Zwei Tage später kam der Onkel mit einem Zettel in der Hand in das Kontor. »Du sollst bei der Familie Perchtinger die Habe der Witwe schätzen und dich mit dem Testament beschäftigen. Übermorgen. Hast du Zeit?«
Ursul schob die Blätter, die auf ihrem Tisch lagen, behutsam zusammen und legte sie an den Rand des Tisches. Dann schüttelte sie zögernd den Kopf und seufzte.
Der Onkel schaute sie wartend an. »Was ist? Hast du keine Zeit übermorgen?«
»Dies hier ist …«, erwiderte Ursul langsam und deutete auf die vor ihr liegenden Blätter. »Ich weiß nicht, ob ich in diesem Beruf, den ich bisher ausübte, noch bleiben möchte.«
Der Onkel beugte sich zu seiner Nichte hinüber, lächelte dann. »Also, die Nachthütte in den Kürbisgärten bewegt dich. Aber ich verstehe nicht, weshalb du deswegen keine Keuflin mehr sein möchtest.«
Ursul stand auf, ging zu der Wand mit den Bildern ihrer Vorfahren. »Ich habe es heute Nacht gelesen, heute Morgen noch einmal. Und da wurde mir endgültig klar, dass ich den falschen Beruf habe.«
»Das musst du mir schon näher erzählen«, forderte der Onkel und rutschte von der Tischecke, auf die er sich niedergelassen hatte, auf einen Stuhl. »Ich werde es natürlich auch lesen, aber im Augenblick habe ich gewiss keine Muße dazu. Was bringt dich so durcheinander?«
»Nun, zum einen weiß ich natürlich jetzt, weshalb bei unserer Vorfahrin Margarete kein Todesdatum steht. Ich hingegen kenne es jetzt. Zumindest nach dem jüdischen Kalender, aber das lässt sich herausbringen, wann das uns betrifft.«
Ursul machte eine Pause, starrte über den Onkel hinweg. »Sie kamen beide im Sandsturm um. Diese andere Frau auch.«
»Und wo?«
»Auf dieser Weihrauchstraße. Genau gesagt, Margarete kam unter einem Weihrauchbaum um, von dem sie nahezu besessen war. Ein Baum, der ihr jedoch keinesfalls gehörte. Die andere Frau ist im Zelt gestorben.«
»Und wer hat sie gefunden?«
»Vermutlich der Karawanenführer oder sein Sohn. Ich denke, dass diese Aufzeichnungen über ihn oder seinen Sohn an irgendwelche jüdischen Kaufleute verkauft wurden, die sie auf dem Kamelmarkt kurz zuvor kennengelernt hatten. Immerhin gab es diese jüdischen Kalenderangaben. Und die Levis sind mit dem Levantehandel beschäftigt. Weshalb sollte es nicht über diesem Weg zu ihnen gekommen sein? Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Auch dieses sogenannte ›Pestkind‹ – wegen dem Bianca Venedig verlassen musste – könnte eine Spur gewesen sein. Dieser Moise ist im Ghetto aufgewachsen und war dann später jemand, der in der Universita eine Stimme hatte, als jener falsche Messias auftauchte.«
Der Onkel lachte. »Und dieses seltsame Geschöpf, das sich den Juden andienen wollte, macht ›Kneidl‹ mit völlig ungeeigneten Zutaten und zu völlig ungeeigneter Zeit, wie du angedeutet hast.«
»Nun, es hat ja wohl nicht funktioniert, dieses Andienen, deshalb hat man sie ja in die Wüste geschickt.«
Eine Weile war Stille. Der Onkel griff nach den Blättern, stutzte, als ihm Sand entgegenrieselte, und legte sie wieder zurück. »Eine seltsame Geschichte«, sagte er dann und pustete den Sand von seinem Rock.
»Ich weiß nicht, ob man es wirklich ›seltsam‹ nennen kann«, wandte Ursul ein. »Es ist wohl eher die Geschichte einer großen Besessenheit.«
»Wie hat man es überhaupt erfahren, das Ende dieser Geschichte?«
»Nun, am Ende der Aufzeichnungen gibt es einen kurzen Absatz in Arabisch, den irgendwer ins Italienische übersetzt hat. Auch die Überschrift mit den Kürbisgärten stammt vermutlich von jemand anderem. Fest steht, dass die beiden Frauen zum Zeitpunkt des Sandsturms nicht beieinander waren: Bianca befand sich im Zelt, Margarete unter ihrem Weihrauchbaum. Sie hatte wenigstens einen Wasserschlauch bei sich, aber der nützte ihr wohl kaum etwas mehr bei diesem Sturm. Alle übrige Habe hat vermutlich der Sand verschluckt.«
Der Onkel runzelte die Stirn und wischte nochmals den Sand von seiner Hose. »Und was soll dein Berufswechsel in diesem Zusammenhang?«
»Dieser bisherige Beruf ist ein nüchterner Beruf«, sagte Ursul zögernd. »Ich stehe an einem Kontortisch und warte, dass etwas geschieht. Manchmal geschieht auch tagelang nichts. Es stirbt niemand. Es gibt keine Testamente zu klären. Ich langweile mich, wenn ich keine Arbeit habe.«
»Das stimmt ja so wohl nicht ganz«, widersprach der Onkel. »Du kommst mit Menschen zusammen, musst sie beraten –«
»Das stimmt schon, aber ich möchte etwas fortführen, was diese Margarete begonnen hat und nicht zu Ende bringen konnte. Verstehst du das?«
»Nun, ich hoffe nicht, dass du ebenfalls mit einer Karawane nach Südarabien ziehen und unter einem Weihrauchbaum im Sandsturm enden willst«, sagte der Onkel stirnrunzelnd.
Ursul lachte. »Nein, natürlich nicht. Aber ich habe mich gefragt, weshalb Margarete eigentlich so dringend dorthin wollte. Es genügte ihr doch ganz offensichtlich nicht, in Venedig Parfum zu machen, sie wollte mit diesem Weihrauch arbeiten, ihn verbrennen, verkaufen, vielleicht auch zu Parfum verarbeiten. Irgendwie fühle ich mich«, Ursul schaute an dem Onkel vorbei, trommelte dann mit den Fingern auf den Tisch. »Ich fühle mich irgendwie verantwortlich, etwas zu Ende zu bringen für diese Familie. Genau so, wie ich gerne das Grab dieser Lea Coen finden würde. Ich mag diese abgebrochenen Spuren nicht.«
Der Onkel stand auf, strich der Nichte übers Haar. »Du weißt, dass du zu jeder Zeit mit mir zusammenarbeiten kannst, ganz gleich auf welchem Gebiet. Schließlich wurde dieses Geschäft einst von einem Safranhändler gegründet, was ja nicht ganz so weit wegliegt vom Weihrauch – ein Gewürz ist es allemal.«
»Natürlich ist ein Gewürz«, bestätigte Ursul lächelnd, »und selbstverständlich gibt es eine ganze Menge ähnlicher Gewürze, die dazugehören. Aber weißt du –«, sie unterbrach sich und stand auf. »Ich war gestern Morgen auf dem Hauptmarkt.«
»Um nach einem Safranschauer zu suchen?«
»Nein, nicht nach einem Safranschauer. Ich wollte wissen, welche Berufe die Frauen in Nürnberg ausüben.«
Der Onkel schob einen Stuhl zur Seite, um sich zu setzen, musste aber zunächst ein großes, schweres Buch zur Seite legen. »Das kann lang dauern, bis du mir alle Frauenberufe in Nürnberg aufgezählt hast«, meinte er dann, »stimmt es?«
Ursul lachte. »Ja, das stimmt, aber ich will dir gewiss nicht alle Berufe aufzählen, die ich entdeckt habe. Aber es war doch Verschiedenes, was mich gereizt hätte.«
»Doch nicht etwa wieder den Beruf des Harnischmachers?«, wehrte der Onkel ab.
»Den fand ich gar nicht auf dem Hauptmarkt. Aber meinen Beruf fand ich.«
»Den der Testamenteprüfer, den der Keuflin?«
»Na ja, den der anderen Art der Keuflin. Nicht den der Nachlassinventare. Den Beruf, bei dem die Frau die ›fahrende Habe‹ der Verstorbenen verkaufen muss.«
»Was du ja nie getan hast«, stellte der Onkel rasch fest, der die Diskussion über diesen Zweig der Keuflin bereits zu oft geführt hatte. »Die Habe von Verstorbenen verkauft.«
»Nein, das nicht. Aber, ach, ich kann das schlecht beschreiben. Es war auf jeden Fall so, dass ich das Gefühl hatte, ich sollte noch mal etwas anderes anfangen. Vielleicht in einem Skriptorium arbeiten. Also irgendetwas, was mit Büchern zu tun hätte.«
»Dazu müsstest du in einem Kloster sein, und ich kann mir kaum vorstellen, dass du dich dafür entscheiden würdest. Dazu habe ich bei dir bisher nie eine Neigung entdeckt. Oder täusche ich mich da?«
Ursul stand auf. »Das stimmt schon. Aber trotzdem bleibt dieser Wunsch bestehen, etwas anderes zu machen. Diese Margarete hatte einen Traum, das wurde mir in aller Deutlichkeit klar, als ich in diesem Turmzimmer war. Mit diesem Traum muss sie gelebt haben, jahrelang. Das Mädchen in Venedig war lediglich der Auslöser für die Verwirklichung dieses Traums, aber er muss lang vorher existiert haben. Und es war natürlich keinesfalls so, dass sie die Vorbereitungen für diese Reise allein Bianca überlassen hatte.«
Der Onkel stand auf und wandte sich zur Tür. »Das mag ja alles sein. Trotzdem hoffe ich, dass bei dir nicht der Wunsch daraus wird, eines Tages als Zauberin über die Lande zu ziehen oder Liebestränke zu machen. Damit kann man schließlich auch sein Geld verdienen.«
Sie lachten beide, wobei Ursul das Gefühl hatte, als sei dieses Gespräch noch lange nicht zu Ende geführt.
Die Möglichkeit, etwas mit Büchern zu tun zu haben, ergab sich rascher als Ursul es sich hätte vorstellen können: Das große schwere Buch, das ihren Onkel ein paar Tage zuvor auf dem Stuhl gestört hatte, gab den Anlass dazu.
»Ich hatte bereits abgelehnt«, sagte der Onkel verärgert zu dem Mann, der im Kontor vor ihm stand und das übergroße Buch ungefragt auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Ursul hatte inzwischen ein kleineres Buch in die Hand genommen, das der Mann nun noch dazulegte.
»Abgelehnt schon«, gab er zu, aber er sei der Meinung gewesen, dass das Buch gar nicht gelesen worden sei. Und dass daher dieses Urteil gefällt wurde.
»Gelesen?« Der Onkel lachte laut. »Meint Ihr, ich hätte eine Woche oder zwei Wochen oder gar drei nichts anderes zu tun, als dieses Buch zu lesen?«
»Ich würde es gerne lesen«, warf Ursul dazwischen und sah den Mann dabei an.
»Nun, da seht Ihr ja, Eure Tochter würde es gerne lesen.«
»Sie ist nicht meine Tochter, sie ist meine Nichte«, stellte der Onkel richtig. »Und ich weiß nicht, wie gut sie Lateinisch liest«, wiegelte er dann ab.
Der Mann nahm ein drittes Buch aus seinem Korb und blätterte es auf. »Es gibt schließlich auch eine deutsche Ausgabe«, sagte er dann. »Und hier«, er deutete auf das kleinere Buch, »die Ausgabe von Augsburg.«
»Das wundert mich, dass Ihr beide verkaufen wollt. Ich hörte, dass Koberger, unser Drucker hier in Nürnberg, verärgert ist, weil er der Meinung ist, dass der Augsburger Drucker, dieser Schönsperger, daran Schuld hat, dass die Nürnberger Ausgabe nicht so gut verkauft wurde, wie er sich das vorstellte. Es sei ein Raubdruck.«
»Das ist keinesfalls bewiesen«, behauptete der Mann. »Schönsperger hat es zwar nachgedruckt, nicht nur einmal, sondern mehrere Male, das stimmt. Aber überhaupt lagen da drei Jahre dazwischen.« Und es sei kein Raubdruck, sondern ein Nachdruck.
»Nun, ja, Nachdruck, wie man’s nimmt. Aber die Holzschnitte von Schönsperger sind ja wohl auch schlechter. Aber bevor wir jetzt ins Detail gehen«, sagte der Onkel entschieden: »Ich habe abgelehnt. Und dabei bleibt es. Ich verkaufe Gewürze, Pfeffer, Safran und andere Sachen. Waffen vor allem. Und mein Lagerraum ist begrenzt, jetzt, nachdem den Deutschen in Venedig der fondaco entzogen wurde, im Besonderen. Und hier bei uns im Lande gibt es genug Buchführer, die das Buch verkaufen können. Also, nehmt sie mit, Eure Bücher. Ich habe nicht so viel Zeit.«
Der Mann blieb unschlüssig stehen, schaute prüfend zu Ursul hinüber. »Vielleicht könnte sie ja die Jungfer verkaufen, wenn sie sich dafür interessiert und außerdem Geschäfte machen darf. Wo auf der ganzen Welt gibt es schon so etwas – ein Buch der Chroniken?
»Sie ist mein Mündel, oder zumindest war sie es.«
»Wenn sie eine Witwe ist, darf sie sehr wohl Geschäfte machen«, sagte der Mann entschieden. »Ich meine selbstständige Geschäfte.«
»Sie ist keine Witwe«, erwiderte der Onkel mit erhobener Stimme, »zunächst muss sie erst einmal heiraten, bevor sie eine Witwe werden kann!«
»Entschuldigt, entschuldigt, ich dachte nur, dass sie vielleicht doch, natürlich unter Eurem Schutz, sich darum kümmern könnte. Da Ihr doch Verbindungen nach Italien habt und das Buch dort schon jetzt sehr gut verkauft wird. 200 Exemplare sind nach Mailand gegangen, 70 lateinische nach Florenz, nach Bologna weiß ich nicht wie viele, aber 40 nach Wien, nach Paris, Prag, München, Danzig, Frankfurt, nach …«
»Unter meinem Schutz?«, unterbrach der Onkel und runzelte die Stirn. »Wie stellt Ihr Euch das denn vor? Sie packt Euer ›Buch der Chroniken‹ auf einen Stapel neben meine Pfeffersäcke?«
»Ich könnte doch bei den Levis fragen«, schlug Ursul eifrig vor, »da gibt es doch diese leere Wohnung im Ghetto, und ich könnte …«
»Nein, du könntest nicht«, sagte der Onkel entschieden. »Du könntest ganz gewiss nicht. Und ich auch nicht.«
Ob er die Bücher noch über Nacht hierlassen dürfe, fragte der Mann höflich. Er habe im Augenblick keinen Rollkarren zur Verfügung und unter dem Arm … nun, da seien sie einfach zu sperrig.
»Natürlich sind sie das«, spottete der Onkel, »man hebt sich ja einen Bruch an diesem Folioband aus Nürnberg.«
So kam es, dass das »Buch der Chroniken« einen Tag lang im Kontor des Onkels blieb, dass Ursul einen ganzen Nachmittag mit diesem Buch verschwendete – wie der Onkel behauptete – und dass es am Abend dann ein langes Gespräch darüber gab, was von diesem Vorschlag des Kommissionärs zu verwirklichen war. Denn dieses Buch verkaufen, das war etwas, was Ursul wirklich gerne machen würde.
»Hast du dich wenigstens schon ein bisschen eingelesen?«, fragte der Onkel am Abend mit einem spärlichen Lächeln. »Ich verkaufe auch keinen Pfeffer, den ich nicht vorher geprüft habe. Und dass die Venezianer Safran verkauften, der gefälscht war, hängen sie uns hierzulande immer noch an.«
Das könne man ja wohl kaum vergleichen, empörte sich Ursul. Und sie habe sich ganz gewiss eingelesen. Das heißt, sie werde es tun. Es sei klar, dass man dazu Zeit brauche. Es sei schließlich ein dickes Buch.
Der Onkel seufzte. »Ja, das ist es wohl, ein dickes Buch. Und ich frage mich natürlich, was sein wird, wenn wir es nicht verkaufen können.«
Ursul lächelte den Onkel amüsiert an. »Wir?«
Der Onkel lächelte zurück. »Du«, erwiderte er dann. »Selbstverständlich du.«