»Was macht Ihr hier in diesem Haus?«
Ursul betrachtete den Mann, der vor ihr stand und sie misstrauisch anstarrte, prüfend. So, als habe sie ihn nie zuvor gesehen. Was natürlich nicht stimmte. Schließlich hatte sie ihn – Isacco – damals in jener Nacht der geborstenen Tore gesehen, als sie alle ausgelassen getanzt hatten. Sein zorniges Gesicht in der banca rosso und seinen Hass auf alle Gojim hatte sie ganz gewiss nicht vergessen.
Und sie war keinesfalls glücklich darüber, ihn nun hier wieder zu sehen. Zumal sie angenommen hatte, er sei für immer ins Heilige Land ausgewandert.
»Ich wohne hier. Vielleicht«, sagte sie zögernd. »Aber ganz sicher ist es noch nicht.«
Isacco runzelte die Stirn. »Ihr wollt hier, in diesem Haus im Ghetto wohnen?«
»In der Contrada dell’Unione«, korrigierte Ursul lächelnd.
»Ob Contrada dell’Unione oder Ghetto spielt keine Rolle. Hier haben Juden gewohnt, seit –« er dachte eine Sekunde nach – »seit 1546. Und hier werden auch weiterhin Juden wohnen. Und im Übrigen könnt Ihr Euch ohne Weiteres schon jetzt wieder auf einen neuen Namen gefasst machen: Das alles, was Ihr hier seht, wird eines Tages ganz gewiss wieder Ghetto heißen. Oder chazer. Ein Name, auf den die Österreicher, wenn sie hier einziehen, sicherlich nicht verzichten wollen. Und dann seid Ihr überflüssig hier. Zudem noch in diesem Haus!«
»Was habt Ihr gegen dieses Haus?«
»Nun, mag ja sein, dass Ihr nie etwas gehört habt von dem Mann, der einst hier gelebt hat. Und seine Jeschiwa hier hatte, Leon da Modena. Aber trotzdem.«
»Ich weiß sehr wohl, was dies für ein Haus ist«, unterbrach ihn Ursul. »Ich kenne sogar seine Historia dei riti hebraici.«
»Vielleicht dem Titel nach, gelesen habt Ihr sie ganz gewiss nicht.«
»Die Wohnung wurde meinem Onkel angeboten, weil sie leer war und er auf der Suche nach einer neuen Bleibe«, versuchte Ursul zu erklären. »Und weil viele Juden, die früher im Ghetto wohnten, nun in die Stadt gezogen sind, seit sie endlich da wohnen dürfen, wo sie wollen. Die Wohnung wurde meinem Onkel – der hier auch mit Juden Geschäfte macht – empfohlen. Und da der fondaco inzwischen nicht mehr den deutschen Kaufleuten gehört, hat er sich umgeschaut, was für ihn, oder für uns, günstig sein könnte. Aber da diese Wohnung ohnehin vermutlich nur vorübergehend ist, bis wir etwas anderes gefunden haben, braucht Ihr Euch keinesfalls zu echauffieren.«
Isacco setzte einen Packen von Büchern, die er bisher umständlich vor seinem Bauch gehalten hatte, auf den Boden, behielt aber eines der Bücher, in dem er blätterte, ohne recht hinzusehen, in der Hand.
»Ich hoffe, Ihr seid trotz dieser jüdischen Wohnung, im jüdischen Viertel, im chazer, nicht so vermessen wie jenes arme Mädchen, das im Sandsturm umgekommen ist, nur um diesem Pestkind zu entfliehen? Weil es glaubte, es genüge bereits, wenn man wisse, wie viel Mehl und Eier man benötigt, um Kneidl machen zu können, und wenn man sich auskennt, wozu ein Jad dient. Schon sei man dann kurz vor einem Übertritt, oder?«
»Ich bin nicht vermessen«, wehrte Ursul verärgert ab, »und auch wenn ich annehme, dass Ihr dieses Tagebuch gelesen habt und –«
»Ein Tagebuch, das Ihr überhaupt erst durch mich bekommen habt«, unterbrach er mit Nachdruck, »und –«
»Und Lea Coen ist nicht in Sulzburg begraben«, warf Ursul dazwischen, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Und auch um Isacco mit irgendetwas zu übertrumpfen.
Er starrte sie misstrauisch an. »Woher wollt Ihr das wissen?«
»Ich war dort.«
»Wo?«
»Nun, auf dem jüdischen Friedhof. In Sulzburg. Der Ort, aus dem Leas Familie stammte.«
Isacco ließ sich auf eine Treppenstufe sinken und strich sich über seine Haare, die ohnehin bereits wieder mehr als verquer von seinem Kopf abstanden. »Was interessiert Euch an dieser Lea denn so über alle Maßen, dass Ihr ihr sogar meilenweit nachspioniert? Sie gehört doch gar nicht zu Euch.«
»Ich habe ihr keinesfalls nachspioniert«, sagte Ursul verärgert, »ich war mit meinem Onkel in der Nähe, und dann bin ich dort hingefahren.«
»Und woher wusstet Ihr von diesem Sulzburg?«
»Von Leone.«
Isacco lachte auf. »Von Leone! Ach Gott, Leone! Da hat er Euch wieder einmal schön an der Nase herumgeführt. Nur um vor Euch wieder den Allwissenden zu spielen. Dabei kennt er sich in der Vergangenheit unserer Familie überhaupt nicht aus. Aber was er nicht weiß, phantasiert er sich zusammen. Irgendwann wird er Euch dann auch noch erzählen, wie es mir im Heiligen Land ergangen ist. Und weshalb ich zurückgekehrt bin.«
»Und was wird er mir erzählen?«
Isacco starrte an Ursul vorbei, zuckte dann mit den Schultern. Und brauchte eine Weile, bis er antwortete. »Dass ich das ganze Heilige Land durchreist habe und nichts von dem gefunden habe, was ich mir erhoffte.«
Ursul bemühte sich um ein Gesicht, das nichts von ihren Gefühlen preisgab. »Und was hattet Ihr Euch erhofft? Weshalb seid Ihr zurückgekehrt?«, fragte sie dann.
Isacco blickte auf das Buch, das er immer noch in seiner Hand hielt. Er blätterte kurz darin, sah dann gelangweilt über Ursul hinweg. »Man braucht einen Gefährten in diesem Land. Oder besser noch: eine Gefährtin.«
»Und Ihr habt keine gefunden?«
»Keine, die ich mir vorgestellt hatte.«
»Und wie hätte die sein sollen, die Ihr Euch vorgestellt habt?«
Er grinste. »So eine wie Berenike. Aber damit fangt Ihr natürlich nichts an.«
Ursul überlegte, musste dann zugeben, dass sie mit Berenike wirklich nichts anzufangen wusste. »Könnt Ihr mir’s erklären?«
Er klappte das Buch zu, legte es sichtlich verärgert auf den Stapel, so als trage dieses Buch die Schuld an seinem Versagen. »Eine Gefährtin ist eine Frau, die gegen sämtliche steinerne Löwen hier in Venedig kämpfen würde, wenn sie versuchen würden, von ihren Podesten herabzusteigen und einen verwundeten Mann, den sie liebt, anzugreifen.«
Er schaute sie prüfend an, kniff die Augen zusammen. »Oder eine Frau, die in den Canale Orfano hinabsteigt und ihren vom Staat vergifteten Geliebten wieder heraufholt, sich zu ihm legt und ihm so lange ihren Odem einhaucht, bis er wieder ins Leben zurückkehrt. Auch wenn dies Äonen dauert.«
Er schaute blinzelnd über die Straße hinweg, grüßte einen Mann, der soeben das Gasthaus verließ, dann stand er auf und ging mit seinem schlurfenden Schritt davon.
Ohne seinem auf dem Boden sitzenden Bücherpacken auch nur noch einen Blick zuzuwenden.
»Er ist meschugge, dieser Isacco«, murmelte Ursul und starrte ihm kopfschüttelnd nach. »Er ist wirklich meschugge. Leone hatte recht, dass sein Bruder die meiste Zeit in seinem Kopf nicht ganz normal ist.« Sie blieb stehen, bis Isacco um die nächste Straßenecke verschwunden war. »Vielleicht hilft es ja, wenn ich Leone einmal darauf anspreche und ihm sage, was mit diesem Bruder los ist. Und dass er auf ihn Acht geben muss.«
Es dauerte eine Weile, bis Ursul Leone traf. Auf der Post, die sich nun im ehemaligen fondaco tedesco befand.
Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass während ihrer Abwesenheit die Franzosen dort ausgezogen, die Österreicher eingezogen waren und alles zunächst einmal zu einem riesigen Chaos geworden war. Ein Chaos, das natürlich kaum anders war als zuvor, als die Stadt unter der Herrschaft der Franzosen gestanden hatte. Zwar konnten nun keine Bronzepferde mehr abtransportiert, Goldschätze eingeschmolzen oder Schiffe zerstört werden, dafür wurden kostbare Handschriften und ganze Bibliotheken nach Wien geschafft.
Die Sprache war anders, die Uniformen anders, die Gesten anders. Langsamer, gemütlicher, so, als seien sie keine Besatzer, sondern freundliche Besucher, die der Stadt lediglich einen kurzen Besuch abstatteten.
Und sich nun am Bier vom Fass, an Kraut, Würsteln und Kartoffeln delektierten.
Die Einquartierung bei der Witwe, bei der Ursul vor ihrer Abreise nach Nürnberg gewohnt hatte, war nicht mehr französisch, sondern österreichisch, und die Frau war froh, dass sie an manchen Tagen jemanden im Haus hatte, der für sie dolmetschen konnte: Ursul.
Die Contrada dell’Unione war wieder zum Ghetto geworden, wie Isacco prophezeit hatte. Auch wenn es nun keine Ghettotore mehr gab, die morgens und abends geschlossen wurden, so gab es doch eine Fülle von Auflagen, die die Juden zu erfüllen hatten.
Regensburger, Augsburger, Nürnberger Händler – die nun keinerlei Befugnisse mehr im fondaco hatten – bemühten sich miteinander, das neuerliche Chaos zu schlichten, aber da ihre Rechte weitgehend beschnitten waren, war ihr Tun, was ihre Arbeit anbetraf, zumeist sinnlos.
Auf eben dieser Post traf Ursul dann eines Tages Leone.
Bevor sie berichten konnte, was sie auf ihrer Reise nach Nürnberg und wieder zurück erlebt hatte, war ihr im ersten Augenblick klar, dass sie es ihm nicht sagen konnte. Nicht in aller Deutlichkeit und nicht in der vollen Brutalität: Nicht sagen konnte, dass diese Lea Coen vermutlich irgendwo verschollen blieb zwischen Venedig und Sulzburg. So verschollen wie ihre Vorfahrin Margarete Helmbrecht im Weihrauchland.
»Du hast sie wirklich gefunden«, fragte Leone erregt, als sie mit ihrem Bericht über Sulzburg begonnen hatte. »Ich hätte nie geglaubt, dass dies möglich ist, nach dieser langen Zeit. Hast du den Segensspruch gefunden, der ihr so wichtig war?«
»Ich habe vermutlich einen Segensspruch gefunden«, antwortete Ursul, froh darüber, dass sie nicht zu lügen brauchte. »Aber ich kann natürlich kein Hebräisch und konnte nur vergleichen mit anderen Grabsteinen.«
Leone gab sich damit zufrieden. »Hast du die Steinchen auf das Grab gelegt«, fragte er dann weiter, »die Steinchen, die ich dir mitgegeben habe?«
Ursul nickte. Ja, sie habe Steinchen auf das Grab gelegt. Auch das war nicht gelogen, auch wenn es nur irgendein jüdisches Grab war.
»War es einfach zu finden?«
»Nein, es war nicht leicht zu finden«, gab Ursul wahrheitsgemäß zurück. »Eine ganze Zeit lang gab es überhaupt keine Juden in Sulzburg.«
»Und heute?«
»Heute gibt es wieder welche«, berichtete Ursul bereitwillig. Froh darüber, dass sie alle Klippen umschifft hatte.
»Haben sie einen Tempel?«
»Bis jetzt nicht, aber offenbar soll einer gebaut werden, irgendwann. So hat es mir zumindest eine alte Frau gesagt, die ich auf dem Friedhof getroffen habe. Zurzeit haben sie nur einen Betsaal und eine jüdische Konfessionsschule.«
»Und der Friedhof? Ist er wieder benutzbar?«
»Ja. Die Gemeinde hat die Obrigkeiten offenbar gebeten, dass man erlauben möge, diesen Friedhof wieder benutzen zu dürfen. Und das hat man dann auch getan.«
Ursul versuchte so viel wie möglich von Sulzburg zu berichten, um Leone davon abzuhalten, sich weiterhin nach Lea Coen zu erkundigen. Und sie verließ ihn nach einer Weile mit dem Gefühl, etwas getan zu haben, was ihn mit gutem Gefühl zurückließ. Sie hatte nicht wirklich gelogen. Sie war lediglich ein ganz klein wenig neben der Wahrheit entlanggeschlichen.
Aber sie war sicher, dass Lea Coen zufrieden mit ihr gewesen wäre.
Ursul wusste von ihrem Onkel, dass Pilger, die die Reise ins Heilige Land von Venedig aus antraten, dies zweimal im Jahr tun konnten: Im Frühjahr zum passagium Martii, oder im Sommer zum passagium Augusti. Die Jerusalemfahrer, die von Norden kamen, logierten in Venedig im Hause des Peter Ugelheimer. Die Fahrten mussten vorweg bei einer der beiden Reedereien bezahlt werden, die ins Heilige Land fuhren – die eine Hälfte in Venedig, die andere in Jaffa. Ein Vertrag enthielt alle Leistungen, die von den Reedern zu erbringen waren: die Hinreise von Venedig ins Heilige Land und die Rückreise, den bewaffneten Schutz während der Fahrt, die Landgänge unterwegs, genügend Raum für das Gepäck und den Proviant. Außerdem mussten die Pilger bis zum Jordan begleitet werden, Zölle und Geleitgelder waren im Preis inbegriffen.
Die Reeder Conterini und Lando waren erbitterte Konkurrenten und versuchten sich gegenseitig die Kunden abspenstig zu machen. Und das nicht immer mit eben fairen Methoden: Ihre Agenten standen auf dem Markusplatz und versuchten, die Morgenlandfahrer durch großartige Festmahle – denen jeweils die Besichtigung des vorgesehenen Schiffes folgte – für ihre Reederei einzunehmen.
Als Ursul des Morgens in die Kirche gehen wollte, wurde sie Zeugin eines lautstarken, verärgerten Wortwechsels. Nur wenige Schritte von ihr entfernt und in unmittelbarer Nähe der neuen Bank der Levis sah sie Isacco stehen, in intensives Gespräch mit einer Gruppe von Pilgern vertieft. Leone hatte soeben das Büro seines Vaters verlassen und zog seinen Bruder am Ärmel. Auf dem Boden unmittelbar vor dem Eingang der Bank lag ein wüstes Durcheinander von zerbrochenem Schiffszwieback, den die Pilger ganz offensichtlich geprüft und dann als schlecht befunden hatten.
Leone versuchte seinem Bruder einen Besen in die Hand zu drücken und deutete dabei auf den Boden.
Isacco lehnte den Besen brüsk ab und redete weiterhin auf den einen der Pilger ein, der jedoch energisch den Kopf schüttelte und sich dann zum Gehen wandte. Der andere blieb mit kauenden Backen stehen und unterzog ganz offensichtlich den Zwieback einer weiteren Prüfung.
Ursul konnte nicht eindeutig verstehen, um was es bei dem Gespräch zwischen Isacco und dem Mann ging, aber offensichtlich war dieser Kunde ebenfalls unschlüssig geworden, wem der beiden Reeder er nun seine Habe anvertrauen sollte für diese lange Reise übers Meer.
Isacco ging zielstrebig auf Leone zu, und Ursul hatte das Gefühl, als könnten die beiden Brüder handgreiflich werden. Sie trat hinter der Säule hervor, hinter die sie sich gestellt hatte. Isacco kniff die Augen zusammen, als er sie entdeckte, nahm Leone den Besen aus der Hand und warf ihn zornig auf den Boden. Dann verließ er den Platz.
Leone hob ihn wieder auf und kehrte die Reste des Zwiebacks murrend zur Seite.
»Mein Bruder hat es nicht nötig, Schiffszwieback zu verkaufen«, murmelte er dann verärgert vor sich hin. »Er könnte genauso gut wie ich in der Bank unseres Vaters arbeiten. Oder in Padua sein Studium beenden. Und endlich sein Examen machen. Aber dazu ist er zu feige. Weil er Angst hat, zu versagen. Also drückt er sich lieber auf dem Markusplatz herum, verärgert die Besucher unserer Bank, die sich anschließend die Krümel aus ihren Schuhen herauspulen müssen. Und versucht Leute, die bei uns lediglich Geld wechseln wollen, davon zu überzeugen, dass sie um ihres Seelenheils willen ins Heilige Land reisen müssen. Natürlich mit der von ihm vertretenen Reederei.«
Leone stellte den Besen zornig an die Wand, wischte die Krümel von seinen Beinkleidern und trat dann zur Seite, um den Eingang freizugeben.
»Schiffszwieback, verdorbenen Schiffszwieback, hatte er den beiden wohl andrehen wollen«, sagte er dann unterdrückt zu Ursul, »Provianttaschen, Pilgermuscheln und Wasserflaschen verkauft er, und was weiß ich sonst noch. Und verspricht grandiose Abendessen auf dem Schiff, auf dem er diese Leute anschließend herumführen will.«
Leone schüttelte zornig den Kopf. »Manchmal glaube ich wirklich, dass er eines Tages in San Clemente landet, bei all den Verrücktheiten, die er sich leistet.«
Ursul lächelte verlegen und zuckte hilflos mit den Schultern, da sie sich kaum in der Lage fühlte, die Wogen in diesem andauernden Bruderzwist zu glätten.
Als sie nur wenige Tage später mitten in der Nacht vor ihrem geöffneten Fenster den Ruderschlag eines Bootes hörte, wusste sie bereits, dass es sich um Isacco handelte: Er fuhr mit einem Boot die Strecke ab, die in vornapoleonischer Zeit Nacht für Nacht von christlichen Wächtern abgefahren wurden, um Juden am Verlassen des Ghettos zu hindern. Dabei rezitierte er Texte aus dem Talmud.
Ursul hätte auch genau die Stunde benennen können, zu der sie die Ruderschläge hörte. Die Ghettotore waren früher morgens stets beim Klang der Marangana-Glocke geöffnet und um Mitternacht von den Wächtern geschlossen worden. Und Isacco hielt diese Zeiten exakt ein. Er wolle nicht, dass alles vergessen werde, hatte er einer Nachbarin erklärt.
Ursul schloss das Fenster, legte sich wieder ins Bett. Sie wusste nicht, mit welchen Gedanken sie ihre Unruhe bekämpfen konnte. Noch immer hatte sie keine klare Vorstellung von einem Beruf, den sie nun, da sie nicht mehr Keuflin werden wollte, hätte ausüben können. Oder was sie hätte lernen wollen, wenn sie einmal von einem Harnisch absah, den sie noch immer vermutlich fehlerfrei herstellen konnte.
Der Onkel war ihr bei ihren beruflichen Überlegungen keine Hilfe. Stattdessen amüsierte er sich über die Männer, mit denen seine Nichte sich abgab.
»Sie werden immer zahlreicher, deine Verehrer«, spottete er eines Tages, als er sie wieder einmal bei Isacco hatte stehen sehen. »Weißt du eigentlich überhaupt noch, wem du den Vorzug gibst? Leone, diesem Isacco? Oder vielleicht dem Faktor, mit dem du in der letzten Zeit an manchen Tagen zusammenarbeitest? Wegen diesem Buch der Chroniken, das offenbar seine Tücken hat, oder sehe ich das falsch?«
Das Buch habe keine Tücken, log Ursul, und der Faktor interessiere sie ganz gewiss nicht. Und dass Isacco zu ihren Verehrern gehöre, könne sie auch nicht behaupten. Vermutlich gehöre er eher zu ihren Gegnern.
Aber der Onkel hatte nur gelacht. Er sehe das anders.
»Wegen solch einer Sache ist die Freundin unserer Vorfahrin, diese Bianca, einst verbannt worden«, hatte sie entgegnet.
»Doch wohl genau wegen dem Gegenteil: Da war es die Frau, die dem Mann nachstellte. Bei euch ist es doch umgekehrt. Wenn ich recht informiert sei, triffst du diesen Isacco ziemlich häufig. Über diesen Umgang, ob er taugt oder nicht, solltest du doch einmal gründlich nachdenken.«
Und Ursul dachte nach. Über diesen »Umgang«, wobei sie nicht wusste, ob die Bezeichnung dafür überhaupt passte. Woraus er bestand.
Sie hatte keine Mutter wie diese Bianca in dem Tagebuch, die ihr den Umgang mit dem seltsamen Mann Moise verbot. Isacco kam zu ihr, ließ eine Suada seiner Gedanken auf sie niederprasseln, dann ging er wieder. Und er versuchte, sie das hebräische Alphabet zu lehren.
»Ich habe so langsam das Gefühl, dass dich mein Bruder mit irgendwelchen Sachen vollstopft, die dich keinesfalls interessieren«, sagte Leone, als er von ihren vergeblichen Hebräisch-Versuchen hörte. »Ich weiß zwar nicht, was in diesem Tagebuch über das Weihrauchland stand, aber ich kann mir vorstellen, dass es spannender war als Aleph, Beth und Gamel.«
»Für mich ist eure Sprache schon spannend«, beeilte sich Ursul zu sagen, doch das entsprach nur zur Hälfte der Wahrheit.
»Und wo soll das alles hinführen?«, wollte Leone wissen und schaute sie dabei misstrauisch an. »Willst du etwa eines Tages nach Palästina?«
Ursul blickte auf ihre Fußspitzen, mit denen sie Kringel auf den Boden zeichnete. »Muss es das?«
»Was?«
»Nun, irgendwohin führen?«
»Nichts ist absichtslos, was Isacco tut«, antwortete Leone heftig. »Nichts. Eines Tages wirst du das schon noch merken. Und warte nur erst einmal, bis er anfängt, dir von den Nabatäern zu erzählen, dann kannst du hinterher deine Füße nicht mehr bewegen, so lange braucht er für diese Erzählungen, wenn er dich dabei dreimal die Giudecca hin- und herführt. Und bis er mit dir zusammen koscher essen will, kannst du Großmutter werden. Falls er das überhaupt in Erwägung zieht. Das koschere Essen.«
Aber Isacco wollte weder mit ihr zusammen koscher essen, noch erzählte er ihr von den Nabatäern: Stattdessen überfiel er sie eines Tages mit einer Horrorgeschichte über die Dönmeh und die Frankisten, irgendwelche Sekten, über die er allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht ausführlich berichtete.
Aber trotzdem blieb Ursul mehr als verstört zurück.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass er meschugge ist?«, ereiferte sich Leone, als er sie fast am gleichen Tag in der Stadt traf. »Was hat er dir erzählt von diesen Frankisten?«, drängte er. »Will er dich etwa mitnehmen nach Paris zu dieser seltsamen Heiligen?«
Ursul blickte Leone hilflos an, schüttelte den Kopf.
Leone trat von einem Fuß auf den anderen, schaute sich gehetzt um. »Ich muss weiter, eine Auskunft für meinen Vater einholen. Ich komme später zu dir.«
Ursul hatte ihr Mittagessen fertig gekocht, bis er vor ihrer Tür stand.
»Entschuldige, aber es ging einfach nicht rascher.«
Er setzte sich mit aller Selbstverständlichkeit an den Tisch, auf den Ursul bereits zwei Teller gestellt hatte, und schaute zu ihrem Herd hinüber. »Es sind viele Familien, die dazugehören«, sagte er dann, ohne hochzublicken, »sogar noch mehr, als wir vermutet hatten. Das habe ich soeben erfahren.«
Ursul hatte sich inzwischen an die seltsamen Erklärungsmethoden der Levi-Brüder gewöhnt und fragte schon gar nicht mehr, um welche Familien es sich bei welcher Sache handelte.
Leone löffelte hastig die Suppe, wobei Ursul das Gefühl hatte, dass er ganz gewiss nicht merkte, um welche Suppe es sich handelte. Dann fuhr er mit einer Spur von Triumph in der Stimme fort: »Ich rede von den Dönmehs. Nicht einmal von den Frankisten.«
Ursul nickte und legte ihren Löffel zur Seite. Sie hatte nur den Wunsch, dass dieses Gespräch so rasch wie möglich zu Ende sein möge und dass diese Frankisten, die sie so sehr irritiert hatten, dabei möglichst ausgespart bleiben würden.
»Isacco ist bei ihnen zurzeit«, erklärte Leone und wischte sich hastig über den Mund. »Und er schläft mit all diesen Leuten. Zusammen. Also, mit allen gleichzeitig, verstehst du? Er ist bei diesen Frankisten«, wiederholte er dann mit aller Selbstverständlichkeit und nahm an, dass der Sprung von den Dönmehs zu den Frankisten ohne weitere Zwischenschritte sichtbar wurde. Und Ursul endlich so schockiert schien, wie er es sich erhoffte.
Ursul schob den Löffel an den Rand des Tisches. »Und weshalb sollte Isacco das tun? Und wo? Etwa hier im Ghetto?«
Leone winkte heftig ab. »Natürlich nicht hier. In Paris. Oder in Saloniki. Oder sonst irgendwo.«
»Und weshalb sollte er das tun?«
»Weil er den Messias damit herbeiholen will. Früher als sonst.«
Ursul nahm Leones leeren Teller und trug ihn zur Seite. »Das ergibt wenig Sinn. Zumindest für mich.«
»Für mich auch nicht, aber er tut es. So wie er alles tut, was verrückt ist. Dies hier besonders.« Leone lachte auf. »Kannst dir überhaupt vorstellen, wie meine Eltern das finden? Was sie da hören? Dass Frauen und Männer beieinanderliegen, wie es gerade kommt?«
»Ich bin nicht der Wüstling, für den mich mein Bruder hält.«
Die Stimme kam flüsternd in Ursuls Ohren und so unerwartet, dass sie ihren Tee zum Teil auf ihr Kleid goss. Sie hatte diese Stimme im Heiligen Land vermutet, in Saloniki, in Paris oder sonst wo. Nicht jedoch hier beim Laubhüttenfest in Venedig, zu dem sie von ihrer Nachbarin eingeladen worden war.
»Hast du gehört?«, wiederholte die Stimme. »Ich bin kein Wüstling, wie dir Leone weismachen wollte.«
Ursul wischte mit einem Taschentuch über ihren nassen Rock und wandte sich dann zu Isacco um, der wartend neben ihr stand.
»Er hat nicht gesagt, du seiest ein Wüstling«, sagte sie dann zögernd, »er hat nur gesagt, dass du an Mysterien einer Sekte teilnimmst. Einer jüdischen Sekte, die sich in Orgien ergeht. Wo nackte Mädchen vor dem Synagogendiener in der Synagoge tanzen.« Sie machte eine Pause. »Und wo Männer und Frauen beieinanderliegen. Und so auf den Messias warten.«
Isacco lachte verärgert. »Natürlich lässt sich das auch so weitergeben.« Er nahm Ursul das Taschentuch aus der Hand und versuchte ihren Rock trocken zu reiben, aber Ursul wehrte hastig ab.
Isacco schaute sie irritiert an. »Ich wollte dir lediglich helfen, deinen Rock zu trocknen. Es sollte keinesfalls der Beginn einer Orgie sein.«
Ursul zog ihre Hand zurück. »Entschuldige. Es hat mich ziemlich schockiert, was ich da hörte.«
»Was du da hörtest, hatte Leone über drei Ecken herum erfahren«, sagte Isacco zornig. »Und dann hat er es meiner Mutter auf einem silbernen Teller präsentiert. Die mich danach endgültig aus ihrem Mutterherzen verbannt hat. Und mein Vater ist soeben dabei, mich zu enterben, weil ich unserem Namen Schande mache.«
»Heißt das, dass die Sache so überhaupt nicht stimmt?«
Isacco füllte einen Becher mit Tee und führte Ursul dann zu dem langen Tisch, an dem die Festgäste des Laubhüttenfestes Platz genommen hatten. »Es stimmt schon. Sie machen alles, was Leone erzählt hat. Aber man muss doch wissen, weshalb sie das tun.«
»Kannst du es mir erklären?«
»Weil sie auf den Messias warten. Weil sie ihn rascher herbeiholen wollen.«
»Auf diese Art und Weise?«
»Auf die Art und Weise, an die sie glauben.«
Ursul rührte in ihrem Tee, gab ein zweites Mal Zucker in die Tasse.
»Nicht so viel«, mahnte Isacco, »Zucker ist kostbar, wie du wohl weißt.«
Ursul rührte stockend weiter in ihrer Tasse, Isacco schob einen Palmzweig, der auf den Tisch fiel, wieder in das Palmdach zurück, das sich über ihren Köpfen befand.
»Wer sind die Frankisten?«, fragte Ursul zögernd.
»Diese Heilige ist die Nachfolgerin von Frank, der der Nachfolger ist von Sabbatai Zwi.«
»Ich dachte, der sei längst tot. Und zum Islam übergetreten.«
»Sabbatai Zwi schon. Dann ging es um Jakob Frank, der aber inzwischen auch tot ist.«
»Und Ihr wart bei ihrer Nachfolgerin, dieser Heiligen Herrin? Und alle haben dabei bei allem mitgemacht. Alle?«
Isacco zögerte keinen Augenblick. »Natürlich habe ich auch mitgemacht. Wie sonst soll ich begreifen, wie das ist, wenn man auf diese Art auf den Messias wartet?«
»Leone wartet doch auch auf den Messias, aber auf völlig andere Art und Weise«, erwiderte Ursul.
»Leone! Leone! Leone! Ist er der Nabel der Welt? Weshalb glaubst du alles, was Leone sagt, und weshalb ziehst du alles in Zweifel, was von mir kommt?«
Isaccos Stimme ließ sich nicht mehr überhören, an ihrem Tisch beugten sich einige Leute zu ihnen herüber und baten um Ruhe. Dies sei ein Fest der Freude, das man nicht mit Zwiespalt und Streit beenden solle. Wenn man diskutieren wolle, könne man dies an anderer Stelle tun.
Isacco nickte widerwillig, zog Ursul aus dem Raum und begleitete sie dann zu ihrem Haus.
»Ich war bisher nicht ein einziges Mal in deiner Wohnung«, stellte er fest, als sie vor Ursuls Haustüre angekommen waren. »Schließlich ist es doch eine ganz andere Wohnung geworden, als die ursprünglich geplante. Kann ich zu dir hinaufkommen?«
Ursul zögerte einen Augenblick.
»Ich verspreche auch, ganz gewiss keine Orgie anzuzetteln«, spottete Isacco. »Und Leone – er isst ständig bei dir. Also möchte ich wenigstens hinaufkommen. Nur ein einziges Mal.«
»Ich habe kein Abendessen gerichtet«, wehrte sich Ursul.
Isacco hob die Hände zu einem Friedensgruß. »Ich schwöre: Kein Essen, kein Bemühen um deinen nassen Rock, keine Orgie – darf ich dann?«
Ursul ließ ihm den Vortritt. »Wollt Ihr nicht wenigstens Platz nehmen«, schlug sie vor, als Isacco sich sofort neugierig in der Wohnung umsah, die Wände berührte, mit der Hand über die Möbel strich.
»Sind das noch ihre Möbel?«, wollte er dann wissen.
»Wessen Möbel?«
»Nun, die der Frau, die einst hier gelebt hat. Sara Coppia Sullam.«
Ursul schüttelte den Kopf. »Woher soll ich das wissen? Mein Onkel hat diese Wohnung gemietet. Nicht eben billig.«
»Das hoffe ich doch«, sagte Isacco, dabei boshaft lächelnd. »Immerhin ist es die Wohnung einer Dichterin. Einer berühmten Dichterin. Einer jüdischen Dichterin. Und davon gibt es nicht allzu viele.«
Er ging weiter durch den Raum, betrat dann ohne zu zögern den nächsten, schaute sich prüfend um, blieb stehen, schloss die Augen und zog die Luft ein.
»Hier war es also.«
Ursul verzichtete auf eine Frage, in seiner Gegenwart konnte sie nur falsche Fragen stellen.
Als Isacco die Augen wieder öffnete, kam er zu Ursul, die an der Tür stehen geblieben war, zurück und legte die Hände neben ihrem Kopf an die Wand. »Spürst du eigentlich noch etwas von ihr? Ich meine, ob du spürst, dass sie hier gelebt hat, ob es da noch Schwingungen gibt.«
Ursul schaute ihn verunsichert an. »Schwingungen?«
»Nun ja, doch. Ein Mensch hat hier gelebt, geredet, geschrieben, gedacht, geschlafen, geliebt sicher auch. Vermutlich ist er sogar hier gestorben. Am Fieber, heißt es in den Totenbüchern. Irgendetwas muss also doch zurückgeblieben sein. Oder etwa nicht?«
Ursul ging zu einem Regal und nahm zwei Becher heraus. Sie füllte sie mit Wein, murmelte dabei, dass es koscherer Wein sei, dann hielt sie Isacco einen Becher entgegen.
Isacco nahm ihn, stellte ihn dann auf den Tisch, ohne daraus zu trinken. »Ich denke, es muss etwas geblieben sein«, sagte er mit Nachdruck. »Es war ein literarischer Salon, den sie hatte, ein Salon, in den die Leute von weither kamen. Sie haben über die Unsterblichkeit der Seele diskutiert, sie hat Briefe an einen hochgelehrten Mann geschrieben, so etwas bleibt doch nicht ohne Spuren. Oder seid Ihr so stumpf, dass Ihr nichts davon spürt?«
Ursul schüttelte hilflos den Kopf und lehnte sich an die Wand. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
Isacco zog seine Hände um ihren Kopf zusammen, sodass sie gefangen war in seinem Griff. »Hört zu, ich will’s Euch erklären. Wie Ihr wisst, war ich bei diesen Frankisten, nein, unterbrecht mich nicht, ich war richtig bei ihnen, das heißt, ich habe alles mitgemacht, was sie auch taten, ihren ganzen religiösen Ritus, oder ihren Wahnsinn, wie Ihr wollt. Alles nur, um den Messias zu erfahren.
Ich bin dann nach Deutschland gefahren, dort gibt es einen Mann, der genau das Gegenteil tut, einen gewissen Moses Mendelssohn, ein Philosoph. Er versucht unter den Juden die Idee zu verbreiten, dass die Juden nicht mehr nur Juden sind, sondern dass sie sich assimilieren, wie er das nennt. Sie sagen sich also jeden Tag aufs Neue, dass sie nicht nur Juden seien und dass uns überhaupt nichts unterscheidet von allen anderen Menschen, den Gojim. Und das müsse man spüren.«
»Und«, unterbrach sie, »habt Ihr es gespürt?«
»Nein, ich habe nichts gespürt, gar nichts. Ich konnte jeden sogenannten Nichtjuden berühren, er fühlte sich nicht anders an als diese Juden, die keine mehr sein sollten. Und nun machen wir ein Experiment.« Er zog Ursul zu sich heran, bis ihre Gesichter sich schließlich berührten. Er presste seine Lippen auf ihren Mund, öffnete diesen Mund mit seiner Zunge. Gewaltsam, da sie sich zunächst sträubte.
Dann erkundete er diesen Mund mit seiner Zunge. Forschend, nicht liebevoll. Aber ausgiebig. Und zog sich abrupt zurück.
»Bist du überhaupt schon einmal geküsst worden?«, fragte er nach einer Weile.
Sie war unfähig zu reden, schüttelte nur stumm den Kopf.
»Überhaupt nicht?«
»Ganz gewiss nicht so«, sagte sie leise.
»Und?«
»Was und?«
»Gab’s da einen Unterschied? Zu dem jetzt?«
Sie nahm ihr Glas, trank einen Schluck. »Nein. Ja.«
»Was denn nun, ja oder nein?«, fragte er belustigt.
»Ein Kuss ist ein Kuss«, erwiderte sie.
»Nein, ein Kuss ist eben nicht ein Kuss«, widersprach er.
Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, ob dies ein Kuss war, den er bei diesen Frankisten gelernt hatte.
»Seht Ihr, genau das wollte ich Euch zeigen«, sagte er befriedigt, als sie sich verlegen über den Mund wischte.
Dann wandte er sich um und verließ den Raum.
Sie blieb zurück mit hundert offenen Fragen. Er hatte sie nicht zum Essen eingeladen, zum koscheren Essen.
Und nach den Orgien, die sie so brennend interessierten, hatte sie ihn nicht einmal gefragt. Wobei sie sich eingestand, dass sie keinerlei Ahnung hatte, was unter diesen Orgien wirklich zu verstehen war. Und ob sie auch nur einen Bruchteil davon verstehen würde, wenn ihr irgendwer darüber in aller Ausführlichkeit berichten würde.
Sie traf Isacco noch einmal kurz vor seiner Abfahrt ins Heilige Land.
Es war Zufall. Sie hätte ihn nicht gesehen, wenn Leone nicht mit seinem typischen verhetzten Laufschritt gerade aus einer Calle hervorgeschossen wäre und sie dabei fast umgerannt hätte. Am Kai, wo schon eine Gruppe von Menschen bereitstand, um mit einem kleineren Schiff hinaus zum Lido zu fahren, wo die große Karracke bereit war für die Fahrt ins Morgenland.
»Hast du es wieder einmal so eilig, als ob heute bereits die Welt unterginge und du ganz rasch zuvor noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen hast«, spottete sie, als Leone sich wie üblich den Schweiß von der Stirn wischte und gehetzt zu der Pilgergruppe hinüberschaute.
»Für meine Mutter wird sie ganz gewiss untergehen«, sagte er dann atemlos und schwenkte ein Papier vor ihren Augen hin und her. »Da, lies, dann weißt du wenigstens, wie verrückt mein Bruder ist. Das hatte er heute Morgen in aller Frühe unter meiner Zimmertüre hindurchgeschoben, damit ich es meiner Mutter gebe.«
Ursul nahm den Zettel zögernd in die Hand, drehte ihn auf die Rückseite, stellte dann fest, dass sie ihn auf den Kopf gestellt hatte.
Leone nahm ihr das Papier aus der Hand. »So viel Zeit habe ich nicht, und wenn meine Mutter ihren Sohn vor seiner Abreise noch einmal sehen will, dann muss es rasch gehen. Also:
ISRAELITEN, IHR EINZIGES VOLK,
DEM EROBERUNGSSUCHT UND TYRANNEI IN JAHRTAUSENDEN WOHL DAS ALTE LAND RAUBEN KONNTEN, NICHT ABER DEN NAMEN UND DIE EXISTENZ; ERHEBT EUCH! ZEIGT, DASS DIE FRÜHERE ÜBERWÄLTIGENDE MACHT EURER UNTERDRÜCKER WOHL DEN MUT DER NACHKOMMEN JENER HELDEN, DEREN BRÜDERLICHER BUND AUCH SPARTA UND ROM ZUR EHRE GEREICHT HÄTTE, ZÜGELN KONNTE, DASS IHN ABER AUCH ZWEITAUSENDJÄHRIGE SKLAVEREI NICHT AUSZULÖSCHEN VERMOCHTE.
Napoleon, auf seinem Palästina-Feldzug in Jerusalem,
im Monat Nissan, des Jahres 5559
»Was soll das heißen? Und von wem stammt es?«
Leone starrte Ursul ungläubig an. »Nun, das dürfte doch klar sein. Von Napoleon. Und mein Bruder will zu ihm, nehme ich an. Er geht zusammen mit den Pilgern ins Heilige Land, aber keinesfalls, um Pilgerstätten aufzusuchen, sondern um sich Napoleon anzuschließen.«
»Napoleon?« Ursul schaute irritiert auf den Zettel und nahm ihn Leone wieder aus der Hand. »Wo hat er das denn gesagt? Am Rialto, im Dogenpalast, im ehemaligen Ghetto, in Paris?«
Leone schaute Ursul kopfschüttelnd an. »Im Heiligen Land natürlich. Vermutlich vor den Toren von Jerusalem.«
»Und seit wann ist er im Heiligen Land?«
»Schon seit einer ganzen Weile«, erwiderte Leone, »dass es einen Palästina-Feldzug gibt, ist doch bekannt. Er wollte mit 40000 Mann über Syrien und Kleinasien nach Konstantinopel. Durch diese Eroberung hoffte er, seine Herrschaft über Ägypten zu stärken und an Proviant für seine Soldaten zu kommen. Es gelang ihm zwar, Jaffa einzunehmen – wo er wie ein Messias empfangen wurde, aber der Widerstand der Türken verhinderte, dass er Akko besetzen konnte, auch wenn viele Juden unter seiner Flagge für ihn kämpfen wollten. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Ägypten zurückzukehren und die Eroberung Palästinas aufzugeben. Und dort verlief die Sache zweischneidig: Er besuchte zwar die Pestkranken in Jaffa, aber nach der erfolglosen Aktion in Akko verbrannte er dort die gesamten Ernten und ließ die Gefangenen, die er nicht mitnehmen konnte, füsilieren.«
»Und Isacco? Was will er dort?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Leone verärgert. »Vermutlich in die Armee eintreten. Aber ganz gewiss will er weder an irgendwelche Pilgerstätten wie Golgatha und das Heilige Grab, noch, an den Jordan, auf den Berg Zion, nach Bethlehem oder zum Palast Davids. Das kennt er ja schon alles von früher. Und drei Nächte in der Grabeskirche verbringt er ganz gewiss auch nicht mehr.«
Ursul schaute wieder zu der Gruppe von Männern hinüber, die alle auf ihren Umhängen mit Kapuzen ein rotes Kreuz trugen. Sie sah die Pilgermuscheln, den Pilgerstab, die Wasserflaschen, alles Dinge, die Isacco den Leuten vermutlich erst vor Kurzem verkauft hatte.
Als er sie mit seinem Bruder zusammen erspähte, verzog er das Gesicht und wandte sich dann brüsk ab.
Leone nahm den Zettel mit Napoleons Aufruf und legte seine Hand auf Ursuls Arm. »Geh zu ihm. Wenn er mich hier mit dir zusammen sieht, wird er ganz gewiss nicht herüberkommen. Und wenn ich mich beeile, kann ich meine Mutter vielleicht doch noch davon überzeugen, dass sie sich von ihrem Sohn verabschiedet. Vermutlich für immer.«
Ursul blieb eine Weile an ihrem Platz stehen, schaute aber weiterhin zu Isacco hinüber. Als er sich wieder zu ihr umwandte, lächelte er spärlich und kam dann zu ihr herüber.
»Für die Nabatäer hat es ja nun leider nicht mehr gereicht«, sagte er dann achselzuckend, »obwohl es wichtiger gewesen wäre, als über die Dönmeh und die Frankisten zu reden. Aber das kann ja mein Bruder nachholen. Und wie ich ihn kenne, wird er das tun.« Isacco lachte auf. »Es wird nur eine Weile dauern bis dahin, weil er erst Bücher lesen muss, damit er besser ist, als ich das hätte sein können. Und vergiss nicht, deine ›Kürbisgärten‹ zurückzuholen, sonst gehen sie verloren. Leone wird gewiss keine Zeit haben, sie überhaupt nur flüchtig anzuschauen.«
Er schaute zu dem Schiff hinüber, dann nahm er Ursul an den Armen und schob sie gegen eine Hauswand. Einen kurzen Augenblick schaute er sie prüfend an, dann senkte er seinen Mund auf ihre Lippen. Ursul spürte, wie sich ihre Lippen öffneten, diesmal ohne Widerstand, nicht verkrampft wie damals in ihrer Wohnung. So, als sei sie es nun bereits gewohnt, von einem Mann auf diese Art und Weise berührt zu werden. Sie spürte seine Zunge forschend ihren Mund ertasten, anders als beim ersten Mal. Dann löste er sich widerstrebend.
»Jetzt bist du gezeichnet. Für immer und alle Zeiten. Ganz gleich was daraus wird. Oder auch nicht. Und diesmal war es gewiss kein Experiment.«
Er wandte sich um und schritt langsam zu dem Schiff hinüber, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dann nahm er sein Bündel vom Boden und ging die Gangway hinab.
Als er das Schiff fast erreicht hatte, formte er die Hände zu einem Sprachrohr, wandte sich aber nicht mehr um. »Vielleicht wirst du ja auch eines Tages für mich in den Canale Orfano hinabsteigen und mir deinen Odem einhauchen. Ich werde dir sagen, wann es so weit ist.«
Einige der Pilger schauten irritiert zu Ursul hinüber.
Und sie hatte inzwischen das Gefühl, schon fast genau so meschugge zu sein wie Leone dies von seinem Bruder immer behauptet hatte.
Ein Bruder, der nun zu den Morgenlandfahrern gehörte.
Und vermutlich nie wieder in diese Stadt zurückkehren würde.