Endlich im Büro angekommen, fand er Deubelbeiss vor dem Computer im Stuhl hängend. Dass der Assistent saubere schwarze Hosen und ein frisches T-Shirt gleicher Farbe trug, bewies, dass er das Büro verlassen haben musste.
Linkisch nestelte Tagliabue die vier Zettel mit je einem Namen aus seiner Hosentasche, suchte einen Klebestreifen und befestigte die Papiere auf Deubelbeiss’ Bildschirm. Er ging zurück zu seinem Computer, startete das System, wählte die interne Mail-Software und begann zu tippen: «Guten Morgen. Auf Ihrem Desktop befinden sich Dokumente, sozusagen als Attachment. Können Sie kurz nachschauen, was Sie zu den Unbekannten herausfinden? Und überprüfen Sie die Angaben zu Poth, Tobias Xeno, aka TrueBoy69. Bitte. Ich bin irgendwo im Haus unterwegs. Unterlassen Sie es bitte, mich per Ortungssystem meines Handys ausfindig zu machen.» Er drückte die Sendetaste, erhob sich, machte sich auf den Weg.
Als er die Tür hinter sich zuzog, war Deubelbeiss noch am Schlafen. Zur eigenen Überraschung entschied sich der Kommissar für den langen Abstieg via Treppenhaus. In der kriminaltechnischen Abteilung zeigte man sich über sein unangemeldetes Erscheinen irritiert.
«Könnt ihr das auf Fingerabdrücke untersuchen?» Er legte die durchsichtige Plastiktüte behutsam auf die graue Theke. Bevor die Empfangsdame überhaupt einen Einwand, eine Reklamation anbringen oder sich erheben konnte, fuhr er fort: «Aber nicht, dass ihr mir das auch noch versaut. Es gibt die Visitenkarte und ein silbernes Etui. Ihr habt also zwei Chancen – eine werdet ihr ja packen. Und damit ich es nicht vergesse, da ihr sowieso nicht draufkommt: Vergleicht die Resultate doch mit unserer Datenbank im Allgemeinen und den Abdrücken aus Schläflis Villa im Speziellen. Wann könnt ihr mir erste Resultate liefern?»
Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er ab, die Assistentin wort- und ratlos zurücklassend.
Einen langen, grell erleuchteten Korridor und ein paar grußlose Begegnungen später stand Tagliabue, erneut ohne vorher angeklopft zu haben, in einem anderen Vorzimmer. Dieses Mal gab er sich gar nicht erst die Mühe, die Dame hinter ihrer Standardtheke zu bemühen.
«Danke schön, ich kenne den Weg. Ich habe länger hier gearbeitet, als Sie das noch schaffen», informierte er die mittelalte Dame, die damit beschäftigt war, ihr wahres Alter mit einer dicken Schicht Schminke zu übertünchen.
Seit seiner Zeit als junger Beamter bei der Sitte hatte sich nichts an der Anordnung der Büros geändert. Dafür standen auf allen Tischen PCs, und die alten Holzmöbel waren beinahe ausnahmslos durch Lista LO ersetzt worden. Er fragte sich, weshalb die Mordkommission nicht in den Genuss einer neuen Einrichtung gekommen war, ja warum das nicht einmal zur Diskussion stand. Vor den großen Bildschirmen saßen ausnahmslos unbekannte Gesichter auf den Bürostühlen. Ihre durchdringenden Blicke verfolgten ihn durch die Räume und verstärkten seine Zweifel, ob er der gesuchten Person an alter Wirkungsstätte begegnen würde.
«Hallo, Kari.» Er war erleichtert, hinter der Tür des einzigen Einzelbüros seinen ehemaligen Vorgesetzten Karl Toblach anzutreffen. Als der die bekannte Stimme hörte, drehte er sich auf seinem Stuhl um, erhob sich mit breitem Lächeln und ging dem Besucher mit ausgebreiteten Armen entgegen. «Schön, dir wieder einmal in den Niederungen zu begegnen», er schloss Tagliabue in die Arme, «sonst vernimmt man leider nur über Dritte von dir und deinen Schandtaten. Immer noch unzufrieden mit der Welt?»
«Worauf bezieht sich dein ‹leider›?», wich Tagliabue der Antwort aus. «Leider, was du hörst, oder leider, dass du es von anderen hörst?»
«Immer noch unzufrieden mit der Welt», stellte Toblach fest und wies seinem jüngeren Kollegen einen Stuhl am Tisch.
«Und, wie lange noch zur Pensionierung?», wechselte der Kommissar das Thema.
«Weniger als ein Jahr. Später ziehen Ruthli und ich mit unserem Wohnmobil durch die Welt. Um zu schauen, ob sie so schlecht ist. Wir halten dich auf dem Laufenden. Bis dahin stecke ich jede verfügbare Minute in unser Gefährt – das nennt man heute wahrscheinlich ‹pimp your camper›. Aber was willst du eigentlich?»
«Wenn so viel über mich geredet wird, ahnst du sicher, wieso ich zu dir komme. Hast du etwas vom Fall Schläfli gehört?»
«Nein. Aber in der Zeitung gelesen. Pflegst du nach wie vor Kontakt zu dem schmierigen Sportreporter, mit dem du bei diesem Revolverblatt gearbeitet hast?»
«Er ist in der Zwischenzeit befördert worden. Kannst du mir helfen? Ich verfolge eine Spur. Kannst du in eurem System mal nachsehen, ob du was zu Tobias Poth findest?»
Er begann, die Geschichte auszurollen.
Nachdem Toblach eine Zeitlang interessiert zugehört und ab und zu nachgefragt hatte, nickte er bedächtig. «Ich sehe mich ein wenig um, ob sich etwas finden lässt. Gut, dass die Systeme nicht zusammengehängt sind, so habe ich dich noch einmal getroffen, bevor ich mich verabschiede. Ich melde mich, sobald ich etwas entdeckt habe.»
«Danke. Du bist sicher froh, dass du noch etwas zu tun hast, bevor du pensioniert wirst. Sonst müsstest du die Tage völlig tatenlos abzählen und nur noch warten, bis Minuten- und Stundenzeiger gleichzeitig auf die Zwölf springen», grinste Tagliabue ihm zu. «Wie Nicholson in About Schmidt.»
Toblach winkte ab: «Da träumst du von! Du kennst doch Doktor Huber. Du warst bei seiner Antrittsrede ja nicht nur dabei, sondern hast in der vordersten Reihe gesessen. Und du kennst sicher auch sein MRI. Beni hat mir tatsächlich noch eine letzte Aufgabe aufs Auge gedrückt. Er brauche meine lange Erfahrung in einem Fall, meinte er. Dass die Steuergelder sinnvoll einzusetzen seien, Beamte nicht einfach die Zeit bis zur Pensionierung absitzen sollen. All dieser Mist. Schau dir diese Schweinerei an.» Er stand unvermittelt auf, schritt zu seinem Computer und winkte den anderen zu sich. Der stieß sich widerwillig aus dem Stuhl und hörte dem ehemaligen Chef zu, während er zu dessen Arbeitstisch ging.
«Eine widerliche Sache. Ein internationaler Ring. Kinder. Wie es aussieht, mit prominenter Beteiligung bis in die höchsten Ebenen der Gesellschaft. Eine Bombe, Savile ist ein Dreck dagegen. Deshalb hat Huber mich darauf angesetzt. Denkt, dass ich kurz vor meiner Pensionierung nichts mehr zu verlieren hätte ...» Verbissen klickte er sich durch die Bildergalerie.
Tagliabue starrte auf den Screen mit wechselnden Fotos, aber identischer Abscheulichkeit. Ihm wurde wieder bewusst, weshalb er damals ultimativ um seine Versetzung aus der Sitte gebeten hatte: Trotz seines Zynismus war ihm das zu viel. Es schlug ihm auf den Magen und er fragte sich, wie Toblach den Job über all die Jahre ausgehalten hatte und es dabei schaffte, sein positives Weltbild aufrechtzuerhalten und gegen alle Argumente und Angriffe vehement zu verteidigen.
«Wann hast du Resultate für mich?» Er hatte genug gesehen und wollte eben gehen, als ein Foto das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. «Einen Augenblick», stammelte er. Er betrachtete den Bildschirm. Er merkte sich die Bildnummer. Er schaute noch einmal noch genauer hin. Um sicher zu gehen, dass ihm seine Sinne keinen Streich spielten. Wie sie es nach dem nächtlichen Überfall schon mehrfach getan hatten.
«Danke.» Ohne Erklärung und Gruß ließ er den verblüfften Alten stehen, um an allen anderen Mitarbeitern der Sitte vorbei- und die Treppe hinaufzustürmen.
An seinem Büro angekommen, musste er sich zuerst von der Anstrengung erholen. Es dauerte lange, bis sich Puls und Atmung normalisiert hatten und er sich aufrecht halten konnte. Tagliabue war sich nicht sicher, ob das Zittern auf seine Erregung oder auf seine sportliche Leistung zurückzuführen war. Als er sich gefasst hatte, drückte er die Klinke und öffnete die Tür.
«Ich habe mich umgesehen», begrüßte ihn Deubelbeiss, bevor er etwas sagen konnte. «Wir haben nichts über ...»
«Dafür habe ich etwas», ließ ihn der Kommissar nicht ausreden und setzte sich auf dessen Schreibtisch. «Ein Motiv für den Mord an Schläfli.»
Der Assistent hob die Füße vom Tisch und beugte sich nach vorne, um nichts zu verpassen.
Zögernd begann Tagliabue von seinem Treffen mit Toblach zu erzählen und wie der über seinen aktuellen und wohl letzten Fall berichtet hatte. «Er winkte mich an seinen PC, um mir Bilder von erwachsenen Männern mit Jugendlichen und Kindern zu zeigen. Wie ich das von meiner Arbeit mit ihm als Chef bei der Sitte bereits mehr als zur Genüge kannte.» Er verstummte für einen Augenblick. «Jetzt wollen Sie wissen, was das mit dem Fall Schläfli zu tun hat», deutete Tagliabue das Kopfschütteln seines Assistenten richtig und nahm den Faden wieder auf. Er beugte sich ebenfalls vor, um die Distanz zwischen ihnen beiden weiter zu reduzieren und ein Gefühl von Vertrauen und Vertrautheit zu schaffen.
«Auf einem der abscheulichen Fotos waren zwei Männer in ärmellosen Unterleibchen und mit schwarzen Augenmasken, wie Sie sie vielleicht vom Karneval in Venedig oder von Eyes Wide Shut kennen, zu sehen. An ihren Rechten je ein Kind und eine Tätowierung. Ein verblasstes Zeichen. Es sah so aus und war an der gleichen Stelle wie das, das sich Schläfli und Krämer vor über dreißig Jahren gestochen haben.»
«Augenmasken und ein verblasstes Tattoo.» Deubelbeiss betrachtete seine Fingernägel. Unbemerkt hatte er seinen Bürostuhl Millimeter für Millimeter nach hinten gedrückt, um etwas Abstand und damit Sicherheit zu gewinnen. «Wie viele Leute tragen wohl ein Tattoo an einem oder an beiden Unterarmen? Haben Sie es denn überhaupt richtig erkennen können? Klingt nicht so. Aber fast hätte ich es ja vergessen: Ihre Intuition und die Erfahrung sagen Ihnen, dass es sich bei den beiden um Schläfli und Krämer, um das Opfer und den Mörder handelt. Aber wieso soll der Zweite den Ersten umgebracht haben? Die beiden scheinen sich doch zu verstehen», er hielt kurz inne, um dann ruhig fortzufahren: «Da sind sie also wieder: Schläfli und Krämer. Die beide grandiose Karrieren hinlegten und zu den old boys gehören. Diesem elitären Zirkel, der Ihnen – wie Sie gerne glauben würden – nur wegen Ihrer fremden Herkunft verschlossen geblieben ist und bleiben wird.»
Der Kommissar forderte den Assistenten mit einer Geste auf, mit seinen Ausführungen weiterzumachen.
Irritiert ergriff Deubelbeiss wieder das Wort: «Mal für Mal geht das Duo als Sieger aus den Auseinandersetzungen hervor. Kann es sein, dass Sie jede Neutralität verloren haben? Nur um Krämer etwas anzuhängen und so wenigstens eine Runde für sich zu entscheiden? Ich für meinen Teil bin nicht in der Lage, ein Motiv zu erkennen, geschweige denn zu konstruieren.»
Bedächtig erhob sich Tagliabue, um sich zu strecken, zu seinem Arbeitsplatz zu gehen. «Nicht übel, die Analyse. Auf Ihre Interpretationen und Unterstellungen gehe ich an dieser Stelle nicht ein. Ihre Fragen will ich gerne beantworten. Obwohl Schläfli zum ausgewählten Zirkel der old boys gehörte, ging es ihm sowohl geschäftlich als auch gesellschaftlich nicht mehr gut. Unser Opfer blieb ein homo novus, ein Emporkömmling. Er war ein Experiment, ein Versuchskaninchen, das man bei einem Scheitern zur Schlachtbank zerrt. Schläfli ist isoliert. Nach dem Geld gehen ihm die Scheinfreunde aus. Plötzlich erinnert er sich – einsam und auf sich gestellt, hat ja alle Zeit der Welt, um nachzudenken – an die Fotos mit ihm, Krämer und den Knaben in einem Zimmer irgendwo auf der Welt. Etwas, das er längst verdrängt und vergessen hatte. Er hat, im Gegensatz zu seinem alten Kumpel, gar nichts zu verlieren – vielleicht gibt es noch andere Fotos. Er beginnt, Krämer zu erpressen.» Nach einer kurzen Pause nahm Tagliabue den Faden wieder auf: «Sie vereinbaren ein Treffen in der Villa oder der Erpresste nimmt seinen Schlüssel zum Haus, überrascht Schläfli, stellt ihn zur Rede. Zwingt ihn, den eigenen Suizid vorzutäuschen.»
Aufmerksam hatte Deubelbeiss zugehört: «Krämer besaß gar keinen Schlüssel. Wie das Video beweist, haben Sie plump versucht, ihm einen unterzujubeln. Um diese Theorie, die Sie sich lange zusammengezimmert haben, zu stützen. Aber bei der Geschichte fehlt es an allen Ecken und Enden an allem. Haben Sie nicht mehr?»
«Da ist der, sagen wir einmal bemerkenswerte, Geldfluss zwischen den beiden, den Sie in allen Details dargelegt haben.»
«Und trotzdem heißt das noch gar nichts», konterte der Assistent.
«Dann sind Krämers Fingerabdrücke in Schläflis Anwesen zu finden.»
«Die waren Freunde. Da besucht man sich mal gegenseitig. Aber das wird Ihnen wahrscheinlich absurd vorkommen. Da trägt man im Normalfall keine Handschuhe.»
«Es bleibt noch diese Tätowierung», kehrte Tagliabue auf Feld eins zurück. «Und nein, ich konnte sie nicht zweifelsfrei erkennen, dafür war sie auf dem Foto zu klein und aus ungünstigem Winkel aufgenommen. Ich brauche eine Vergrößerung.»
«Wie gesagt: Es gibt sicher viele Personen mit einer selbstfabrizierten Tätowierung auf dem Unterarm. Und oft ähneln sich auch die Motive. Was genau wollen Sie denn erkannt haben?»
«Es handelt sich um ein Alpha.»
«Das erste Zeichen des griechischen Alphabets, Symbol für die Ersten. Für die Besten. Und auch für die Erstbesten. Nicht sehr ausgefallen, dürfte es öfter geben.»
«Da haben Sie recht», der Kommissar rutschte vom Stuhl und ging, ohne sich umzudrehen, zur Bürotür, «aber es ist ein Anhaltspunkt. Und ...», er kostete die kurze Pause sichtlich aus, «wie viele tragen unter dem Alpha wohl die Zahlen 267 und 85 als Zeichen für ihre Rekrutenschule und das Jahr? Ich kenne bloß zwei.» Er zog die Tür auf und rief über die Schulter: «Durchforsten Sie das System und suchen Sie die Fotografie», er nannte die Nummer, «besorgen Sie mir eine Vergrößerung! Ich gehe in den Mittag. Sie essen bestimmt wieder eine der fernöstlichen Instantnudelsuppen, damit Sie sich nicht fortbewegen müssen. Umso besser.»
Über den Einwand, dass sie nicht mit dem System der Sitte verbunden seien, konnte Tagliabue nur müde lächeln.
Als einer der Ersten saß der Kommissar in der Kantine, die sich langsam mit Beamten in Zivil oder Uniform zu bevölkern begann. Während immer mehr Viereresstische komplettiert wurden, blieben die restlichen drei Plätze um ihn herum frei. Ab und zu fragte ihn jemand, ob die leeren Stühle besetzt seien und an einen anderen Tisch mitgenommen werden könnten. Er gab keine Antwort oder log, dass er auf Kollegen warte, was ihm böse Blicke und Kopfschütteln eintrug.
Etwa eine Viertelstunde später – Tagliabue hatte seine laue Suppe schon hinter sich gebracht – betrat Toblach mit zwei Begleitern den Raum. Den einen hatte er vorher bei der Sitte kurz gesehen, der andere war ihm unbekannt. Nachdem die drei ihr Essen an der Theke geholt und an der Kasse bezahlt hatten, warteten sie mit ihren vollen Tabletts auf freie Plätze. Beim Durchsuchen des Saales kreuzten sich Toblachs und Tagliabues Blicke. Der Ältere tat, als ob er seinen heftig winkenden ehemaligen Mitarbeiter nicht gesehen hätte. Er drehte sich rasch ab und wartete, bis ein anderer Tisch geräumt wurde. Das Trio setzte sich hin. Toblach wählte den Platz, der direkten Sichtkontakt mit dem Kommissar erlaubte. Immer wieder schauten die drei mehr oder weniger verstohlen zu seinem Tisch hinüber. Er merkte, dass sie über ihn sprachen. Als er sich erhob, um dem Mittagessen und Getuschel ein Ende zu bereiten, fixierte er Toblach. Dieser antwortete mit einem kaum erkennbaren Kopfschütteln.
Als er ins Büro trat, schlug ihm der Gestank einer Nudelsuppe entgegen. Er tippte auf die Geschmacksrichtung Fisch oder ein anderes Meerestier. Deubelbeiss platzierte den halbgeleerten Pappbecher und die nassen Plastikstäbchen vor sich aufs Pult.
«Ich habe noch nichts entdeckt.» Der Assistent hatte den Mund noch voll und würgte die Portion, ohne genügend gekaut zu haben, hinunter. «Das System ist hervorragend abgeschirmt, aber das wird noch. Geben Sie mir einfach etwas Zeit und sich ein wenig Geduld. Dafür habe ich etwas zu den drei Personen, die Sie mit Tobias Poth alias Trueboy in der heiligen Halle der Universität getroffen haben.»
«Danke, später», wendete sich Tagliabue abrupt ab und zog die Tür wieder auf. «Ich mache mich in Schläflis Anwesen auf die Suche nach den Fotos. Die wurden sicher gemacht, bevor es Digitalkameras gab. Sie wissen: Filme mit 36 Bildern, Belichtung, Entwicklung, Druck auf Papier. Ein Album, auch mit unscharfen, unterbelichteten Bildern. Da Fotos zu teuer waren, um sie einfach so im Mülleimer zu entsorgen. Die Fotos bei der Sitte wurden wahrscheinlich eingescannt und kamen digital zur Polizei. Möglicherweise befindet sich irgendwo ein Negativ oder weitere Abzüge. Die haben wir nicht gefunden, weil wir nicht danach gesucht haben. Ich hole das nach.»
«Doktor Huber erwartet Sie nach der Rückkehr umgehend in seinem Büro», bremste der Assistent den Chef. Der ging zurück zu seinem Schreibtisch, bückte sich. Zog die unterste Schublade auf und die Dienstwaffe hervor. Steckte die geladene HK P30 und Schläflis Hausschlüssel ein, schlug den Weg zu Huber widerwillig ein.
Als der Kommissar wie gewohnt ohne Vorwarnung eintrat, befand sich Elvira Keiser nicht an ihrem Arbeitsplatz. Er packte die Gelegenheit beim Schopf, ging stracks zu Hubers Tür, um anzuklopfen, sofort einzutreten und ihn mit der Assistentin zu überraschen. Sein Vorgesetzter befand sich allein im Büro, klappte die Aktenmappe zu, musterte den Besucher von Kopf bis Fuß.
«Ah, Tagliabue. Gut, Sie wieder mal zu sehen. Und nicht nur von Ihnen zu hören.»
«Ah, Huber. Es freut mich, Ihnen eine Freude zu machen. Wo ist the Pelvis?»
«Elvira hat sich einen Tag freigenommen. Aber kommen wir zur Sache. Zeit ist Geld: Die wollen wissen, wie es in unserem Fall steht. Sie fordern konkrete Ergebnisse, vor allem einen Täter.»
«Einen Täter oder den Täter?», warf Tagliabue ein.
«Die Leute wollen den oder einen Verantwortlichen», holte Huber aus. «Sie fordern Ruhe und Sicherheit. Der Staatsanwalt will einen Erfolg vermelden. Sie können sich nicht vorstellen, was hier alles abgeht. Mir ist das egal, aber alle anderen machen Druck. Wir stehen im Fokus der Öffentlichkeit. Liefern Sie uns endlich einen Mörder! Schließen Sie den Fall ab! Machen Sie uns alle, vor allem aber sich selbst glücklich! Gehen Sie schon und erledigen Sie den Auftrag! Fragen Sie Deubelbeiss, der kann Ihnen weiterhelfen». Er wedelte den Kommissar aus seinem Büro, öffnete wieder die Akte und tat, als ob er sie studieren würde.
Ungefähr eine halbe Stunde später stand Tagliabue in der Tiefgarage und schloss seinen gelben Alfa Romeo auf. Er hatte hinter einer Stützsäule gewartet, bis sich nichts mehr rührte. Schon auf dem Weg vom Kommissariat zum Auto hatte er sich verfolgt gefühlt.
Bei der Ausfahrt spurte ein BMW unmittelbar hinter ihm ein, um zwei Seitenstraßen später einen anderen Weg zu wählen. Was den Kommissar nicht beruhigte. Immer wieder spähte er in den Rückspiegel. Für einmal wünschte er sich, in einem unauffälligen Auto zu sitzen, um in der Masse des Verkehrs unterzutauchen.
Als er das Zentrum mit seinen verstopften Straßen endlich hinter sich gelassen hatte und den Aufstieg zum Villenquartier über der Stadt in Angriff nehmen konnte, erkannte er einen roten Renault Clio, der ihm mit konstantem Abstand folgte. Wenn er das Tempo reduzierte, veränderte sich die Distanz zwischen den Fahrzeugen ebenso wenig wie bei abrupter Beschleunigung. Als er den Alfa in eine Parklücke am Straßenrand zirkelte, fuhr das Auto von Mobility an ihm vorbei. Tagliabue konnte keine bekannten Gesichter identifizieren. Er fuhr weiter.
Kurz vor seinem Ziel sah er den schwarzen 7er-BMW mit verdunkelten Scheiben, wie er einen ähnlichen auf dem Parkplatz vor GammaG gesehen hatte, zu sich aufschließen. Obwohl er dem Fahrer die Gelegenheit bot zu überholen, blieb dieser dicht hinter ihm. So entschied er, sein Ziel zu verpassen und einige hundert Meter weiter vorne unvermittelt zu bremsen und zu wenden. Was ihm den unmissverständlichen Kommentar des Lenkers hinter ihm eintrug.
Vor dem Tor zu Schläflis Anwesen angekommen, stieg der Kommissar bei laufendem Motor aus, um mit dem Schlüssel zu öffnen. Er nutzte die Gelegenheit, um auf die Straße zu treten und einen weiteren prüfenden Blick nach links und rechts zu werfen.
Nachdem er in die Zufahrt zu der Villa eingefahren war, stoppte er. Um das stotternde Schließen der schweren Torflügel, vor allem jedoch die Leere zwischen sich und der jetzt verschlossenen Mauer zu beobachten. Kaum war die Grenze dicht, fühlte er sich in einer anderen Welt. Langsam fuhr er die Allee entlang. Wie jedes Mal wunderte er sich über die Dimensionen dieser grünen Oase am Stadtrand. Allerdings hatte sich seit Längerem niemand mehr um Bäume und Hecken, Blumen und Wiesen gekümmert. Seiner Meinung nach verlieh die schleichende Verwilderung dem Anwesen noch mehr Charakter, vielleicht sogar mehr Charme. Links erblickte er das kleine Haus, das damals für Schläflis Personal freigehalten worden war. Als er an der Villa ankam, parkte er den Alfa so, dass der Oldtimer nicht zu sehen war.
Tagliabue schälte sich aus dem Wagen. Äugte noch einmal nach allen Seiten und ging zur Haupteingangstür, durch die er vor ein paar Wochen zum letzten Mal eingetreten war. Die Villa war komplett verdunkelt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse angepasst hatten. So lange blieb er im Eingang stehen, gewöhnte sich an die Geräusche im Haus, die vor allem von den sanitären und elektrischen Installationen herrührten. Die Stille kam ihm ungewohnt, unheimlich vor. Laute, die er in seiner Wohnung wegen des Quartier- und des Hauslärms nicht mal wahrgenommen hätte, schreckten ihn jetzt auf und schärften seine Sinne zusätzlich. Zumal er das dumpfe Gefühl, zumindest observiert zu werden, nicht ganz abschütteln konnte.
Als er erste Konturen erkennen konnte, hatte er immer noch keinen Plan. Der Kommissar steckte den Schlüssel ins Schloss, verriegelte die Tür und machte sich auf die Suche durch das Haus. Dabei nahm er denselben Weg wie bei der ersten Besichtigung des Tatorts. Trotzdem erschrak er heftig, als die Treppe in das obere Stockwerk plötzlich beleuchtet und die Route durch die Zimmer nachgezeichnet wurde. Im Wohnzimmer öffnete er Schränke und Schubladen, ohne Hoffnung, etwas zu entdecken. Die Spurensicherung hatte schon einmal alles auf den Kopf gestellt und wohl nichts ausgelassen.
Auch im unteren Stock mit mehreren ungenutzten Räumen, abgedeckten Möbeln, Schläflis Büro und Schlafzimmer gab es nichts Aufregendes mehr zu entdecken, offensichtlich waren auch der PC, Akten und Ordner von der Polizei zur Untersuchung mitgenommen worden. In der Küche griff sich der Ermittler ein Weinglas, wartete, bis der rostrote, laue Strahl durch kühlkaltes, kristallklares Wasser aus dem Hahn ersetzt wurde. Die lange Untätigkeit hatte der Armatur zugesetzt und sie anrosten lassen.
Endlich erfrischt, entschied der Eindringling, die Übung hier abzubrechen und die Hoffnung darauf zu setzen, dass Deubelbeiss die Fotografie mit Schläfli und Krämer aus dem System zaubern würde. Nachdem er das Glas ausgespült ins verspritzte Waschbecken gestellt hatte, schritt er zur Eingangstür, schloss diese leise auf, um sie sehr vorsichtig zu öffnen. Überraschend war aber nur das zu dieser Zeit sehr intensive Licht, das ihn blendete und ihm im Falle eines Angriffs keinerlei Abwehrmöglichkeit gelassen hätte. Als Tagliabue die Augen wieder behutsam öffnete, erkannte er die verschwommenen Umrisse des Personalhauses.
Soweit er sich erinnern konnte, war das Gebäude von der Spurensicherung genau unter die Lupe genommen worden. Er entschloss sich, trotzdem noch einmal hinüberzugehen und seinen Wagen gut versteckt stehen zu lassen.
Als er über die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatte, fiel ihm ein, dass er nicht wusste, ob sein Schlüssel ins Schloss passen und er die Strecke vielleicht vergebens und erst noch zu Fuß zurückgelegt haben würde.
An der Tür zerstreuten sich die Zweifel: Der Schlüssel ließ sich leichtgängig im Schloss drehen. Offenbar hatte Krämer ein Passepartout zur Verfügung gehabt. Aus dem Inneren schlug dem Polizisten abgestandene, warme, modrige Luft entgegen. Im Gegensatz zum Haupthaus waren einzelne Fenster verdunkelt.
Schnell gewann er einen ersten Überblick über das einstöckige Haus, das mit seiner Architektur an irische Cottages erinnerte. Vier von beiden Seiten des zentralen Gangs abgehende Räume boten ebenso vielen Gästen ausreichend Platz. In den letzten Jahren hatte bloß noch María hier gewohnt. Der Hausmeister und Gärtner war nicht mehr festangestellt und kam von außen, um die notwendigsten Arbeiten rund um die Villa zu erledigen. Die Portugiesin verfügte folglich über ihr eigenes Haus mit vier Schlafzimmern, einem großen Wohnzimmer, einer funktional und ästhetisch in die Jahre gekommenen Küche und über zwei Bäder, von denen offensichtlich nur eines noch benutzt worden war.
Bei seiner Begehung fragte sich der Kommissar, wieso seinen Eltern das Glück verwehrt geblieben war, an eine solche Anstellung zu gelangen. Wieso sich Totò vor den Behörden verstecken musste und sich nicht in Schläflis Park austoben, nach wilden Indianern, versteckten Schätzen und gemeinen Räubern suchen konnte.
Er wandte sich vom Fenster mit der dahinter liegenden Aussicht auf den tiefblauen See, die grünen Hügel und die grauschwarzen Berge ab. Die Einrichtung war spärlich und dunkel, jedes Möbel massiv und schwer – wohl niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Haupt- und Personalhaus zusammengehörten. Während in Stube und Küche je ein klobiger Tisch mit wackligen Stühlen stand, waren drei Schlafzimmer ganz leergeräumt. Der Kommissar vermutete, dass die ehemaligen Bewohner ihren letzten Lohn mit einer selbstgenehmigten Abgangsentschädigung aufgestockt hatten.
Im vierten Zimmer hatte bis vor Kurzem jemand gelebt – die Luft fühlte sich frischer und angenehmer an. Es lag weniger Staub auf den Oberflächen. An den Wänden hingen im Gegensatz zum restlichen Haus Bilder und Erinnerungen an Portugal. Obschon er wusste, dass er die gesuchten Unterlagen hier nicht entdecken würde, begann er die Bilder von der Wand zu ziehen, um dahinterzublicken. Bemerkenswerterweise hatten sich keine dunklen Rahmen an der Wand gebildet. Danach hob er die Matratze an, um sie ergebnislos wieder in den Bettrahmen zurückplumpsen zu lassen. Im Nachttisch stieß er ebenso auf nichts wie im Regal über dem Kopfende des Betts. Die eine, geräumigere Seite des dreitürigen Einbauschranks war leer und penibel sauber, wie er es bei der Gründlichkeit der ehemaligen Bewohnerin nicht anders erwartet hätte. Während er die Doppeltür schloss, wunderte er sich erneut, ob die Suchaktion irgendeinen ermittlungstechnischen Sinn ergab. Er fragte sich nach seinem Motiv, konnte sich aber keine plausible Antwort geben. In seine Überlegungen versunken öffnete er die dritte Tür und begann geistesabwesend im Innenleben des schmaleren Schrankfachs herumzutasten.
Auf den Einlegeböden befanden sich Kleider von María. Zu identischer Größe gefaltet und pedantisch auf Kante gestapelt. Er entdeckte unmodische Röcke und Jacken, einige Arbeitsschürzen, kaum Hosen. Ober- ebenso wie Unterteile erinnerten an die Uniformen in totalitären Staaten. Die monotone Austauschbarkeit erleichterte der Trägerin die morgendliche Kleiderwahl und beschleunigte die Toilette mit Sicherheit. Ein einheitliches Mausgrau beherrschte das Schrankinnere. Wahrscheinlich für die Sonn- und Feiertage befand sich auch ein schwarzer Zweiteiler darin. Die Kleidung entsprach genau Marías zweitem Auftritt im Kommissariat. Von ihrer selbstbewussten und eleganten Premiere war keine Spur zu entdecken. Der Ermittler überlegte sich, ob er an Folgeschäden des Überfalls litt und er sich ihren ersten Auftritt nur einbildete.
Je länger er in der fremden Frauenwäsche stöberte, desto weniger ergab es für ihn einen Sinn, dass María ihre ganze Garderobe – oder einzelne Teile davon – mit den Erinnerungen an die Heimat in der Wohnung zurückgelassen hatte. Obwohl er nichts darüber wusste, ging er davon aus, dass die Kleider für eine Putzfrau doch einen gewissen Wert darstellen mussten.
Er zog verschiedene Schubladen auf, stieß auf fein säuberlich sortierte Unterwäsche, wie sie seine Mutter nicht nur für die Arbeit getragen hatte. Im letzten Fach fand er billige Accessoires wie Hals- und Kopftücher, Gürtel, Arm- und andere Bänder, Strickmützen und Kunstlederhandschuhe.
Beim Zurückstoßen einer Schublade verhinderte eine graue Handtasche das vollständige Schließen. Als das immer heftigere Hin-und-her-Geschiebe nicht zum erhofften Erfolg führte, zog der Kommissar die ganze Schublade aus den Schienen, um die verkeilte Tasche zu befreien.
Als er in den leeren Schacht sah, entdeckte er an der hinteren Wand ein eingeklemmtes, auf einer Ecke stehendes, rotes rechteckiges Etwas. Aufgeregt langte er in die Tiefe und klaubte ein Heftchen zutage. Als er dieses in den vor Spannung zitternden Händen hielt, bewahrheitete sich sein Verdacht: Über weißem Kreuz war «Schweizer Pass, Passeport suisse, Passaporto svizzero, Passaport svizzer» und «Swiss passport» in Gold geprägt zu lesen.
Hektisch blätterte er zur Seite vier, um das Porträt einer jungen Frau zu betrachten. Daneben die amtlichen Angaben zu Tatjana Schläfli, die mit seinen Erinnerungen übereinstimmten. Seite für Seite kontrollierte er die Stempel. Kein einziger datierte aus der Zeit nach ihrem Verschwinden. Er ließ sich vorsichtig aufs Bett sinken, um sich einigermaßen vom Schock des unerwarteten Wiedersehens zu erholen. Die Unterkante der untergehenden Sonne berührte bereits die Oberkante des gegenüberliegenden Hügelzugs.
Wieder auf den Beinen, zerrte der Ermittler hastig eine sperrige Schublade nach der anderen aus dem Schrank, um sie aufeinanderzustapeln. Ein zweiter Erfolg in Form neuer Entdeckungen blieb zwar aus, trotzdem erweiterte er die Suche auf alle restlichen Zimmer. Im Wohnzimmer drehte er das Licht an. Auch hier fand er keine weiteren Hinweise auf Tatjana Schläfli. Dennoch gab Tagliabue nicht auf und stieg vorsichtig in den Keller hinunter. Das Resultat blieb das gleiche. Er brach die Suche ab.
Als er die Treppe hinaufstieg und das Licht hinter sich ausdrehte, stand er im dunklen Eingangsbereich. Die Nacht war hereingebrochen, weder Sonnen- noch künstliches Licht drangen ins Gebäude. Die Laternen entlang der Allee waren wie alle Lichter in der Villa dunkel geblieben. Kein Strahl schaffte es von den Nachbarhäusern durch den Park bis zu Schläflis Villa oder zum Personalhaus. Nur der Himmel mit dem Lichtsmog reflektierte die Helligkeit der pulsierenden Stadt unter ihm.
Von der Dunkelheit eingehüllt, fasste der Kommissar den Entschluss, ebenfalls auf Licht zu verzichten und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Zudem fürchtete er sich, den fremden, dunklen Rückweg zur Villa anzutreten. Im Eingang stehend, mit sich und seinen Gedanken beschäftigt, überfiel ihn eine bleierne Müdigkeit. Langsam tastete er sich zu der Haustür, prüfte, ob der Schlüssel noch steckte und ein Öffnen von außen verunmöglichte. Vorsichtig orientierte er sich an den Wänden entlang zu Marías Schlafzimmer, stolperte krachend über seinen Schubladenstapel, fiel auf das Bett, schrie vor Schmerz leise auf, weil er die Pistole im Hosenbund hinten völlig vergessen hatte. Er deponierte die Waffe auf dem Nachttisch, und trotz der heftigen, pulsierenden Schmerzen schlief er müde, frustriert und resigniert ein. Ohne das Gesicht und Hände gewaschen, die Zähne geputzt, die Kleider oder Schuhe ausgezogen zu haben.
Eine unruhige Nacht später erwachte er. Im Traum war María an sein Bett getreten. Sie hatte ihn kurz beobachtet, die Kleider aus dem Schrank gezerrt, um sie in eine billige Plastiktragtasche zu stopfen. Sie hatte mit ihrem roten Pass in der Hand gewinkt und war ohne einen Blick zurück wieder verschwunden. Zwar hatte er versucht, sich rasch aufzurichten, um ihr zu folgen. Aber trotz aller Anstrengung war ihm das nicht gelungen. Im Gegenteil: Jeder Kraftaufwand schien ihn nur noch tiefer in die Matratze zu drücken.
Tagliabue spürte seinen Rücken. Sehr vorsichtig richtete er sich auf, griff nach der Waffe und steckte sie hinten in den Hosenbund – die Position vorne war zu gefährlich, falls sich per Zufall ein Schuss lösen sollte. Nachdem er die verstreuten Kleider eingeräumt, alle Schubladen wieder in den Schrank eingesetzt, den Pass eingesteckt hatte, verließ er den Raum mit einem letzten Kontrollblick und ging zur Küche. Er genehmigte sich einen langen Schluck Wasser vom Hahn, um sich auf den Heimweg zu machen. An der Eingangstür steckte der Schlüssel noch im Schloss. Als er sich zum Abschied umsah, konnte er sich nicht daran erinnern, die Tür zum Keller offen stehen und das Licht unten angeschaltet lassen zu haben. Während er Stufe um Stufe vorsichtig in den Untergrund hinabstieg, zog er die HK P30, hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich. Wie er es vor Jahrzehnten in der Polizeischule gelernt und zwischenzeitlich, außer im Training, selten hatte anwenden müssen.
Im Keller angekommen, entdeckte er eine Tür, die ihm am Tag vorher nicht aufgefallen war. Die ihm jedoch hätte auffallen müssen, so offensichtlich lag sie jetzt vor ihm. Weshalb er die Öffnung übersehen hatte, konnte er sich nicht erklären. Er hatte keine Ahnung, was hinter ihr versteckt lag. Behutsam, seine Schulter an das Türblatt gelehnt, drückte er die Klinke mit der Linken Millimeter für Millimeter nach unten, bis er endlich den Widerstand der Feder spürte und sich die Falle ganz zurückzog. Den rechten Arm mit der Pistole ausgestreckt, presste er die Tür von sich weg. Eine Abfolge kleiner, orange leuchtender hüfthoher Punkte, die hinten immer näher zusammenrückten, ließ vermuten, dass es sich um einen langen, schlauchigen Gang handelte. Den Blick nach vorne, tastete er nach dem ersten Widerstand an der glattkalten Mauer und drückte darauf: In schneller Abfolge schaltete sich eine Deckenleuchte nach der anderen automatisch an. Tagliabue stand am Anfang eines gleißend hell erleuchteten, zirka zwei Meter schmalen, langen Tunnels, dessen Ende nicht zu erahnen und erst recht nicht zu erkennen war. Geschätzt alle zwanzig Meter befand sich eine dünne Stütze und unterteilte den Schlauch in Länge und Breite. Wegen seiner Dimension schien er gegen hinten anzusteigen.
Der Ermittler verkeilte die massive Tür mit einem groben Stück Holz und trat vorsichtig in den Gang. Während er sich Schritt für Schritt nach vorne bewegte, bemerkte er, dass dieser tatsächlich sachte anstieg und einen leichten Bogen nach rechts beschrieb.
Der Eingang war bereits nicht mehr zu erkennen, als er sich zwei, drei Minuten später umdrehte. Umso mehr, als die Lichter im Tunnel plötzlich erloschen – selbst die orangen Punkte der Lichtschalter waren nicht mehr zu erkennen. Es herrschte absolute Dunkelheit. Wie er sie sich nie hatte vorstellen können und wollen. Seine Hoffnung auf einen temporären Stromausfall zerschlug sich, als er hörte, wie die Tür gewollt geräuschvoll ins Schloss geworfen wurde. Er stellte sich mit dem Rücken zur kühlen Wand, ließ sich auf den Boden gleiten, um sich zu erholen. Dabei wurde er den Gedanken nicht los, dass Krämer oder einer seiner Gehilfen den Schlüssel kopiert, ihn verfolgt und in die unterirdische, tödliche Falle gelockt hatte. Und nur Deubelbeiss wusste, wo sein Chef sich befand. Allein er wusste von den Tätowierungen. Der Assistent hatte ihn verraten.
Obwohl Tagliabue seit einiger Zeit vor sich hinstarrte, konnte er im Dunkeln immer noch nichts erkennen. Um die Orientierung nicht komplett zu verlieren, entschied er sich, den Weg zurück in Angriff zu nehmen. Er stand eckig auf, steckte die Waffe in den Bund, streckte den linken Arm aus, ließ die Finger der Wand entlang gleiten und ging zügig in die vorgegebene Richtung. Als er eine ziemliche Distanz hinter sich gebracht und mit jedem Schritt an Sicherheit und Geschwindigkeit gewonnen hatte, prallte er ungeschützt in eine Stützsäule. Die explodierenden Schmerzen wurden von Bewusstlosigkeit abgelöst.
Als er zu sich kam, wusste er nicht, wo er sich befand und wie lange er weg gewesen war. Ihn plagten Hunger und Durst, die körperlichen Schmerzen waren abgeklungen. Er tastete sein Gesicht ab: Die Zähne fühlten sich zum Glück heil an, nur seine Oberlippe schien geplatzt. Er spürte das geronnene Blut, eine dünne Spur von einem Mundwinkel bis zum Kinn. Die rechte, geborstene Augenbraue verdeutlichte, dass er nicht frontal in das Hindernis gekracht war. Seine Nase tat ihm schon bei der leichtesten Berührung höllisch weh. Sie schien schräg in seinem Gesicht zu stehen. Das rechte Auge fühlte sich stark geschwollen an. Aufgrund der Dunkelheit um ihn herum konnte er aber nicht wissen, ob es vollständig geschlossen war und noch funktionierte. Nachdem er die Inventarisierung seiner Verletzungen beendet hatte, erhob er sich wieder. Er lehnte sich mit den Schultern an die Wand und schob sich vorsichtig vorwärts. Dabei wusste er nicht, ob er sich zurück zum Personalhaus oder zum anderen Ende des Tunnels bewegte. Immer wieder spürte er einen Lichtschalter in seinem Rücken. Alle Versuche, die Beleuchtung zu reaktivieren, blieben erfolglos.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stieß er auf den erhofften Widerstand: Es ging nicht mehr vorwärts. Im Vergleich zur Tunnelwand war die Oberfläche glatt. Links, rechts sowie oben war ein hölzerner Rahmen zu spüren. Er tastete nach einer Klinke, drückte diese erst behutsam, dann zunehmend kraftvoller nach unten. Die Tür war verriegelt und ohne Schlüssel nicht zu öffnen. Der Kommissar blieb gefangen, verletzt, hungrig, durstig und ohne Hoffnung.
Er rutschte an der Tür entlang nach unten, spürte den Druck der Waffe unangenehm im Kreuz. Sofort erhob er sich und zog sie aus dem Hosenbund. Er richtete die Mündung aufs Türschloss, entsicherte, überlegte, sicherte und steckte die Pistole wieder ein. Er zog das Hemd aus der Hose, riss ein kleines Stück heraus, steckte es in den Mund, spuckte es gut befeuchtet in die Rechte. Teilte es. Formte zwei Kugeln und stopfte sie sich in die Ohren. Er zog die Waffe erneut, suchte das Schloss, entleerte das Magazin. Trotz des improvisierten Gehörschutzes war das Knallen nicht auszuhalten, und das Mündungsfeuer blendete ihn.
Kaum hatten sich Rauch und Lärm gelegt, bearbeitete er die Tür. Mit jedem Stoßen und Ziehen bewegte sich das Blatt etwas mehr, bis das Schloss endlich seinen letzten Widerstand auf- und den Ausgang freigab.
Hinter der offenen Tür befand sich jetzt eine Leichtbauwand, die sich leicht zur Seite schieben ließ. Das Element war zur Tarnung vor dem Tunneleingang angebracht worden, wie dem Ermittler aufging. Vorsichtig begab er sich zur Treppe, um nach oben zu gelangen. Mit jeder Stufe nahmen die Dunkelheit ab und die Sicherheit zu. Zuoberst angekommen, öffnete er die Haustür. Grelles Licht schlug ihm vehement entgegen, und er musste zuerst stehen bleiben, um sich an die Verhältnisse zu gewöhnen. Der Hausschlüssel steckte, und ohne weitere Verzögerung schritt er Richtung Herrenhaus und Alfa.
Je näher er dem Zentrum kam, desto häufiger musste er an einer roten Ampel anhalten. Wie immer zog der Alfa die Blicke auf sich. Ab und zu näherten sich Passanten. Beim Blick auf das malträtierte Gesicht des Lenkers und die Pistole auf dem Beifahrersitz schreckten sie zurück und gingen hastig weiter.
Der Kommissar nahm das iPhone und gab die Nummer ein. Er war erleichtert, sich problemlos an die Nummernfolge erinnert zu haben.
«Kannst du mich in einer halben Stunde in der Garage abholen? Erinnerst du dich an die Parkplatznummer?» Er hängte auf, ohne die Antwort abzuwarten. Vor ihm setzte sich die Kolonne für einige, für ihn bei Weitem viel zu wenige Meter ruckartig in Bewegung.
Eine Dreiviertelstunde später tauchte er in die Tiefgarage ein. Mit quietschenden Reifen bahnte er sich den Weg durch die Reihen. Neben seinem Parkplatz stand das Taxi, der Bass war laut und von Weitem zu hören. Der Ermittler zirkelte den Wagen in die Lücke, steckte Handy und Waffe ein, stieg schwerfällig aus dem Alfa, schloss ab und wechselte in den Mercedes.
«Hi, Jamal», grüßte er. «Marley?»
Der Taxifahrer musterte den Fahrgast im Spiegel: «Musst dich nicht einschleimen. Tosh. Aber: Wie siehst du denn aus? Bist du in eine Wand gerannt?»
«Halt die Klappe und bring mich nach Hause. Ich brauche eine kalte Dusche, etwas zu trinken und zu essen. Genau in der Reihenfolge.»
«Die Sonnenbrille nicht vergessen», ergänzte Jamal mit einem Grinsen fast so breit wie sein Dialekt.
Mit einiger Verspätung erreichten sie das Ziel. «Warte auf mich. Ich bin gleich zurück.»
Der Kommissar schloss die Haustür auf und stieg so schnell es seine Schmerzen erlaubten die Stufen zur Wohnung hinauf. Im Badezimmer sah er sich im Spiegel und erschrak. Die aufgedunsene, bläuliche Nase dominierte sein Gesicht, das geschwollene rechte Auge ließ nur eine kleine Sehscharte übrig. Der cut in seiner Augenbraue und die geplatzte Lippe passten zum Rest seines verunstalteten Gesichts. Sorgfältig reinigte er die Wunden. Das Brennen des Vita-Merfen erinnerte ihn an die Kindheit und an die Mutter, die seine Verletzungen nach Streitigkeiten mit den anderen Kindern mit selbstgebrannter grappa erstversorgte.
Nachdem er sich allen restlichen Schmutz von Leib und Seele geduscht hatte, setzte er sich nur mit einem Tuch bekleidet an den Küchentisch und begann sich mit dem zu verpflegen, was er im Kühlschrank entdeckt hatte. Ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, sein Geschirr, die Reste oder den Abfall abzuräumen, wechselte er ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Als er das Licht einschalten musste, fiel ihm auf, dass es zu spät war und im Kommissariat keiner mehr anzutreffen sein würde, der ihm im Fall Schläfli weiterhelfen konnte. Er hatte keine Lust, noch einmal die Treppe hinunterzugehen, und wählte Jamals Nummer: «Kannst du mich bitte morgen um neun Uhr hier abholen? Es ist zu spät. Und ich bin zu müde. Schreib die Wartezeit bitte auf.»
«Kein Problem.»
Tagliabue hörte das Starten des Motors im Hintergrund.