimmernden Wand. Als er den Blick hob, sah er in das Gesicht einer blonden, grell geschminkten Dragqueen im blauen Satin-Einteiler auf hohen Plateauschuhen, die aus einer sehr großen eine geradezu gigantische Person machten. Unterstrichen wurde der Höheneffekt durch die drei in die blaue Kopfbedeckung gesteckten Pfauenfedern. Elegant wich Tagliabue ihr und der Frage nach seinem Befinden aus. In der Halle war der eine Teil der Gäste am Tanzen. Der andere, um einiges größere hatte sich den Längswänden entlang aufgereiht, um die Akteure in der Mitte intensiv zu beobachten. Die Musik in der Halle war so laut, dass an eine verbale Kommunikation mit mehr als drei geschrienen Wörtern nicht zu denken war.
Während sich der Kommissar durch die Tänzer im Zentrum und vorbei an den Beobachtern Richtung Lounge begab, spürte er die Blicke, hörte er die unverblümten Kommentare zu seiner Person im Rücken. Mit jedem Schritt schmolz die Selbstsicherheit. Gleichzeitig dämmerte es ihm langsam, wie unangenehm er vielen Frauen das Betreten einer Bar, eines Restaurants oder anderer Orte in der Vergangenheit gemacht hatte. Er erinnerte sich an Dantes Weg durch das Fegefeuer, an den contrapasso, an die Mutter: Die Strafe Gottes folgt sofort, wie sie stets zum Besten gab, wenn er vom Vater bestraft worden war. Auch in der Erziehung hatten die Eltern nicht viele Worte verloren.
Am anderen Ende des einstigen Werkraums befand sich eine kleine Kabine mit großen, verklebten Fenstern. Von hier hatte der Chef damals den vollen Überblick und maximale Ruhe vor Arbeitern und Arbeit – beide mussten meistens draußen bleiben, was aber nicht zum Untergang der Firma geführt hatte.
Das Büro war mittlerweile zu einer Lounge umfunktioniert worden, in die sich die Besucher auf der Suche nach Ruhe und Diskretion zurückziehen konnten. Der Kommissar hatte keine Ahnung, was ihn hinter den verdunkelten Scheiben erwartete, was seine Unsicherheit weiter anwachsen ließ. Als er in den Raum trat, mussten sich seine Augen zuerst an die neue Lichtsituation gewöhnen. Um sich orientieren zu können, spähte er durch die Fensterfront in den Saal, der sich immer weiter füllte. Die Möglichkeit, alle Gäste unbemerkt zu observieren, erinnerte ihn ans Verhörzimmer im Polizeipräsidium. Alles in allem gefiel ihm die Rolle als Beobachter besser als die des Beobachteten.
Nachdem er noch eine kleine Weile damit verbracht hatte, am Fenster stehend in den Saal zu blicken, um Zeit für die Entwicklung seiner Strategie zu gewinnen, drehte er sich gemächlich um. Die Lounge war zu der Stunde spärlich gefüllt. Nur in den beiden hintersten Ecken des Raumes befanden sich zwei Paare. Der Ermittler versuchte, nicht hinzugaffen, was ihm schlecht gelang.
Um sich etwas abzulenken, begann er sich im übrigen Raum umzusehen. Passend zum Alter der ehemaligen Gießerei war der gesamte Raum im Stil der 50er eingerichtet. An den Nierentischen mit unterschiedlichsten Oberflächenfarben standen braune oder graue Sessel mit gepolsterten Arm- und Rückenlehnen. In regelmäßigem Abstand waren Sofas mit Holzstruktur, weicher Federkernpolsterung und wild gemusterten Stoffüberzügen positioniert. Das fahle Licht stammte von Industrieleuchten aus gepresstem Aluminium. Die letzten Originale im Raum passten mit ihren Beulen und Lackschäden zum grauen, abgenutzten Betonboden. Die Tapete erinnerte den Kommissar an die braunorangegrünen Fliesen im Gemeinschaftsbad und in der Kochnische seiner Kindheit.
Dem Eingang gegenüber befand sich die dezent beleuchtete Bar. Zwischen Boden und Decke waren billige Metallregale eingespannt. Auf den Tablaren standen die Flaschen und Gläser fein säuberlich aufgereiht und warteten auf etwas Nachfrage. Tagliabue kletterte auf einen der ausnahmslos freien Barhocker und setzte sich vis-à-vis dem Barmann an den Tresen.
Die Spindle Clock von George Nelson an der Spiegelwand zeigte nach acht. Im Gegensatz zu seiner Verabredung war der Polizist pünktlich zum Treffen erschienen. Das gab ihm die Gelegenheit, das ausgestellte Alkoholangebot detailliert unter die Lupe zu nehmen. Zwischen einer Auswahl an in- und ausländischem Gin entdeckte er den Schmetterling seiner Lieblingsmarke. Wenigstens bei der Alkoholausstattung entsprach das Castro dem aktuellen Stand und ausgewähltem Geschmack. Während er die Flasche studierte und sich noch überlegte, den Barmann mit einer Bestellung zu belästigen, erblickte er im Spiegel einen Neuankömmling hinter sich. Dieser schaute sich eine Weile unsicher um, setzte sich nach kurzem Zögern an einen orangen Nierentisch im hinteren Bereich des Raums.
Die Zeitschrift, die der Gast vor sich auf den Tisch gelegt hatte, begann sich langsam zu entrollen. Das Gesicht des blonden Mannes in den Mittzwanzigern war schmal wie die Nase mit der leicht nach oben strebenden Spitze. Zum aristokratischen Touch passten die dünnen Lippen und die helle Haut. Die Kiefer zusammengepresst, formte der Mund einen flachen Bogen nach unten. Dies verlieh dem unnatürlich symmetrischen, fast maskenhaften Gesicht einen noch arroganteren und freudloseren, dabei berechnenden und hinterhältigen Ausdruck. Der schwarze Zweireiher saß perfekt, das weiße Hemd schien eben erst gebügelt.
Auf die Distanz und aufgrund der schlechten Beleuchtung ließ sich die Augenfarbe nicht erkennen – der Ermittler konnte sie sich nicht anders als stahlblau vorstellen. Die Verabredung schien sich aufzuregen, sitzen gelassen zu werden. Die frisch manikürten Hände verkeilten sich noch mehr ineinander. Je länger die Warterei andauerte, desto frustrierter und häufiger wurde die monströse Uhr am Handgelenk konsultiert. Mit jedem weiteren Gast, der in die Lounge trat, richtete sich die Person auf. Um in sich zusammenzusacken, wenn der Besuch wieder nicht ihr galt. Das Hoch und Nieder hörte erst auf, als der Blick auf den einzigen Rücken am Tresen fiel.
«Breil Pur, Fever-Tree Gold. Martini, geschüttelt, nicht gerührt», richtete sich Tagliabue an den Barmann. «Stell alles auf ein Tablett. Ich trage es rüber.»
Kurz darauf stand der Kommissar vor seiner Verabredung, die jünger war, als er angenommen hatte. «Ein Martini», stellte er das Glas ab und setzte sich an den Tisch.
«Danke», antwortete der Jüngere dem Älteren, ohne sich auch nur ein wenig Mühe zu geben, sein Misstrauen und seine Verachtung zu verstecken. «Du bist zu spät.»
Die Kälte in jedem der Worte überraschte den Ermittler, die jugendliche Stimme kam ihm bekannt vor. Er vermochte sich jedoch nicht mehr daran zu erinnern, wo und wann er sie, wenn überhaupt, gehört hatte.
«Ich habe lange drüben an der Bar gewartet.» Die Erklärung verwandelte sich in eine Rechtfertigung.
Trueboy musterte ihn. «Wie heißt du?»
«Tom.»
«Wie unser Türsteher? Ich bin James.» Er nippte an seinem Glas, ohne die aufgespießte Olive oder Tagliabue aus den Augen zu lassen. «James passt perfekt. Im Dienste Ihrer Majestät. Denn für mich ist der Kunde immer König. Wenn du magst, können wir gleich nach hinten gehen.» Er blickte über seine Schulter.
Völlig überrumpelt widmete sich der Kommissar dem Gin Tonic, zählte die Eiswürfel und versuchte zuzusehen, wie diese ihren Aggregatzustand wechselten.
«Das kostet genau zweihundert», der Jäger ließ die Beute nicht aus den Augen, «du musst dich schnell entscheiden. Ich habe bereits zu viel Zeit mit dir verloren. Und Zeit ist halt Geld, mein lieber Tom. Sonst gehen wir in deine Hütte.»
«Ich meinte, wir wollen uns zuerst kennenlernen.»
«Der Bettnässer meinte auch, er hätte geschwitzt.» Trueboy erhob sich unvermittelt und geschmeidig aus dem tiefen, weichgepolsterten Sessel. «Du kannst es dir noch einmal überlegen. Hier hast du meine Nummer.» Er schnippte eine weiße Karte über die Tischplatte.
«Das geht auf ihn», informierte er mit lockerer Hand- und Kopfbewegung den Barmann und ließ den verdatterten Kommissar, ohne sich zu verabschieden, am Tisch zurück. Tagliabue nahm den Gin Tonic, setzte sich wieder zurück auf seinen Barhocker, trank die erste, bestellte bereits die nächste Runde und ließ sich Abend und Drinks durch den Kopf gehen.
Zwei Stunden tiefer in der Nacht hatte sich das Castro weit über das feuerpolizeilich Erlaubte gefüllt. Etwas unsicher bahnte er sich den Weg durch die Leute. Draußen vor der Tür stand Tom immer noch Wache. Allein und frierend wartete Claudio.
«Vorhin ist ein Platz freigeworden», richtete sich der Ermittler an seinen ehemaligen Schulfreund. «Aber nicht für dich. Auf diese Weise sparst du etwas Geld für das nächste Tattoo. Oder für eine teure Retusche, wenn das Körpergekritzel irgendwann nicht mehr in ist. Danke und bis bald, Tom.»
Zufrieden schlenderte er zu den Taxis, die in der kühlen Nacht mit laufenden Motoren auf frühe Heimkehrer warteten.