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Vierunddreißig

Meine Flugbahn endete mitten im Schilf. Ich schaffte es in letzter Sekunde, mein Gleichgewicht auszubalancieren, bevor es mich gnadenlos in den Matsch werfen konnte. Mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen gar nicht so einfach.

Der Nebel schien sich ein bisschen verzogen zu haben. Dafür war es immer noch entsetzlich kalt.

»Emma? Bist du es wirklich?«

Vinzenz stand hinter mir und sah mich an. Neben ihm der hechelnde Charleston. Wieder war ich erstaunt, wie extrem riesig dieser Hund war!

Hatte Vinzenz seit meinem letzten Textsprung auf mich gewartet?

Es war so dunkel, dass ich nicht viel mehr als Umrisse erkennen konnte. Aber trotzdem wusste ich, dass Vinzenz ein paar Strähnen seiner schwarzen Haare ins Gesicht fielen. Der Regen drückte sie ihm gegen die Stirn.

Mein Herz machte einen riesengroßen Satz. Wahrscheinlich war ich noch nie so froh gewesen, jemanden wiederzusehen. Und obwohl mir klar war, dass wir uns auch jetzt nur für einen kurzen Moment noch einmal sehen konnten und wir vor allem keine Zeit hatten, hätte ich diesen einen Augenblick, der uns blieb, am liebsten festgehalten. Es fühlte sich so verdammt real an, konnten diese Gefühle wirklich nur Lug und Trug sein?

»Was ist geschehen?«, fragte er, während er begann, meine Fesseln zu lösen, ohne die Antwort abzuwarten.

»Danke.« Ich rieb mir die brennenden Gelenke. »Vinz, ich fürchte, wir haben ein Problem.«

»Das dachte ich mir schon fast«, erwiderte er. »Sonst wärst du wohl kaum hier. Also nicht, dass es mich … Ich muss nur gestehen, ich hatte nicht … Aber ich wünschte vielleicht sogar ein wenig, ich wäre nie …« Er brach ab. War denn das zu fassen? Vinzenz Brandfair hatte es doch tatsächlich die Sprache verschlagen!

Wir schauten einander schweigend an. Plötzlich war es wieder so weit.

Die Zeit blieb stehen. Der Regen prasselte auf unsere Köpfe, kalter Wind wehte um unsere Nasenspitzen. Echtes britisches Muffelwetter eben.

Vinzenz machte einen Schritt auf mich zu. Er fuhr mit der Hand durch meine Haare. Immer noch sprach keiner von uns beiden auch nur ein Wort. Ich hoffte, er würde endlich etwas sagen. Denn mir hockte ein fetter Frosch im Hals.

Doch Vinzenz nahm nur sanft mein Gesicht zwischen seine Handflächen und ließ die Daumenkuppen über meine Wangen streichen, bevor er sich langsam zu mir hinunterbeugte.

Seine Lippen berührten meine. Die Kälte von draußen mischte sich mit Wärme von innen. Regentropfen vermengten sich mit unserem Kuss. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, so wie ich es aus Filmen kannte. Und ganz ehrlich, das fühlte sich wirklich richtig gut an!

Ich spürte, wie seine Hände langsam von meinem Gesicht, über meine Schultern bis zur Taille wanderten. Er zog mich noch fester an sich heran. Mir war plötzlich, als würden ein paar glühende Kohlen in meinem Bauch brennen. Und obwohl mir so heiß war, durchfuhr ein Gänsehautschauer meinen gesamten Körper.

Wir hielten inne. Aber nur, um Luft zu holen. Langsam ließ ich meine Nasenspitze gegen seine sinken. Meine Stirn gegen seine. Ich lachte kurz und leise. Er lachte kurz und leise. Dann trafen unsere Lippen wieder aufeinander und alles begann von vorne. Sekunden? Minuten? Stunden?

Ich fühlte mich noch vollkommen benommen, als Vinzenz sich schließlich wirklich von mir löste und sogar einen Schritt zurücktrat. Er räusperte sich leicht verlegen. »Ich denke, Emma, es wäre ein guter Zeitpunkt …?«

»Wofür denn?«, fragte ich mit heiserer Stimme. So ganz war ich noch nicht aus unserem Kuss aufgewacht.

»Um mir zu erzählen, wie genau unser Problem aussieht«, antwortete Vinzenz. »Denn sosehr es mich auch freut, dich zu sehen, bin ich mir durchaus darüber bewusst, dass deine Anwesenheit nichts Gutes zu bedeuten hat. Überdies habe ich keine Erklärung dafür. Ich bin aus freien Stücken zurück in meine Welt gekehrt, du dürftest also gar nicht hier sein. Und es erweckt den Anschein, als wärst du mehr als einmal hin- und hergesprungen?« Jetzt musste auch ich einen Schritt rückwärts machen.

Schlagartig nahm ich wieder wahr, wie eisig sich die Luft um uns herum anfühlte.

»Wir haben ein extrem wichtiges Detail übersehen«, begann ich und versuchte im Anschluss, alles, was in den letzten Stunden seit meinem Aufwachen geschehen war, so schnell wie möglich zu erzählen: Die Identität des Monokel-Opas, die erschreckende Rolle von Hokuspokus-Jettie, die Absichten der beiden und … das fiel mir besonders schwer … den wahren Hintergrund unserer plötzlichen Schockverliebtheit.

»Das mag alles stimmen«, sagte Vinzenz, kaum dass ich meinen Bericht beendet hatte. »Doch in einer Sache täuscht sich dieser Mann gehörig.«

»Womit?«, wollte ich wissen.

»Ich habe mich nicht in dich verliebt, weil er mich nach unserem Tanz zwischen den Kleiderstangen hypnotisiert hat. Emma Grünwald, wie kannst du so etwas glauben? Zu diesem Zeitpunkt war es doch schon längst um mich geschehen. Das passierte just in dem Moment, in dem ich dich samt deiner wunderschönen Sommersprossen zum ersten Mal sah.«

Wie vom Donner gerührt starrte ich ihn an – Wumm.

Ich landete auf einem Haufen muffelnder Strickpullis.

Aber ich schaffte es nicht sofort, wieder aufzustehen.

Mit Blick an die Decke von Jetties dusterem Altkleiderladen lag ich da, streckte meine Arme aus und versuchte das Chaos in meinem Bauch zu sortieren.

Hatte Vinzenz gerade wirklich meine Sommersprossen erwähnt? In der wohl schönsten Liebeserklärung, die ich mir von einem Jungen auch nur vorstellen konnte?

Und wie sollte ich jetzt noch schaffen, ihn für immer aus meinem Leben verschwinden zu lassen?

Wollte ich diese Textsprünge überhaupt wirklich stoppen? Vielleicht war es ja doch so was wie Schicksal und ich sollte den Rest meines Lebens an Vinzenz’ Seite in dieser Jane-Austen-Roman-Lookalike-Welt verbringen? Tag für Tag Scones mit Clotted Cream aus der Küche der guten Misses Fitzgerald essen? Lange Spaziergänge durch das nasskalte, britische Nebelwetter unternehmen?

Aber das würde Pa endgültig das Herz brechen.

Ich fuhr kerzengerade in die Höhe. O Gott! Was waren das bloß für verrückte Gedanken? Diese Überlegung stand doch gar nicht zur Debatte! Es musste einen anderen Ausweg geben!

Wie lange hatte ich dieses Mal eigentlich in der Buchwelt gesteckt? Ich durfte nicht länger meine Zeit verschwenden. Schnell sprang ich aus dem Mottenkugel-Strickpulli-Wühltisch und rannte zur Kassentheke. Ein Gutes hatte es, dass Leona nie genügend Taschengeld für coole, neue Klamotten bekam. Wir kannten Jetties Second-Hand in- und auswendig. Deshalb wusste ich auch sofort, dass sich neben der Kasse ein mit Schmuck und Krimskrams behängter Drehständer befand. Es dauerte nicht lange, bis ich eine Taschenuhr entdeckt hatte.

Bei meinem nächsten Sprung würde ich also vorbereitet sein – Wumm.

»Du musst versuchen, aus Jetties Laden auszubrechen!«, begrüßte Vinzenz mich. Er schien sich nicht vom Fleck gerührt zu haben.

Ich hingegen war auf meinem Hintern neben der Schaukel gelandet und musste in Kauf nehmen, dass Charleston mir einmal mit seiner sabberigen Hundezunge quer über die Wange leckte. »Danke, guter Junge.« Ich drückte das Tier sanft zur Seite und warf einen Blick auf die Uhr. Mist. Es war viel zu dunkel, ich konnte das Ziffernblatt kaum sehen.

»Und dann musst du den Prozess des Rücksprungs stoppen«, sprach Vinzenz weiter.

»Wie genau soll das gehen?«, machte ich ihn auf den Haken bei diesem Plan aufmerksam. Genervt ließ ich die Uhr in meiner Jeanstasche verschwinden. Wieso hatte Jettie auch diese alten Dinger und keine anständige Uhr, mit einer beleuchteten Anzeige?

Dankbar registrierte ich, dass Vinzenz mir seine Hand entgegenstreckte, um mir auf die Beine zu helfen. Meine Knie fühlten sich wie Pudding an. Von diesem ständigen Hin und Her war mir in der Zwischenzeit nicht nur schwindelig, sondern schlicht und ergreifend kotzübel.

»Es könnte gelingen, wenn Hannah Ruderer die Szene, die für meinen Rücksprung gedient hat, wieder löscht. Diese Szene ist immerhin, was die Prozedur überhaupt erst gestartet hat. Ja, Emma! Das ist es! Diese Szene ist nicht nur mein Tor zurück in die Welt der Bücher, sie ist auch der Auslöser deiner Sprünge! Und es schleudert dich hin und her, weil deine Verbindung in die Realität noch zu stark ist. Etwas hält dich dort, sonst hätte es dich gleich von Anfang an dauerhaft mitgerissen!«

»Und was passiert mit dir, wenn ich diese Szene lösche?«, fragte ich verunsichert.

»Mit mir?« Obwohl es so dunkel war, nahm ich genau wahr, wie Vinzenz mich betrachtete. »Mich hat es seit meiner Rückkehr nicht mehr aus dem Text gerissen. Ich denke, meine Heimkehr ist vollständig abgeschlossen. Wenn es dir also gelingen würde, die Szene zu löschen, bevor es dich das nächste Mal in die Buchwelt schleudert, haben wir eine winzige Chance, das letzte Band zwischen uns zu trennen. Natürlich ohne Garantie. Aber was können wir anderes tun, als es zu versuchen?«

Ich schaffte es nicht, ihm zu antworten. Mir gefiel diese Idee nicht, auch wenn ich wusste, dass sie vermutlich meine einzige Möglichkeit war. Aber sie fühlte sich schrecklich endgültig an.

»Folge mir!« Vinzenz griff nach meiner Hand und zog mich mit sich. Charleston rannte hechelnd voraus.

»Wohin gehen wir?«, wunderte ich mich.

»Wie ich sagte, du musst es irgendwie schaffen, aus Jetties Laden auszubrechen!«

»Und wieso laufen wir deshalb zu eurem Herrenhaus?«

»Meine werte Ziehmutter besitzt eine beträchtliche Sammlung an Haarnadeln. Damit kannst du das Schloss knacken.«

»Moment mal. Du willst, dass ich Jetties Ladentür mit einer Haarnadel knacke, die ich vorher deiner Ziehmutter klaue und mit in die Realität nehme?«

»Man kann Gegenstände mitnehmen«, antwortete Vinzenz. »Sonst hätte Krötenstaub kaum sein Monokel bei sich. Und ich war doch auch nicht im Adamskostüm, als ich meine Geschichte verließ, oder?« Er schmunzelte mich keck an.

»Nee, warst du nicht«, gab ich stimmlos zu. »Aber das ist ja auch gar nicht mein Problem.«

»Sondern?«

»Verdammt, Vinz! Ich habe doch keinen Schimmer, wie man mit einer Haarnadel ein Schloss aufbricht! Denkst du, ich bin ein Panzerknacker, oder was?«

»Das ist nicht schwer«, hielt er dagegen. »Ich werde es dir genauestens erklären.«

Wirklich überzeugt hatte er mich nicht, aber was blieb denn für eine andere Möglichkeit?

»Dann los.« Vinzenz bugsierte mich durch ein Labyrinth von Rosenhecken, vorbei an grauen Steinstatuen und dem winzigen Cottage des Gärtners. Im Gegensatz zu mir, fand er sich trotz Dunkelheit und Nebel vollkommen problemlos zurecht.

Kein Wunder. Vinzenz war hier aufgewachsen.

Zum ersten Mal wurde mir so richtig bewusst, dass dieser Ort genauso sehr sein Zuhause war, wie für mich der Buchladen und unsere Wohnung.

Es dauerte eine Weile, bis wir den Teich hinter uns gelassen hatten und ich das Herrenhaus in voller Pracht vor mir sah. Im unteren Stock flackerte Licht durch die Fenster. Dadurch war es hier schon viel heller als in den anderen Teilen des Grundstücks.

An den Seiten ragten zwei kleine Türme mit spitzen Giebeln empor und drei Krähen hatten sich auf dem Sims des Daches niedergelassen.

»Wir müssen durch den Dienstboteneingang schleichen«, raunte Vinzenz über die Schulter. »Mutter und Vater dinieren. Sie sind bestimmt ohnehin längst darüber erbost, dass ich so lange mit Charleston unterwegs bin, anstatt mich pünktlich bei Tisch einzufinden. Es wäre ungünstig, würden sie uns gemeinsam erwischen. Besonders meine Ziehmutter wäre ein Stör… Wumm.

Auf allen vieren landete ich auf dem Boden des Secondhandshops. Die Wände schienen zu wackeln. Buchwelt – Realität – Buchwelt – Realität … Drehwurm.

Das Springen begann mir mächtig zuzusetzen. Ich fühlte mich vollkommen benebelt und wusste einen Augenblick nicht einmal mehr, welche Welt welche war. Der muffige Secondhandshop erschien mir unwirklich. Es war, als würde ich Buchgeruch anstelle von Mottenkugeln riechen. Was hatte das zu bedeuten? Begann mir die Realität Stück für Stück zu entgleiten?

Was auch immer geschah, ich musste so oder so zusehen, dass ich aus diesem bescheuerten Laden kam und Hannah fand. Und wer behauptete denn, dass es nicht auch bei Jettie einen passenden Gegenstand gab, um die Tür aufzubrechen?

Panisch wirbelte ich herum. Verdammt! Nichts als alte Klamotten! Auf dem Drehständer mit dem Schmuck hingen heute nicht einmal Ohrringe! Jettie hatte sich offensichtlich auf alle Eventualitäten vorbereitet.

Obwohl auf der anderen Seite ohnehin das Problem blieb, dass ich noch nie irgendwo ausgebrochen war. Doch in der Not kann man bekanntlich zur Höchstform auflaufen. Und wenn das hier kein Notfall war, was dann?

Ich griff nach der Taschenuhr. Es vergingen fünfzehn Minuten bis zum nächsten – Wumm.

Damit stand fest: Meine Aufenthalte in der Realität wurden kürzer, während die Dauer in der Buchwelt eindeutig wuchs.

Erleichtert stellte ich fest, dass ich nicht unweit von der Stelle landete, an der Vinzenz und ich zuvor gestanden hatten.

»Wie oft bist du jetzt schon gesprungen?«, fragte Vinzenz.

»Ich weiß es nicht mehr«, musste ich zugeben. Vor lauter wildem Hin und Her hatte ich wirklich komplett die Übersicht verloren.

»Dann dürfen wir keine Zeit verlieren«, sagte Vinzenz. »Das hier sollte in jedem Fall dein letztes Mal in dieser Welt sein.«

Ich nickte bloß und folgte ihm bis zum Herrenhaus.

Wir drückten uns zügigen Schrittes an der Wand entlang.

Dieses Mal stand das Glück offenbar auf unserer Seite.

Ohne Zwischenfälle gelang es uns, bis zum Dienstboteneingang vorzudringen. Und – die Tür war sperrangelweit offen!

»Wer hätte das gedacht?«, raunte Vinzenz. »Bleib dicht hinter mir.«

Wieder nickte ich still und heftete mich an seine Fersen.

Wir kamen in einen Bereich des Anwesens, in dem das Risiko, entdeckt zu werden, deutlich stieg. Die Zimmermädchen, die Köchin, der Butler … die Brandfairs lebten wirklich nicht unbedingt einsam in ihrem riesigen Haus.

Wir schlüpften ins Gebäude und landeten unmittelbar in einem langen Flur mit kahlen Wänden. Nicht gerade einladend, auch wenn die düstere Atmosphäre irgendwie zum Gebäude passte.

Die einzige Lichtquelle bildeten zwei Kerzen an der Wand. Doch im Vergleich zu dem kühlen Schmuddelwetter draußen, war es hier drinnen wenigstens kuschelig warm.

Ich hörte Geräusche hinter einer angelehnten Tür. Lautes Klappern, gefolgt von einem Rascheln. Mist!

Vinzenz bugsierte mich schleunigst in die entgegengesetzte Richtung. »Das ist die Küche. Misses Fitzgerald ist am Werk. Ich kann den Lammeintopf schon riechen.«

»Du riechst einen Lammeintopf?«, fragte ich leise. Es kam mir vor, als würde der Geruch nach druckfrischem Buch in den Gemäuern des alten Hauses noch intensiver werden. Ansonsten merkte ich nichts.

Vinzenz betrachtete mich konfus. »Du etwa nicht?«

»Äh, ein Lammeintopf, der nach Buch riecht?«

»Nach Buch? Humbug, der strenge Geruch rührt von dem alten Hammel, den die gute Fitzi sich hat andrehen lassen. Das passiert ihr des Öfteren. Du musst wissen, ihre Sehkraft ist nicht mehr die beste«, zischte er und zwinkerte einmal.

Erstaunt glotzte ich ihn an. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Für Vinzenz roch hier alles normal!

»Oh, Master Vinzenz, guten Abend«, ließ uns eine Stimme zeitgleich zusammenfahren. Shit.

Hinter uns stand eine rundliche, ältere Frau in blauem Kleid, Schürze und Spitzenhaube. Das musste dann wohl die Köchin Misses Fitzgerald sein.

Ich lächelte sie angespannt an und hob die Hand. »Hi.«

Sie nickte mir nur freundlich zu, während sie sich mit einer dampfenden Schale an uns vorbeidrückte. »Verzeiht, ich muss das servieren. Dieses nichtsnutzige Dienstmädchen ist schon wieder krank. Braucht Ihr dann noch etwas, Master Vinzenz?«

Vinzenz winkte ab. »Nein, danke. Alles wunderbar.«

Sie nickte und verschwand hinter einer Tür.

»Scheiße, was jetzt?«, fragte ich.

»Wie meinen?«

»Sie hat mich gesehen!«

»Nicht weiter tragisch«, er schmunzelte. »Sie wird sich nichts dabei denken.«

»Ernsthaft?«

»Mh hm.«

Ich wollte lieber gar nicht wissen, wieso es für die Köchin normal war, dass Vinzenz sich mit einem Mädchen durchs Haus schlich.

Der düsterte Gang führte bis in ein Treppenhaus. Es war so dunkel, dass man die eigenen Füße nicht mehr vor Augen sah. Ich musste mich konzentrieren, um nicht über eine der vielen Stufen zu fallen, während sich meine Finger die Wand entlang nach oben tasteten. Hingegen Vinzenz kannte das Gebäude wie seine eigene Westentasche – und unbemerkt durch lange Gänge schleichen, zählt bekanntlich zu den Hauptbeschäftigungen eines fiesen Romanschurken.

Im dritten Stock blieb er stehen und wartete, bis ich auch oben angekommen war. Hier war es richtig gemütlich. Auf dem Boden lag ein mit Schnörkeln verzierter Läufer, die Wand wurde von Gemälden geschmückt (irgendwelche Jagdszenen) und Kerzen spendeten Licht.

»Wo müssen wir hin?«, flüsterte ich.

Vinzenz winkte mich flüchtig mit einer Hand hinter sich her und tigerte dicht an die Wand gepresst dem Ende des Flures entgegen. Wir erreichten eine Tür. Bevor er sie öffnete, legte er das Ohr an und lauschte. »Niemand da.«

Das wäre aber auch echt mies gewesen, wenn uns so knapp vor dem Ziel noch einmal jemand in die Quere gekommen wäre.

Behutsam drückte Vinzenz die goldene Klinke nieder, spähte in das Zimmer und drehte sich im Anschluss um. »Die Luft ist rein!« Ermutigend streckte er die Hand in meine Richtung. Ich griff zu und wir huschten gemeinsam in den Raum.

Unser Weg führte zu einem kleinen Schrank, in dem sich ein paar Schmuckschatullen befanden. »Wie ich sagte«, flüsterte Vinzenz. »Olivia Brandfair besitzt nahezu vierhundert Haarnadeln. Du nimmst drei. Das sollte genügen.«

»Wieso drei?«

»Für den Fall, dass eine beschädigt wird. Und jetzt sieh mir gut zu.« Er ging zur Zimmertür, versperrte sie und warf den Schlüssel weg. Dann steckte er die Haarnadel in das Schloss und ruckzuck hatte er es wieder aufgedreht. »Firlefanz.«

Ich biss mir auf die Lippe. Ob ich das wohl hinkriegen würde?

Vinzenz drückte mir die Haarnadeln in die Hand. Unsere Finger berührten sich. »Mal sehen, wie viel Zeit uns noch bleibt«, sagte er. »Um das klarzustellen: Danach möchte ich dich bitte nicht mehr wiedersehen.«

»Sei nicht so fies!«, beschwerte ich mich, musste aber schmunzeln.

»Weißt du noch, wie der Plan lautet?«

»Das Schloss knacken, Hannah finden und die Szene löschen«, wiederholte ich und hielt inne. »Vinz?«

»Hm?«

Ich rang mit meinen Worten. »Krötenstaub hat behauptet, es hätte noch einen anderen Weg gegeben, die Kette zu lösen … Ich hätte dich aus tiefsten Herzen bitten müssen zu bleiben. Wenn ich nur gewusst hätte …«

Meine Lippen begannen zu zittern. Mist. Ich wollte nicht heulen. Dafür war doch auch echt gar keine Zeit. »Weißt du, wenn Pa nicht wäre, würde ich sogar bei dir bleiben. Auch, wenn ich dafür das Zimmermädchen deiner stinkreichen, versnobten Adelsfamilie werden müsste. Doch das geht nicht, ich kann ihm das nicht antun … Würdest du wieder mit mir zurückkommen?«, presste ich mühselig hervor. Es gelang mir fast ganz ohne Tränen. Meine Augen wurden nur ein bisschen feucht.

»Ach, Miss Emma.« Vinzenz sah mich an. »Ich würde nichts lieber tun als das. Aber es ist zu spät.«

»Wieso?«, wollte ich es einfach nicht wahrhaben.

»Wie ich schon sagte, mich hat es nicht mehr zurück in deine Welt geschleudert. Ich gehe davon aus, dass mein Rücksprung abgeschlossen ist. Und ich wüsste nicht, wie wir daran etwas ändern könnten.«

»Wenn wir es könnten«, fragte ich heiser. »Würdest du denn dann mit mir gehen? Für immer?«

Es fühlte sich wie Minuten an, obwohl es bestimmt nur Sekunden waren, bis er antwortete: »Um bei dir zu sein, Miss Emma, würde ich mein ganzes Leben aufgeben.«

Wieder lag diese besondere Stille zwischen uns, die immer nur entstand, kurz bevor wir uns küssten. Dieses Mal aber war ich es, die auf ihn zutrat. Ich schlang meine Arme um seinen Hals. Unsere Lippen berührten sich. Einen Moment nur sanft wie ein Hauchen, dann immer stärker … – Wumm.