Zunächst jedoch entschied sich Ursul, etwas mehr über ihre eigene Vergangenheit zu erfahren, und das brachte sie auf die Frage, wo diese Margarete in diesem Haus eigentlich gewohnt hatte.
»Mit großer Wahrscheinlichkeit im Turmzimmer«, antwortete der Onkel.
»Im Turmzimmer? Wieso denn ausgerechnet im Turmzimmer? Ich dachte immer, da stehen nur die Sachen herum, die niemand im Haus haben wollte.«
»Nein, so war das nicht«, wehrte sich der Onkel. »Es gab von Anfang an eine testamentarische Verfügung, dass Unverheiratete aus unserer Familie in diesem Turmzimmer ein Wohnrecht hatten. Margarete war unverheiratet. Also könnte ich mir durchaus vorstellen, dass sie dort gewohnt hat. Und ich kann mir ebenso vorstellen, dass dieser Raum weitgehend so geblieben ist, weil es keine anderen unverheirateten Frauen in unserer Familie gegeben hat.«
»Und wo finde ich den Schlüssel für dieses Turmzimmer?«
»Den kann dir Johann geben, der kennt sich am besten aus.«
Als Ursul an diesem Nachmittag die steile Wendeltreppe zu dem Turmzimmer hinaufstieg, hatte sie das Gefühl, dass die Geschichte dieses Hauses darauf gewartet hatte, von ihr entdeckt zu werden: Die Kammern, an denen sie vorüberging, hatten Namen, die aus der Märchenwelt stammten, und sie fragte sich, wer einstmals in diesen Räumen gelebt hatte. Da gab es eine EISERNE HAND, ein MONSTER VOM KAHLEN BERG, dann DIE HEXE VOM SILBERBRUNNEN, die FRAU MIT DER GOLDENEN HAUBE, die WÄSCHESPHINX, den BODENFRATZ. An der letzten Tür der Wendeltreppe war lediglich ein großes Fragezeichen hingemalt und ein buntes Band mit der Aufschrift BIS ANS ENDE DER WELT. Es war das einzige Zimmer, aus dem ein seltsamer Geruch drang. Als sie die Tür geöffnet hatte, glaubte sie, sich in die Bibliothek verirrt zu haben: Die Wände des Raums waren bis zur niederen Stuckdecke mit Büchern vollgestellt. Die barocken Stuckelemente waren mit einer Farbe überzogen, die inzwischen abblätterte.
Ursul blieb zunächst an der Tür stehen und ließ den Raum auf sich wirken.
Sein Geruch war seltsam exotisch. Es war nicht auszumachen, woher er stammte. Vielleicht der Geruch eines seltenen Parfums oder eines fremden Gewürzes, das ihr noch nie begegnet war.
Der Kleiderschrank war leicht geöffnet. Als Ursul ihn behutsam eine Spur weiter öffnete, verstärkte sich der Geruch, der aus allen Kleidern drang, ebenso aus den Mützen, den Schals und den Handschuhen.
Ursul wusste nicht genau, wie alt dieses Haus war. Damals, als sie nach dem Tod der Eltern aus ihrem Dorf als Mündel zu ihrem Onkel gekommen war, musste es schon mehr als hundert Jahre alt gewesen sein. Wer alles in der Zwischenzeit hier gewohnt hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Sie hatte seitdem in dem Teil des Hauses gewohnt, der der Straßenseite zulag, direkt neben dem prächtigen steinernen Chörlein, das immer ein Zankapfel zwischen ihrem Urgroßvater und ihrer Urgrossmutter gewesen war.
Dann stieß sie aus Versehen an einen Stoß von Büchern, die auf der Nachtkonsole gestapelt waren, und plötzlich sprangen sie einige dieser Titel nahezu an: DIE KÖNIGIN VON SABA und HERODOT: REISEN IN KLEINASIEN UND ÄGYPTEN – ein Buch, in dem die Gewinnung von Weihrauch, Myrrhe, Kasinuslorbeer, Zimt und Baumharz beschrieben wurde. Über die Weihrauchgewinnung stand fernerhin da, dass man Styraxharz anzünden müsse, weil das starken Rauch entwickle. Und dieser Rauch vertreibe dann die bunt geflügelten kleinen Schlangen, die in großen Mengen bei den Weihrauchbäumen leben, um sie zu bewachen und vor fremden Händen zu schützen.
Dann gab es ein dickes Buch über den König Salomo. Ob er überhaupt gelebt habe oder lediglich das Produkt einer blühenden Phantasie gewesen war. Und die Reise dieser Königin von Saba zu diesem König Salomo erfunden, ihre Geschenke, die sie mitbrachte, ebenso erfunden.
Die Regale über dem Bett wiederum waren voll mit Büchern über die Heilwirkungen des Weihrauchs, wo er eingesetzt werden konnte, Rauch, Salbe und Öl in den verschiedensten Verwendungsformen wurden aufgeführt, gelobt oder verworfen.
Ein anderes Regal mit Büchern war der Astrologie gewidmet, nahezu alle waren mit beschriebenen Zetteln vollgestopft. Aber Ursul nahm an, dass sie von Margarete stammten und dass sie diese Reise in das Weihrauchland gründlichst vorbereitet hatte. Das zeigte vor allem ein Notizbuch, in dem Merkzettel steckten: Wasserschläuche überprüfen, an Flickzeug denken; Riechfläschchen; Verbandszeug; vorher Gespräch mit Dr. Hanemacher über Gifte und ihre Wirkung und Gegenmaßnahmen; drei Paar Schuhe!; ein einziges Frauenkleid für bestimmte Zwecke. Gitarre?; Schreibzeug; NOTIZEN ÜBER TRÄUME nicht vergessen!
Mit diesem mehr als seltsamen Wunsch endeten die Notizen.
Diese Vorfahrin hatte also einen Traum gehabt, wohl über Jahre hinweg. Und dann hatte sie eines Tages versucht, diesen Traum zu leben.
Ursul fragte sich, ob sie je mit etwas Ähnlichem würde aufwarten können – einem Traum. Die Träume hatten bisher andere für sie gehabt. Der Vater den Traum mit dem Harnischmacher, da ihm der Sohn verwehrt geblieben war. Also war sie in diesen Beruf hineingerutscht. Nicht, dass sie ihn nicht gemocht hatte, sie war sogar stolz auf ihn. Und sie konnte ihn genauso gut ausüben wie ein Mann: ihre Harnische waren keinesfalls schlechter als die der übrigen Gesellen, an manchen Stellen sogar eindeutig exakter.
Der nächste Beruf, der der Keuflin, hatte mit Träumen recht wenig zu tun gehabt: Bei irgendeiner Gelegenheit hatte jemand gefehlt, der ein Testament zu überprüfen hatte. Der Onkel, der sich darin ein wenig auskannte, hatte sie dazu gerufen, sie hatte ihm über die Schulter geschaut. So war sie auch hier hineingerutscht.
Jetzt, an diesem Nachmittag, an dem sie nach Träumen suchte, die möglicherweise einmal die ihren sein konnten oder werden konnten, hatte sie das Gefühl, dass es ihr vielleicht helfen würde, sich auf eine direkte Suche nach solchen Träumen zu begeben. Träume, die für Frauen möglich waren. Und so entschloss sie sich, über den Hauptmarkt zu schlendern und sich dort umzuschauen, womit Frauen in Nürnberg ihr Geld verdienten.
Vor der Stadtkirche und den Klosterkirchen hatten jeweils Kerzenmacherinnen ihren Stand, an dem sie Votivkerzen verkaufen konnten. Oder auch Wachs, wenn sie selber keine Kerzen herstellten.
Dass es Geldwechslerinnen gab, Wirtinnen, Gewandschneiderinnen, wusste sie, sie musste sie nicht unbedingt hier auf dem Markt finden. Dagegen gab es Geschmeidemacherinnen, die Korallen, Borten und Ringe anboten.
Und dann fand sie natürlich ihren eigenen Beruf am Säumarkt. Frauen, die alte Kleider verkauften. Stände, an denen sie so gut wie keine Zeit verbrachte, da sie kaum die Absicht hatten, hier auf Träume zu hoffen, die sich erfüllen ließen. Dass die Arbeit der Wildnerinnen keinesfalls zu denen gehörte, die sie gerne ausgeübt hätte, hatte sie auch vorher bereits gewusst: das Schlachten lebend eingekaufter Tiere weckte kaum Wunschträume. Am meisten gefielen ihr die Goldschmiedearbeiten, die Frauen anboten.
Woher diese Margarete ihre Träume einst gefunden hatte, blieb ihr weiterhin verborgen, und so kehrte sie mehr als enttäuscht in ihr Haus zurück.
»Nun, war es ergiebig, das Turmzimmer?«, wollte der Onkel am Abend wissen.
Ursul lächelte spärlich. »Es ist ein Weihrauchzimmer. Es besteht nur aus Büchern, die sich damit beschäftigen und die bis in das letzte Detail alles berichten, was es in diesem Weihrauchland zu erfahren gibt.«
»Dann bin ich ja gespannt, was uns dieses Tagebuch erzählen wird.«
Ursul nickte. »Ich werde heute Abend damit beginnen«, sagte sie dann zögernd.
Dass sie fast den ganzen Vormittag in der Stadt damit verbracht hatte, Träumen nachzuspüren, von denen vielleicht auch eines Tages einer davon der ihre werden könnte, verschwieg sie.