Kapitel 1
Tod des weißen Maulbeerbaums

Ursul hatte den Baum nie gesehen, nur von ihm gehört.

Als sie von Nürnberg zurückkamen, hatten sie von ihm erfahren, aber ihr Interesse war nicht so groß gewesen, dass sie sich bemüßigt fühlte, sich an den Ort des Geschehens zu begeben: Auf die Piazza von San Marco. Um einen sogenannten Freiheitsbaum zu betrachten, um den das Volk herumgetanzt war.

An diesem Morgen, als sie in die Kirche gehen wollte, sah sie ihn. Das heißt, sie sah das, was von ihm übrig geblieben war. Und was der Wind ihr soeben ins Gesicht blies: einen Haufen vertrockneter Blätter.

Sie blieb stehen, schaute für einen Augenblick den beiden Straßenkehrern zu, die mit einem Karren gerade dabei waren, die Reste des Baumes zu beseitigen. Der eine von ihnen, der Jüngere, hob soeben einen abgerissenen Zweig in die Höhe und betrachtete ihn.

Ursul ging näher, fragte dann, was das für ein Baum sei.

»Ein Maulbeerbaum«, antwortete er und streckte ihr den Zweig entgegen. »Wollt Ihr ihn haben?«

»Ein weißer Maulbeerbaum«, korrigierte der Ältere der beiden mit entrüsteter Stimme, als habe sein Helfer soeben das Blaue vom Himmel gelogen.

»Also, ein weißer Maulbeerbaum«, spottete der Jüngere mit einem Kratzfuß. »Mitnichten ein gelber oder ein grüner. Nein, ein weißer, Signorina.«

»Es gibt nur noch schwarze Maulbeerbäume«, korrigierte der Ältere ein zweites Mal, diesmal sichtlich verärgert. »Keine gelben und auch keine grünen.«

»Und worin liegt der Unterschied?«, wollte Ursul wissen.

»Die Blätter des weißen werden an Seidenraupen verfüttert«, erklärte er bereitwillig.

»Sicher auch die Blätter des schwarzen, er weiß es nur nicht«, spottete der Jüngere wieder und wich geschickt einer Ohrfeige aus.

»Mach weiter, wir werden bald abgeholt, dann muss alles sauber sein«, drängte der Ältere. »Es ist ja alles vorüber.«

Der Jüngere zuckte mit den Schultern. »Hat ja auch lang genug hier gestanden. Hätte viel früher sein können«, schob er dann mit einer Spur von Trotz nach.

»Hüte deine Zunge«, warnte der Ältere.

»Weshalb?«, fragte der Jüngere aufsässig, »ich denke, nun ist alles vorbei, oder? Freiheit, Brüderlichkeit, ich denke, das gilt nun auch für unsere Stadt?«

Der Ältere schob einen Blätterhaufen auf seine Schaufel und warf sie dann auf den Karren, ohne etwas zu sagen.

»Woher weißt du das überhaupt, die Sache mit den Blättern und den Seidenraupen?«

»Von meinem Sohn. Er will eines Tages Seidenwirker werden und hat daher schon öfter auf Seidenraupenplantagen gearbeitet.«

»Seidenraupenplantagen«, spottete der Jüngere, »als ob es hier bei uns so etwas gäbe.« Er machte wieder einen Kratzfuß- und versuchte Ursul mit einem Schwung mit sich im Kreis herumzudrehen, aber sie entzog sich ihm.

»Gehört Ihr etwa zu den Hebrei?«, fragte er dann misstrauisch. »Und habt um Euren eigenen Baum getanzt? Der war aber gewiss kein weißer Maulbeerbaum.«

»Wer hat eigentlich hier auf San Marco um diesen Freiheitsbaum herumgetanzt?«, wollte Ursul wissen, ohne auf die Frage zu antworten. »Doch nicht die Venezianer, oder?«

»Franzosen natürlich«, sagte der Junge und warf mit der Hand ein paar Blätter auf den Karren, »jede Menge Franzosen. Was weiß ich wie viele, zehntausend, zwanzigtausend, dreißigtausend. Der ganze Platz war voll davon.«

»Es waren viertausend, die einquartiert waren. Aber auf jeden Fall waren auch welche von unseren Leuten dabei.«

»Von unseren? Venezianer? Wer denn?«, fragte der Junge und stützte sich dabei gemütlich auf seinen Besen, so als sei alle Arbeit bereits getan.

Der Alte schaute sich um, hielt für einen Augenblick inne. »Hast du vergessen, wie das einst war mit den ›Neri‹?«, flüsterte er dann und betrachtete Ursul mit Misstrauen.

»Wo kommt Ihr eigentlich her«, wollte der Jüngere plötzlich wissen und schaute ebenfalls prüfend auf Ursul. »Ihr sprecht zwar unsere Sprache, aber von hier seid Ihr nicht!«

Ursul erklärte es ihm, wollte dann gehen, weil sie das Gefühl hatte, dass diese beiden Männer sich in Kürze wieder in den Haaren liegen würden

»Nein, nein, geht nicht«, hielt sie der Jüngere zurück, drehte mit einer raschen Bewegung seinen Rock auf die Innenseite, die rot war und warf ihn sich dann um die Schulter, sodass er wie ein Cape wirkte.

»Er möchte irgendwann zur Commedia dell’Arte«, spottete der Ältere, aber diesmal gutmütig, »und er ist nicht mal schlecht dabei.« Er nahm seinen Besen und stützte sich ebenfalls darauf. »Nun, Ihr könnt es ja nicht wissen, wenn Ihr nicht von hier seid«, erklärte er dann bereitwillig, »aber sie sind abgesetzt, die inquisitori dello stato. Es gab drei. Zwei davon kamen aus dem Rat der Zehn und hießen neri, weil sie schwarze Talare trugen, einer kam aus dem Kleinen Rat, ein rosso, weil er eine rote Robe trug.«

»Die Wächter des Staates«, unterbrach ihn der Junge zornig, »sie waren die Herrscher über die berüchtigten Bleikammern, aus denen einst Casanova entflohen ist, sie hatten einen ganzen Stab von Spitzeln aufgebaut, führten ihre Vernehmungen im Dunkeln durch, die Prozesse waren geheim. Gegen ihre Urteile gab es keinen Widerspruch. Was es an Urteilen gab, wisst Ihr bestimmt: von den Blendungen bis zum Canale Orfano.«

»Napoleon hat sie abgeschafft«, stellte der Ältere mit Genugtuung fest, »und deswegen haben ganz gewiss nicht nur Franzosen um diesen Freiheitsbaum getanzt, sondern auch Venezianer. Und wir können nur hoffen, dass es so etwas nie wieder geben wird.«

»Dort hinten kommt Antonio«, unterbrach der Jüngere und begann plötzlich seinen Besen mit einer Geschwindigkeit und einer Inbrunst über den Platz zu führen, als sei er noch nie geputzt worden. »Wir werden abgeholt. Jetzt reicht die Zeit nicht einmal mehr, um Feuerholz aus ihm zu machen. Ich hätte es gut gebrauchen können.«

Ursul schaute in die Richtung, die die beiden Männer mit einer Kopfwendung angezeigt hatten, dann ging sie zu der Kirche hinüber.

Und sie war sicher, dass sich nun niemand mehr Gedanken machen würde, ob der Maulbeerbaum ein weißer oder ein schwarzer Maulbeerbaum gewesen war, der hier auf San Marco gestanden hatte.

Als Freiheitsbaum.

Ein Baum, der nun nicht einmal mehr von armen Leuten als Feuerholz mitgenommen werden konnte, weil die Straßenkehrer sich lieber mit der Commedia dell’Arte beschäftigt hatten. Und den Gewändern der neri und des rosso.