Zehn |
Eine Stunde war ich damit beschäftigt gewesen, meinem Vater von Leonas fürchterlichem Liebeskummer zu berichten. Was natürlich alles grenzenloser Schwachsinn war, aber meiner besten Freundin ein wenig Herzschmerz anzudichten und Pas Ratschläge einzuholen, wie man ihr helfen konnte, fühlte sich hundertmal weniger unangenehm an als jede andere Lösung des Dilemmas. So war Vinzenz – der seltsame Junge mit dem Frack, der am Morgen mit uns in der Buchhandlung herumgehangen hatte – kurzerhand zu Leonas Cousin fünften Grades aus England geworden, in den Leo sich dummerweise verknallt hatte. Dummerweise deshalb, weil es da natürlich das Problem mit der gemeinsamen Familie gab. Aber so was kam schon mal vor, das konnte man in genügend Büchern lesen. Und sie waren ja auch nur fünften Grades miteinander verwandt, also halb so wild.
Im Verlauf des Gespräches war mir allerdings auch klar geworden, dass Leona mir diese hirnrissige Lügengeschichte niemals verzeihen würde. Sie durfte also unter keinen Umständen davon erfahren. Zumindest hatte Pa ziemlich erleichtert gewirkt, und das beruhigte mein schlechtes Gewissen ein wenig.
Nun stand ich vor meiner Zimmertür. Pa hatte sich mit einem Buch auf das Sofa zurückgezogen und stellte endlich keine weiteren Fragen mehr. Ich legte das Ohr an die Tür und lauschte. Es war nicht ein Ton aus dem Inneren meines Zimmers zu hören.
Eigentlich rechnete ich bereits mit dem Schlimmsten. Wenn Vinzenz so fies war, wie es in seinen Herkunftsromanen geschrieben stand, hatte er sicherlich das gesamte Mobiliar aus dem Fenster geworfen. Umso überraschter war ich, als ich das perfekt aufgeräumte Zimmer betrat. Ich erkannte es kaum wieder. Ordnung war nämlich nicht gerade mein Spezialgebiet. Aber heute war das Bett gemacht, keine Kleidung (hatte ich eigentlich meine BHs weggeräumt?), Schulhefte, Bücher und auch sonst keine Gegenstände kullerten auf dem Boden herum und meine drei knolligen Kakteen am Fensterbrett waren symmetrisch nebeneinandergerückt. Es machte den Eindruck, als wäre Vinzenz die vergangene Stunde mit Aufräumen beschäftigt gewesen. Er saß auf dem Boden, lehnte dabei den Rücken gegen die Wand und las vertieft in einem Buch. Erst als ich endgültig eintrat und die Tür hinter mir zuzog, blickte er auf.
»Miss Emma, auch wieder da?« Seine Augen fixierten mich mit einem feindseligen Funkeln. Die Sache mit dem Einsperren nahm er mir offenbar ziemlich übel. Mit Schaudern dachte ich an die Drohung, die er zuvor durch die Tür gezischt hatte: Falls Euch Euer Leben lieb ist.
Ich hatte keine große Lust herauszufinden, wie er das gemeint hatte. Er war bekanntlich mit allen Wassern gewaschen. Beispielsweise im ersten Teil der Trilogie hatte er heimlich einige Tropfen Gift in Phils Weinglas geschmuggelt, woraufhin Phil beinahe gestorben wäre, hätte Esmeralda nicht so rasch reagiert und ihn reanimiert. Mit einer Herzdruckmassage und gekonnter Mund-zu-Mund-Beatmung.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Vinzenz zu provozieren. Aber letztendlich gab es hier keine Möglichkeit für Giftbeschaffungen, zumindest solange ich kontrollierte, wo er sich herumtrieb. Die Apotheke in der Nachbarschaft kam jedenfalls schon mal auf die Liste der verbotenen Orte. Bekam man dort überhaupt Gift? Auch egal. Im Grunde durfte Vinzenz sowieso nirgendwo unbeaufsichtigt hin.
Er rappelte sich hoch und warf seine Lektüre theatralisch aufs Bett. »Keine Sorge, ich habe mich in diesem chaotischen Zimmer ganz köstlich amüsiert. Mit ›echter Spannungsliteratur, Geschichten die das Hirn fordern und deren Ende man nicht schon nach den ersten zwei Seiten weiß‹: Bibi Blocksberg.«
Mein Blick wanderte zu dem Buch, das er so energisch von sich gepfeffert hatte, und dann wieder zurück zu ihm.
Seine Mundwinkel zuckten bedrohlich, während er die Arme vor der Brust verschränkte. »Gefangenen im Mittelalter ging es besser als mir in Euren Fängen. Die haben wenigstens Wasser und Brot bekommen, Ihr lasst mich hier gnadenlos verhungern. Habt ihr schon einmal überlegt, dass auch ich nicht ohne Nahrung leben kann? Mein Magen knurrt seit Stunden und meine Kehle ist trockener als die Sahara.« Plötzlich bildete sich ein triumphierendes Grinsen auf seinen Lippen. »Das ist eine Wüste in Afrika.«
Ich verzog den Mund. Jetzt verwandelte er sich vom gewöhnlichen Fiesling auch noch in einen nervigen Klugscheißer. Mal davon abgesehen, dass ich nicht doof war und natürlich wusste, wo die Sahara lag.
»Mach mal halblang, du wolltest mich hintergehen«, erinnerte ich ihn an die miese Aktion von vorhin.
Vinzenz sah mich überrascht an. »Weil ich Euren Daddy begrüßen wollte? Ich dachte schlichtweg, dass es höflich wäre. Schließlich musste ich meine Hand in dem Polsterbezug seines Sofas von diesem exorbitant scheußlichen Taubendreck befreien, nachdem Ihr mir nicht gestattet habt, sie zu waschen. Allerdings war es da unten derart staubig, dass die paar Flecken nun auch nicht weiter ins Gewicht fallen. Ihr solltet euch dringend ein anderes Dienstmädchen anschaffen. Was ist mit diesem blonden Mädchen? Wieso putzt es nicht?«
»Philippa ist die Aushilfe in der Buchhandlung und nicht unser Dienstmädchen«, sagte ich.
»Das sollte sie aber besser sein, dieser Haushalt hätte eines nötig. Obendrein werde ich nun einige Zeit bei Euch wohnen, bestimmt wäre Euer Daddy froh, wüsste er von mir.«
Für einige Zeit. Wie sich das anhörte, so unendlich lange. Mir wurde ganz anders. »Ich möchte aber nicht, dass er von dir erfährt. Du bleibst nämlich nur ganz kurz.«
»Habt Ihr häufiger solche Geheimnisse?« Ein eigenartiges Grinsen wanderte über Vinzenz’ Mund. »Sorgt sich Euer Daddy deshalb? Weil Ihr Euch für gewisse Dinge interessiert?«
Ich spürte Blut in meine Wangen schießen, aber ich wusste nicht, ob vor Scham oder vor Wut. Wahrscheinlich beides. Dieser Kerl war die menschgewordene Unverschämtheit. Da half es am ehesten, seine Worte zu ignorieren. Also ließ ich mich im Schneidersitz auf den Boden sinken. Es war Zeit für eine gründlich durchdachte Strategie. Und zwar sofort. »Du hast gesagt, dass es eine Möglichkeit gibt, mit der ich wieder meine Ruhe vor dir habe«, kam ich zu den wichtigen Dingen.
»Oho. Ihr meint, mit der meine Wenigkeit wieder von Euch erlöst wird«, entgegnete Vinzenz und setzte sich gegenüber. »Das alles hier ist eine einzige Zumutung. Unter Eurem Bett lebt eine Ratte.«
»O nein!« Daran hatte ich vor lauter Aufregung gar nicht gedacht. Erschrocken duckte ich mich und lugte in den Spalt zwischen Lattenrost und Boden. »Hast du Mister Murphy geweckt?«
»Für wen haltet Ihr mich? Das Gespenst von Canterville? Ich fasse keine Ratte an. Dieses Vieh überträgt Krankheiten, zum Bespiel den schwarzen Tod.« Er schüttelte sich angeekelt. »Beulenpest, widerlich.«
»Das ist keine Ratte!«, schnauzte ich und richtete mich so energisch auf, dass ein paar rote Strähnen aus meinem Flechtzopf sprangen. »Mister Murphy ist ein Chinchilla. Er ist nachtaktiv, und wenn man ihn tagsüber stört, dann kriegt er Stressdurchfall, also mach das bloß nicht.« Ich öffnete meine Haare vollständig und flocht einen neuen Zopf.
»Argh, das ist wirklich …« Vinzenz’ Gesichtsausdruck nach zu urteilen, glaubte er mir nicht so ganz, dass es sich bei Mister Murphy um keine Ratte handelte. »Kommen wir zurück zu Eurer Frage. Es gibt in der Tat einen Weg, um die Ketten zu lösen.«
Ich seufzte erleichtert und knotete meine Haare wieder mit dem Gummiband zusammen. »Wie denn?«
»Bringt mir etwas zu essen, dann sag ich es Euch.«
»Das nennt man Erpressung«, stellte ich genervt fest.
»Nun.« Vinzenz zuckte die Schultern. »Ich bin nun einmal ein Schurke. Bedankt Euch bei Hannah Ruderer.«
»Das werde ich machen, darauf kannst du Gift nehmen!« Rasch sprang ich auf. Ich war sicher, es wäre besser, ihm erst mal zu geben, was er verlangte. Draußen brach langsam die Abenddämmerung an und die vergangene Nacht in der Buchhandlung war nicht sonderlich erholsam gewesen. Ich wollte wenigstens heute eine ordentliche Mütze voll Schlaf bekommen, ohne mich ständig darum sorgen zu müssen, was dieser Kerl wohl gerade anstellte.
Ein mickriges Stück Camembert und eine halbe Salatgurke lachten mir hämisch aus dem Kühlschrank entgegen. Das war typisch. Pa hatte wieder einmal nicht daran gedacht, dass man hier ab und an auch einmal (abgesehen von Tiefkühlmenüs) den Essensvorrat auffüllen musste. Aber Vinzenz hatte es sowieso nicht anders verdient. Nun war nur zu hoffen, dass Romanfiguren über einen kleinen Magen verfügten und entsprechend leicht satt zu kriegen waren.
Ich platzierte Gurke und Käse auf einen Teller, legte noch zwei Scheiben trockenes Toastbrot dazu und verließ die Küche. In der anderen Hand hielt ich eine große Flasche Limonade. So rasch wie möglich huschte ich durch das Wohnzimmer, in dem Pas lautes Schnarchen vom Sofa bis an meine Ohren drang. Der Stephen King war wohl nicht besonders spannend. Zum Glück. So blieb mir die Frage erspart, weshalb ich nach dem vielen Reis immer noch hungrig war.
Vinzenz’ Augen verrieten sofort seine mäßige Begeisterung.
»Scherzt ihr?«, fragte er ungläubig. »So bewirtet Ihr Eure Gäste? Nicht einmal Scones habt Ihr zu bieten? Im Übrigen besteht ein anständiges Sandwich zumindest aus Schinken, Senf und Mayonnaise, nicht aus Grünzeug und verschimmeltem Käse.«
Langsam reichte es mir. Energisch drückte ich ihm den Teller in die Hand. »Das ist französischer Blauschimmel-Camembert, den kauft man schon schimmlig und der ist ganz exquisite.« So nannte Pa ihn zumindest; ich selbst hatte ihn noch nie probiert.
Vinzenz verzog das Gesicht.
»Sei froh, dass es nicht nur Wasser und Brot ist. Außerdem ist das keine gewöhnliche Gurke, meine Oma Frieda hat sie in ihrem Schrebergarten angebaut. Sie gewinnt sogar Preise dafür.« Ich wusste, dass das ein bisschen lächerlich klang, aber es war nun mal die Wahrheit.
»Preise? Für Gemüse?«, staunte Vinzenz, während er unsicher an der Gurke roch, als ob er Angst hätte, ich könnte sie vergiftet haben.
Ich nickte. »Ja, beim nationalen Gurkenwettbewerb vom Verband der Schrebergärtner. Sie hat letztes Jahr den ersten Platz belegt. Für die schönste, längste, geradeste Gurke.«
Jetzt sah Vinzenz mich ganz komisch an, aber er sagte nichts, bevor er sich wieder auf den Boden setzte und ohne weitere Beschwerde mit einem lauten Knacken in die Gurke biss. Eine Weile kaute er andächtig, dann zuckte er mit den Schultern. »Oho.«
»Sag ich doch.« Ich ließ mich auf die Knie sinken, schraubte die Limonade auf und reichte sie ihm. »Dann kannst du mir jetzt ja zwei Fragen beantworten. Nummer eins: Weshalb hast du Leonas Handy? Nummer zwei: Wie werde ich dich noch heute Nacht los?«
»Nummer eins: Es ist ihr aus der Tasche gerutscht und ich habe es aufgehoben. Was denkt Ihr von mir? Dass ich ein Dieb bin?« Er grinste amüsiert. »Mir scheint, Miss Leona hat es nicht wirklich vermisst. Aber ihr wart ja auch den ganzen Tag zusammen unterwegs, dem Anrufverlauf nach telefoniert sie sowieso nur mit Euch und ihrer Mutter.«
Ich funkelte ihn böse an. »Sag bloß, du hast auf deinen doofen Zeitreisen auch genauestens gelernt, wie man Handys bedient.«
Vinzenz nahm noch einen Bissen von der Gurke. »Miss Emma, da habt ihr ausnahmsweise einmal richtig geraten. Selbstredend weiß ich, wie man diese neumodischen Dinger bedient. Oft genug musste ich Esma ihres entwenden, um Phil in einen Hinterhalt zu locken.«
»Na klasse«, knurrte ich.
»Wer ist dieser Jonas?«
O Mann. Wie kam er jetzt darauf? Bestimmt hatte er alle von Leonas und meinen hochprivaten Nachrichten durchstöbert. Dieser Mistkerl.
»Weiß Euer Daddy von diesen Absichten?«, wertete Vinzenz mein Schweigen als Einladung, noch mehr Salz in die Wunde zu streuen.
Ich seufzte. »Das ist … privat.«
»Ich stecke meine Nase mit dem größten Vergnügen in Eure Privatangelegenheiten«, entgegnete Vinzenz mit Blick auf den Teller. »Die wichtigen Details kenne ich ohnehin längst. Er hat mit einer blöden Oberziege namens Megan rumgemacht und Ihr hofft, dass sie eine bisher unentdeckte Erdbeerallergie hat, die ihr rote Furunkel ins Gesicht zaubert. Wegen all der Erdbeeren, die dieser Jonas ihr mit seiner Zunge in den Mund geschoben hat. Habt Ihr diese Person etwa ausspioniert? Beim Tête-à-Tête? Wie unanständig.«
Ich war mir nicht ganz sicher, was genau er unter einem Tête-à-Tête verstand, aber ich konnte es mir denken und merkte, wie mein Gesicht sich knallrot verfärbte. Verfluchte Veranlagung. Dennoch versuchte ich, möglichst selbstbewusst zu klingen. »Man stöbert nicht in den Sachen fremder Leute.«
»Wohl wahr, aber Ihr seid meine Leserin«, lachte Vinzenz. »Womit wir zu Nummer zwei kommen: Gar nicht.«
»Was?«
»Ihr werdet mich heute Nacht nicht los.«
»Aber du sagtest doch …«
»Dass es eine Möglichkeit gibt, nur selbstverständlich geht das nicht so schnell.« Er sah mich mit einem breiten Lächeln an und steckte dann den ganzen Käse auf einmal zwischen die Backen. Seine Essensmanieren schienen alles andere als der britischen Etikette des neunzehnten Jahrhunderts zu entsprechen – oder auch nur irgendeiner Etikette. Alleine wie er jetzt das Toastbrot mit den Fingern in seine Einzelteile zerrupfte. Er wäre bestimmt hochkant von jeder feinen Teeparty geflogen, auch wenn er mit Begriffen wie Tête-à-Tête um sich werfen konnte. Miss Marple hatte also tatsächlich auf ganzer Ebene versagt. Die Arme. Bestimmt drehte sie sich gerade im Grab um. Und auch ich spürte die Verzweiflung immer größer werden. Allerdings nicht wegen seines schlechten Benehmens, das war mir egal. Aber so langsam bekam ich die Befürchtung, dieser eine verfluchte Abend in der Buchhandlung würde mir ausgerechnet die letzten Tage der Sommerferien gehörig vermasseln. Wie es wohl wäre, wenn am Montag die Schule wieder losging und ich es bis dahin nicht geschafft hatte, diesen Fluch zu brechen, wollte ich mir gar nicht näher überlegen. Oder der Back-to-School-Ball am nächsten Freitag! Dazu durfte es nicht kommen.
»Ich kann mich an den Geschmack von Schimmel gewöhnen«, mümmelte Vinzenz mit vollem Mund, ihn ließ unsere entsetzliche Lage offensichtlich völlig kalt. »Und die preisgekrönten Oma-Frieda-Gurken.«
»Also gut«, versuchte ich, meine Niedergeschlagenheit zu überspielen. »Trotzdem solltest du mir endlich sagen, was wir tun müssen, um diese Verbindung zwischen uns zu lösen.«
»Mhm.« Vinzenz nickte. »Ihr solltet wissen, die Sache ist leichter, als Ihr denkt. Die Kette lässt sich sofort lösen, solange ich freiwillig zurück in meine Geschichte kehre.«
»Oh!«, schöpfte ich bereits Hoffnung. Doch dann registrierte ich das verdächtige Schmunzeln in Vinzenz’ Gesicht. »Aber du gehst natürlich nicht freiwillig?«, seufzte ich entnervt.
»Ihr habt es erkannt.« Vinzenz wischte seine Hände an meinem Teppichboden ab. »Jedenfalls nicht gleich. Einigen wir uns also auf einen Deal.«
»Einen Deal?«
»Ganz richtig, einen Deal.«
»Aha, und wie sieht der aus?«
»Ihr macht Hannah Ruderer ausfindig, wir statten ihr einen Besuch ab, sie bringt die gesamte Geschichte in Ordnung – was bedeutet: Sie lässt mich nicht sterben und der Schurke muss ich auch nicht mehr sein – et voilà. Nun, was sagt Ihr?«
»Was soll das für ein Deal sein?«, knurrte ich. »Wäre es ein Deal, hätte ich ja wohl auch irgendwas davon.«
»Oh, das habt Ihr.« Vinzenz schmunzelte. »Sobald sie das erledigt hat, kehre ich in meinen Roman zurück. Steht der Deal also?«
»Du gehst danach wirklich freiwillig zurück?«, vergewisserte ich mich noch einmal.
»Aber natürlich! Miss Emma, würde ich Euch jemals belügen?« Er legte eine Hand auf seine linke Brust und machte ein Gesicht, das mich nicht unbedingt überzeugte. »So nebenbei kann ich ohnehin nur zurück in meine Geschichte, wenn Hannah Ruderer mich mithilfe einer Szene hineinschreibt, die mich wieder in die Handlung führt. Dazu ist einzig und alleine meine Autorin in der Lage.«
»Das heißt dann …«
»Ganz recht. Wir müssen Hannah Ruderer so oder so finden.«
»Na super, wie sollen wir das bitte schön anstellen? Und außerdem könnte ich dich doch zurück in deine Buchwelt bringen, indem ich mich mehr als hundert Schritte von dir entferne, oder?«
»Theoretisch.« Vinzenz schluckte runter. »Aber das löst die Kette nicht, denn es ist mitnichten freiwillig. Entfernt Ihr Euch mehr als hundert Schritte, schleudert es mich zwar gegen meinen Willen zurück in den Text, doch dabei reiße ich Euch mit. Ich denke, das ist keineswegs in Eurem Sinne.«
»Scheiße, nein!« Meine Augen weiteten sich entsetzt.
Das war alles wie in einem fürchterlichen Albtraum, der einfach nicht enden wollte! Hatte ich mir vorhin tatsächlich noch Gedanken um ein paar lausige Tage Sommerferien gemacht? Hier ging es um viel mehr, nämlich meine ganze Zukunft! Ich kaute nervös auf dem Nagel meines Zeigefingers herum. »Aber das ist total aussichtslos. Soll ich etwa Hannah Ruderer eben mal anrufen und fragen, ob wir vorbeikommen dürfen?«
»Miss Emma, das ist eine famose Idee!«
»Hallo? Ich kenne sie gar nicht wirklich!«
»Aber Euer geschätzter Daddy, ist es nicht so?«, fragte Vinzenz. »Ihr könntet Ihn mit Hannah Ruderer verkuppeln, es würde die ganze Angelegenheit um einiges erleichtern. Er ist alleinstehend? Oder wo steckt Eure Mutter?«
Ich sah ihn an und schwieg. Das war nun wirklich das letzte Thema, über das ich Lust hatte, mich mit ihm zu unterhalten. Doch dann würgte ich die bitteren Gefühle hinunter und murmelte leise: »Meine Mutter ist gestorben.«
»Oh.« Vinzenz setzte sich aufrecht hin. »Das ist … das tut mir leid, ich hatte keine Ahnung.«
Er wirkte ehrlich betroffen und dieses Einfühlungsvermögen erwischte mich wie eine unerwartete Lawine, weil ich ihm nicht zugetraut hatte, sich auch einmal angemessen zu verhalten.
»Schon okay. Ich war erst zwei und habe sie nie wirklich kennengelernt«, sagte ich. Dann verstummte ich wieder und versuchte, den Knoten wegzuatmen, der sich auf einmal um meinen Hals gelegt hatte. Das war schwerer als gedacht.
»Das ist keineswegs in Ordnung. Mir fehlen die Worte«, meinte Vinzenz gedämpft. Darüber war ich ziemlich froh. Mir war lieber, wir sprachen nicht weiter darüber.
»Warum sollte Hannah Ruderer dir überhaupt glauben, dass du der Vinzenz aus ihren Büchern bist? Sie würde bestimmt denken, du wärst ein durchgeknallter Fan«, sagte ich rasch.
Vinzenz schien der abrupte Themenwechsel nichts auszumachen, offenbar verstand er den Wink. Er wirkte nicht einmal irritiert. »Wenn Miss Leona als Leserin in der Lage war, mich sofort zu erkennen, dann ist es wohl das Mindeste, was ich mir von meiner Autorin erwarten kann.« Jetzt blickte er mich mit einem sanften Lächeln an. Da war tatsächlich was dran. Leider ziemlich der einzige Funken Hoffnung in diesem ganzen Schlamassel. Und damit war der Punkt erreicht, an dem mir alles zu viel wurde. Ich spürte, wie sich Tränen in meine Augen drückten, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen wehrte. Ich wollte wirklich nicht vor Vinzenz losheulen, besonders nachdem die Sprache auf meine Mutter gefallen war. Ich hasste es schon genug, wenn ich überall immer ganz mitleidig angesehen wurde, sobald das jemand erfuhr. Normalerweise erzählte ich es deshalb nur wenigen Menschen freiwillig, denn entweder behandelte man mich danach mit Samthandschuhen oder es kamen dumme Sprüche.
Heute verlor ich den Kampf gegen die Tränen, sie kamen wie von selbst. Rasch vergrub ich das Gesicht in meinen Handflächen und hoffte, sie noch verstecken zu können.
Doch Vinzenz entgingen die feuchten Augen natürlich nicht. Er stellte den in der Zwischenzeit leer gegessenen Teller eiligst zur Seite und rückte näher. »Miss Emma, weint nicht. Kein Umstand des Lebens ist jemals ohne Aussicht. Glaubt mir, ja?« Sanft griffen seine Finger nach meinem Kinn und hoben es ein wenig in die Höhe. Mit verschwommenem Blick sah ich ihn direkt an. Sein Lächeln hatte plötzlich etwas unglaublich Gutherziges. Das passte überhaupt nicht zu einem Schurken. Vor lauter Gefühlsdurcheinander brachte ich keinen Ton mehr heraus, dafür kullerten mir noch ein paar dicke Tränen über die Wangen. Das war so was von peinlich! Bestimmt hielt er mich jetzt für eine richtige Heulsuse, dabei weinte ich üblicherweise fast nie.
»Alles wird gut, das verspreche ich Euch«, sagte er und fuhr mir mit den Daumen sanft über die nasse Haut. Und dann passierte es. So plötzlich und heftig wie ein unerwartetes Sommergewitter. Er schloss mich in seine Arme. Einfach so. Wie vom Donner gerührt saß ich da und konnte mich im ersten Augenblick gar nicht mehr bewegen. Noch kein Junge war mir jemals so nahe gekommen. Er roch verdammt gut. Sein Duft erinnerte an ein neues, druckfrisches Buch, das man zum ersten Mal aufschlägt und noch vor dem Lesen an die Nase setzt, um dieses einzigartige Aroma einzuatmen, ehe es an Intensität verliert. Dazwischen eine milde Gurkennote.
Die Umarmung dauerte zwar nur einige Sekunden, doch auch als er sich wieder von mir gelöst hatte, nahm ich seinen Geruch und seine Körperwärme noch ein wenig wahr. Ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit. Ich war froh, dass ich auf dem Boden saß. Anders wären mir wahrscheinlich die Beine zusammengesackt, denn meine Knie waren auf einmal weich wie Oma Friedas Beerengrütze. Was war nur in mich gefahren? Der Kerl war mir schließlich noch vor wenigen Minuten mehr auf den Keks gegangen, als irgendein anderer Typ auf diesem Planeten je in der Lage gewesen wäre. Und jetzt konnte ich nicht einmal mehr meinen Blick von ihm abwenden. Ich starrte auf seine Lippen und plötzlich kam mir ein völlig abwegiger Gedanke. Ob die, wenn man sie küsste, wohl so schmeckten, wie Papier roch? Aber nicht dem gewöhnlichen aus einem Zeichenblock, sondern diesem besonderen, auf das richtig hochwertige Bücher gedruckt wurden. Ein bisschen fester, rauer und duftender. Wie das, das beim Umblättern so schön unter den Fingern raschelt.
In meinem Bauch begann es zu flattern. Was machte ich mir hier eigentlich gerade für verrückte Gedanken? Ich musste ja völlig übernächtigt sein, dass mir allein von seiner Umarmung so schummrig wurde. Oh Mann! Aber warum verhielt er sich auf einmal so … nett? Und wieso überlegte ich überhaupt, wie es war, seine Lippen zu küssen? Völlig dämlich, ich kannte ihn noch nicht mal vierundzwanzig Stunden. Ganz davon abgesehen, dass er nun einmal aus einem Roman stammte und jedes noch so winzige Bauchkribbeln alleine aus diesem Grund sowieso irrwitzig war. Auf gewisse Weise war er ja nicht einmal echt. Auch wenn er sich ziemlich echt anfühlte, besonders in diesem Moment.
»Wisst Ihr, oft sind Dinge selbst dann möglich, wenn jede Vernunft sie völlig undenkbar erscheinen lässt.« Während er das sagte, musterte er meinen Mund mindestens so aufmerksam, wie ich es bei ihm getan hatte. Was ihm wohl gerade durch den Kopf ging? Mir stockte der Atem. »Sonst hätte ich meine Buchwelt niemals verlassen können. Wenn man es wirklich will, schafft man alles. Weshalb sollten wir dann an irgendetwas scheitern? Könnt Ihr mir das verraten?«
»Nein«, presste ich heiser hervor.
»Seht Ihr«, sagte er und obwohl es uns in Wahrheit noch keinen Schritt weiterbrachte, die Tatsache, dass er an eine Lösung des Dilemmas glaubte, machte mir Mut. Im Gegensatz zu den komischen Schmetterlingen in meinem Bauch. Vinzenz war nun wirklich der letzte Junge, in den ich mich verknallen durfte. Am Ende spielte er nur mit mir, genauso wie er es mit Esmeralda auf dem Maskenball getan hatte. Überhaupt. Esmeralda. Die Gedanken an sie ließen das dumpfe Gefühl, das sich um mein Herz legte, noch schwerer werden. War er eigentlich wirklich in sie verliebt?