Kapitel 2
Die Zahlen des Dogen Mocenigo

Sie hatten von Signor Zurzo nichts mehr gehört, seit sie von Nürnberg zurückgekommen waren. Da der Onkel inzwischen eine neue Ladung an Gewürzen bekommen hatte, hatte er den Wunsch festzustellen, ob dieser Signor Zurzo inzwischen wieder an seiner Ware interessiert war. Oder ob nach wie vor der Hass auf die Verräter der Republik brodelte, die einen Handel unmöglich machten.

Da Ursul den Wunsch geäußert hatte, auch diesmal mitzukommen, waren sie an einem Nachmittag wieder durch die engen Gassen zu dem Haus des Fischhändlers gegangen, bei dem sie bei ihrem letzten Besuch Signor Zurzo angetroffen hatten. Aber diesmal war sowohl die vordere wie die hintere Haustüre verschlossen, sodass sie ratlos vor dem Haus stehen blieben. Ein kleiner Junge spielte mit seinem Ball, kickte ihn in ihre Richtung und bückte sich dann, um ihn aufzuheben. »In der nächsten Calle, im Hause des Buchhändlers«, flüsterte er dann. »Durch die Hintertüre. Aber beeilt euch.«

Der Onkel schaute dem Jungen, der sofort wieder verschwand, verblüfft nach, dann befolgten sie seinen Rat und gingen in die nächste Calle. Der Laden war zwar geöffnet, aber er war ganz gewiss kein Buchgeschäft mehr, sonderen ein Papierladen, der marmoriertes Papier herstellte, wie man es überall in Venedig finden konnte.

Die Frau, die hinter der Theke hervorkam, betrachtete die Besucher prüfend, winkte dann unauffällig mit dem Kopf nach hinten. »Ihr wollt gewiss zu Signor Vivarini?«, fragte sie leise.

Der Onkel schüttelte irritiert den Kopf. »Nein, eigentlich wollten wir zu Signor Zurzo«, sagte er irritiert.

Die Frau schenkte ihnen ein verschwörerisches Lächeln. »Ich bin ganz sicher, dass Ihr zu Signor Vivarini wollt«, flüsterte sie. »Im zweiten Stock, links die erste Tür. Wartet in der Werkstatt, Ihr braucht nicht zu klopfen.«

»Vivarini«, murmelte der Onkel vor sich hin, »kennst du einen Signor Vivarini?«

Bevor Ursul kundtun konnte, dass auch sie keinen Signor Vivarini kannte, waren sie an der Tür angekommen und traten ohne zu klopfen ein.

Beim ersten Anblick hatten sie allerdings das Gefühl, dass sie im falschen Raum sein mussten: An dünnen Schnüren hingen marmorierte Papiere zum Trocknen und nahmen fast die Hälfte des Raumes ein, sodass sie sich nur behutsam zu zwei Stühlen hindurchschlängeln konnten. Auf dem Boden lag ein Packen mit Kleidern, die nach Teer rochen. Der übrige Raum roch nach den Farben, mit denen die Papiere hergestellt wurden.

Sie hatten sich soeben hingesetzt, als ein halb nackter Mann, der ein Tuch um die Hüften geschlungen hatte, leicht hinkend in das Zimmer kam und seine Besucher verblüfft betrachtete. »Signor Helmbrecht«, sagte er dann verwundert, »Euch hätte ich ganz gewiss nicht erwartet.« Er machte eine Pause, lächelte dann verkniffen. »Weil wir nämlich ganz gewiss nichts mehr miteinander zu tun haben. Ich interessiere mich inzwischen nicht mehr für Pfeffer noch für Safran.«

Er nahm ein zweites Tuch vom Haken und begann sich die Haare zu trocknen. »Wenn mein Anblick die Signorina stört, kann sie auf den Flur hinausgehen.«

»Wir wollten Euch nicht aufhalten«, sagte der Onkel höflich, »Signor Vivarini, falls Ihr nun so heißt.«

Der Mann lachte. »Ja, so heiße ich. Und ich habe nichts mehr mit Gewürzen zu tun, sondern« – er deutete auf den Kleiderpacken, »sondern, wie Ihr wohl riecht, mit Teer. Mit dem Kalfatern von Schiffen. Und mein derzeitiger Arbeitsort ist das Arsenal.«

Ursul hatte sich zunächst bemüht, den nackten Körper des Mannes nicht anzustarren, aber dann konnte sie doch nicht anders. Sein gesamter Oberkörper war mit blutunterlaufenen Stellen bedeckt.

»Kein Anblick für die Augen von unschuldigen jungen Damen«, sagte der Mann zynisch. »Tut mir leid, dass ich nichts Besseres zu bieten habe. Aber in unserer Stadt gibt es keine Verhöre ohne Folter. Ich nehme an, dass das bekannt ist, wenn es vielleicht auch nicht gerade bis Nürnberg durchgedrungen ist.«

Der Onkel starrte ihn verblüfft an, nachdem auch er die kaum verheilten Wunden an seinem Gegenüber festgestellt hatte.

»Ihr sitzt auf meinem Hemd«, sagte der Mann spöttisch, als niemand antwortete, »kann ich es bekommen?«

Ursul bückte sich hastig und hob das Hemd vom Boden auf. »Entschuldigt«, murmelte sie dann.

»Ich muss Euch dann also jetzt wohl mit Signor Vivarani anreden«, sagte der Onkel hilflos, »falls Euch der Name Zurzo nicht mehr gefällt.«

»Ihr müsst mich mit gar nichts anreden«, erwiderte der Mann mit einem boshaften Lächeln. »Und wenn, dann mit VIVARINI, mit i, nicht mit a. Wenigstens soll mein zweiter Name richtig sein, wenn ich schon den ersten verlassen musste. Und im Übrigen wohne ich auch nicht hier, dies ist nur unser Treffpunkt. Der Treffpunkt der Jakobiner übrigens.«

Er lachte laut, als er das verblüffte Gesicht des Onkels sah. »Ja, denkt nur daran, dass Ihr so schnell wie möglich dieses Haus wieder verlasst. Und selbstverständlich mit einem ziemlichen Packen marmorierten Papiers, damit Ihr eine gute Ausrede habt, wenn Euch jemand hier durch die Tür kommen sieht.« Er stopfte das Hemd in seine Pantalons, die er von der Schnur genommen hatte, nahm dann ein paar der Blätter ebenfalls herunter und legte sie sorgfältig übereinander. »Damit wir unsere Helfer nicht in doppelte Gefahr bringen, wenn sie uns schon diesen Ort zur Verfügung stellen. Für unsere ›Machenschaften‹, wie man es wohl nennen würde. Und damit es nicht noch mehr blaue Flecken zu beklagen gibt. Oder gar noch Schlimmeres.«

Ursul hatte das Gefühl, dass es Zeit sei zu gehen, nachdem Signor Vivarini ja eindeutig nicht mehr an den Geschäften mit ihrem Onkel interessiert war. Sie versuchte ihrem Onkel ein Zeichen zu geben, aber ihr Gegenüber hielt sie am Ärmel fest.

»Mir ist natürlich klar, dass Ihr nicht auf der Seite der Jakobiner stehen könnt, aber es würde mich ziemlich stören, wenn Ihr auf der Seite der Venezianer stehen wolltet: Das, was Ihr heute seht in unserer Stadt, ist nicht mehr die Stadt, die sie einst war. Und das hat keinesfalls nur mit Napoleon zu tun.« Er zog, mit einem spöttischen Blick auf Ursul, das Handtuch fester um die Hüften. »Wollt Ihr wirklich wissen, was diese Stadt einmal war? Kennt Ihr die Rede des Dogen Mocenigo kurz vor seinem Tod?«, fragte er dann.

Der Onkel griff sich an die Stirn. »Das müsste doch wohl einige Zeit zurückliegen, oder?«

»Aber keinesfalls so weit, dass die Pferde noch ein Schellenhalsband zu tragen hatten, wenn sie durch die Calle trabten und die Antoniusschweine in der Mercerie herumlaufen durften«, erwiderte Signor Vivarini scharf, schlüpfte dann durch eines der Seile hindurch und wühlte in den Büchern, die in einem Regal standen. Er nahm eines heraus, blätterte darin. »Dass wir uns hier im Haus der beiden Buchhändler befinden, die ebenfalls zu der Gruppe der Jakobiner gehörten, die als Verräter beschimpft wurden, wisst Ihr ja sicher. Man hielt sie nicht für ganz so schlimm, deshalb hielt sich die Zerstörungswut der Venezianer in etwa in Grenzen, und ihr Hab und Gut wurde keinesfalls so sehr zerstört wie bei mir, Gallino und unserem Anführer, dem Advokaten Spada. Und nachdem in diesem Haus, dem ehemaligen Haus der Buchhändler, sofort der Papierer einzog und seine wunderschönen marmorierten Papiere machte, war die Sache ohnehin früher zu Ende als bei uns, auf die sich die Wut der gesamten Stadt richtete.«

Er öffnete das Buch an einer Stelle, legte den Finger hinein. »Er lebte im Cinquecento, dieser Mocenigo, und als er glaubte, es ginge ans Sterben, hielt er eine Rede an die Mitglieder der Signoria. Eine Sterberede, die später immer wieder zitiert wurde, weil man an ihr zeigen konnte, was diese Stadt einmal gewesen war. Auch wenn sie nur aus Zahlen bestand. Aber diese Zahlen waren eben mehr als nur Zahlen«, sagte Vivarini und stellte sich mit seinem Buch an die Wand.

»Wir haben ein Handelskapital von zehn Millionen im Umlauf und gewinnen daraus vier Millionen durch die Ausfuhr und zwei durch die Einfuhr. Die Häuser unserer Stadt sind mehr als sieben Millionen Dukaten wert, und wir ziehen daraus eine halbe Million an Miete. Die venezianische Münze prägte im Jahr eine Millionzweihunderttausend Golddukaten und Silbermünzen mit einem Wert von achtzigtausend Dukaten, wir hatten den größten Getreidemarkt in Europa und unsere Kriegsflotte hatte elftausend Mann Besatzung, dreißigtausend Seeleute gab es auf der Handelsflotte, unsere Geschwader fuhren nach Russland und Kleinasien, nach Konstantinopel und Griechenland, nach Ägypten, England, Flandern und an die spanische und afrikanische Küste. In unserer Stadt waren dreitausend Schiffszimmerleute und dreitausend Kalfaterer beschäftigt, wir waren die Zentrale für den Baumwollhandel, wo sechstausend Arbeiter ihr Brot verdienten. In die Lombardei lieferten wir in jedem Jahr für fünfundzwanzigtausend Dukaten Seide, für Gewürze gaben wir fünfhundertvierzigtausend Dukaten aus. Wir waren eine Weltmacht, einst waren wir die reichste Stadt Italiens, bei uns wohnten die reichsten Männer der Welt. Unsere Handelshäuser standen über den ganzen Erdball verteilt, wir handelten mit Zucker und Zimt, mit Fellen und Goldbrokat, mit Edelsteinen, Perlen. Das war diese Stadt einst, und niemand soll sagen, dass sie das nicht auch wieder werden kann.« Signor Zurzo machte eine Pause. »Aber könnt Ihr verstehen, dass es für jemanden, dessen Familie seit Jahrzehnten hier lebte, unerträglich ist, wenn man die Zahlen von heute diesen Mocenigo-Zahlen gegenüberstellt? Nein, nein, ich kann sie Euch nicht bieten, diese Zahlen«, wehrte er ab, als er das fragende Gesicht des Onkels bemerkte. »Aber diese Serenissima war einst der Nabel der Welt. Und was ist sie heute?« Er unterbrach sich wieder, lauschte nach unten, wo unterdrückte Stimmen zu hören waren. »Ich würde Euch raten, jetzt zu gehen, sonst rutscht Ihr am Ende noch in eine Sache hinein, der ihr gewiss fernbleiben wollt.« Er nahm seinen Wäschepacken, roch angewidert daran und schob ihn in einen Sack. »Ich lebe im Übrigen im Arsenal«, sagte er dann und schob seine Besucher hastig zu einer Treppe, die nach hinten zu in den Hof führte. »Da gibt es für alte ausgediente Arsenalotti ein Heim. Dort kennt mich niemand. Und ich kann bei einem alten Mann, einem Freund, auf einer Matratze auf dem Boden schlafen.« Er lachte auf, ohne sich im Geringsten um irgendetwas zu kümmern, was ihm schädlich sein könnte. »Der einst so hochgeschätzte Gewürzhändler Zurzo schläft als Arsenalotto in einem Heim auf dem Boden, auf einer uralten durchgelegenen Matratze, kehrt jeden Tag mit teerverschmiertem Gesicht und stinkenden Kleidern zu dieser Matratze zurück, damit er am Abend seine Pasta kaufen kann und seinen Wein.«

Er schaute seinen Besuchern nach, ohne seine Stimme zu dämpfen. »Weil diese Serenissima keine Serenissima mehr ist!«

Sein Lachen verfolgte sie noch, als sie längst die enge Calle verlassen hatten und sich mit ihrem Packen marmorierten Papiers, für das sie keinerlei Verwendung hatten, mühsam durch das Gewühle von San Marco drücken mussten.