Es mussten Uhren gewesen sein, die sie gehört hatte.
Uhren, die tickten, dachte Ursul, als sie einige Tage später wieder zu Elias’ Wohnung hinaufstieg und die Tür offen fand.
»Komm herein«, rief eine Stimme von innen, »ich kann im Augenblick nicht weg. Es ist die erste Tür rechts.«
Sie ging hinein, schloss die Tür hinter sich und betrat dann den Raum, in den Elias sie gerufen hatte.
»Du könntest das hier halten«, forderte er sie dann auf und nahm eine gekrümmte Nadel aus dem Mund, »ich habe sie erst vor Kurzem bekommen. Die Uhr natürlich«, erklärte er dann, als Ursul ihn verblüfft betrachtete, offenbar nicht sicher, was gemeint war. Aber vermutlich sollte die Uhr genauso wie die übrigen, die lautstark vor sich hin tickten oder einen Glockenschlag hören ließen, an der Wand ihren Platz finden.
»Sie hat einen ziemlichen Seltenheitswert«, erklärte Elias und trat blinzelnd einen Schritt zurück, um seine neueste Errungenschaft ganz ins Auge fassen zu können. »Gefällt sie dir?«
Ursul betrachtete die Uhr, die in eine Landschaft eingebaut war, deren Hintergrund sich an einer Stelle öffnete. Die eigentliche Zeitanzeige hing über Bergen, als sei sie anstelle des Mondes hier nun für jedermann sichtbar und ablesbar.
»Hast du je so etwas gesehen?«, wollte er dann wissen und stellte Ursuls Korb, den sie am Arm hielt, auf einen Stuhl.
Sie schüttelte den Kopf, schaute sich dann um. Überall auf Isaccos einfachen Regalen aus Backsteinen und Holzplatten standen nun kostbare Uhren. Oder hingen darüber an der Wand oder an der Decke.
»Ihr seid Uhrmacher?«, wollte sie wissen.
Elias lachte. »Unter anderem. Ich sammle sie, flicke sie zusammen, wenn man ihnen Unrecht getan hat. Ab und zu verkaufe ich auch eine. Aber nur dann, wenn ich das Gefühl habe, dass der oder die Betreffende auch zu dieser oder jener Uhr passt und sie zu schätzen weiß.«
»Und wie wollt Ihr das feststellen?«
Elias betrachtete sie prüfend. »Dir zum Beispiel würde ich nie eine solche Bilderuhr schenken oder verkaufen. Sehr wohl aber eine kleine Dosenuhr, die du stets bei dir tragen kannst. Oder eine Formuhr, die wie ein Buch aussieht und von euch aus Nürnberg stammt. Oder eine mit einem emaillierten Gehäuse, mit biblischen Bildern. Na ja, man braucht Zeit, bis man etwas findet, was man sucht. Und Uhrmacher? Ob ich Uhrmacher bin? Ja schon, vielleicht könnte man es so bezeichnen. Zumindest unter anderem.«
»Haben diese Uhren alle Namen?«, wollte Ursul wissen und wies mit der Hand durch den Raum.
»Natürlich haben sie alle Namen, aber es bringt vermutlich wenig, wenn ich sie dir alle aufzähle.«
»Könnt Ihr es trotzdem tun?«, bat Ursul.
»Nun denn – das hier ist eine Dosenuhr, das waren die früheren Tischuhren, das hier eine Laternuhr aus England mit einem Messinggehäuse, dann eine Kutschenuhr mit einem Schlag- und Repetierwerk, das äußerste Gehäuse ist aus Silber und mit Fischhaut überzogen, eine Poststationenuhr aus England, meist ohne Schlagwerk, dann eine Windmühlenuhr mit einer Einfassung aus Glasperlen. Noch weitere Namen?«
Ursul lachte. »Ich fürchte, dass es Euch langweilig wird. Aber für mich ist es eine exotische Welt, so etwas gibt es bei uns zu Hause nicht. Weder in Nürnberg, noch hier in Venedig.«
»Nun, dann will ich dir das nächste Exotische in dieser Wohnung vorführen«, sagte Elias und schob Ursul mit einer raschen Bewegung in den angrenzenden Raum, in dem früher Leones Schlafbank gestanden hatte. Er drehte ihr Gesicht zu einem Tisch, auf dem ein zerlegtes Teleskop lag.
»Das war eigentlich der Beruf, den ich als Kind immer erlernen wollte. Aber Juden durften ja keinesfalls immer die Berufe lernen, die ihnen gefielen. Und irgendwann wurde mir auch klar, dass es langweilig war, ein Leben lang den gleichen Beruf zu haben. Also legte ich mir noch andere zu. Sehr unterschiedliche Berufe.«
»Wie alt wart Ihr damals? Bei Eurem ersten Berufswunsch?«
»Dem des Astronomen? Ich glaube, kaum mehr als fünf oder sechs. Damals lebte ich noch nicht hier. Meine Vorfahren kamen aus Polen.«
»Und wie alt beim nächsten?«
Elias ging zu einer der Uhren, die auf einem stabilen Tisch stand und die übrigen ziemlich an Größe übertraf.
»Das ist eine Ring-Sonnenuhr«, sagte er dann und bewegte behutsam das Innere der Uhr. »Mit ihr kann man an jeder Stelle der Erde die Zeit messen.« Er nahm ein Werkzeug vom Tisch und begann an der Uhr ein winziges Teil festzuschrauben. »Und wie alt ich beim nächsten Berufswunsch war –«, er lachte und setzte sich auf einen Stuhl. »Dazu müsste ich dir mein ganzes Leben erzählen. Interessiert dich das? Es braucht Zeit.«
Ursul ging zu ihrem Korb und nahm ein Tuch heraus, aus dem sie einen Kuchen auswickelte. »Ich könnte dazu einen Tee bereiten, falls Ihr das mögt.«
»Aha, also ein richtiges Puntamento?«
»Das Ihr nicht mögt?«
»Nicht unbedingt«, sagte er rasch. »Teetrinken stört beim Denken. Aber du darfst den Kuchen dalassen, dann kann ich ihn heute Abend zum Nachtmahl essen.«
Sie lachte und legte den Kuchen auf einen Teller, den sie von einem Regal an der Wand nahm.
»Heute bin ich wohl toskanischer Staatsbürger«, sagte er dann übergangslos, sodass Ursul den Eindruck gewann, dass dieses abrupte Reden und Überspringen wohl eine Familieneigenschaft der Levis sein musste. »Aber das war ich natürlich nicht immer.«
Elias unterbrach sich, betrachtete kritisch die vor ihm stehende Sonnenuhr und stellte sie in einen anderen Winkel, der ihm ganz offensichtlich besser gefiel. »Weißt du, ein Leben besteht nicht nur aus Höhepunkten, es besteht vor allem aus Zwischenstücken. Man geht ein Stück, bleibt ohne Grund irgendwo einen Augenblick stehen und schon kommt irgendetwas auf einen zu, meist unerwartet. Es macht einen Knick, und schon befindet man sich in einer völlig anderen Richtung.
Was mich betrifft, so habe ich vieles gemacht: mich mit der Korallenverarbeitung in Livorno beschäftigt, die in dieser Stadt besonders gefördert wurde, Seife hergestellt, mich in die verschiedenen Papiersorten eingearbeitet, das Papier selber geschöpft, was große Freude macht. Nur der Tabakhandel in Livorno hat mich nicht interessiert. Aber Uhren immer. Inzwischen habe eine ziemlich beachtliche Sammlung zusammengetragen – wenigstens behaupten das einige Leute.« Er hielt wieder inne, lächelte vor sich hin. »Meinem Vater hätte es nicht gefallen, er wäre mit diesem chaotischen Lebensweg gewiss nicht einverstanden gewesen. Der Sohn eines Rabbiners, der sich mit Korallen beschäftigt, Schmuckstücke herstellt – nun ja.«
»Die Uhren stört ihn auch?«
»Das weiß ich nicht, da lebte er bereits nicht mehr, als ich damit anfing. Nein, ich glaube nicht, dass ihn Uhren gestört hätten. Das war so etwas, was man verlängern konnte ins Unendliche, wenn man sich Mühe gab. Und er war ein Mensch, dem das Unendliche viel bedeutete. Da lagen wir beide auf einer Linie. Kommt mit«, sagte er dann und schob Ursul aus dem Raum auf den Flur hinaus. Er öffnete eine andere Tür dieser Wohnung – in der nur Leone und Isacco gelebt hatten, die Eltern hatten ein Stockwerk tiefer gewohnt.
Der Raum, in dem einst Leones Schlafbank gestanden hatte, konnte ganz gewiss nicht mehr als Schlafraum bezeichnet werden: er stand nun voll mit Teleskopen, von denen einige in das Fenster eingepasst waren. Ein anderes stand auf der Schlafbank, an die ein kleines Treppchen angebaut war. Elias betrachtete neugierig Ursuls Gesicht.
»Teleskope«, rief sie verblüfft, »lauter Teleskope.«
»Natürlich nicht so viele wie Uhren«, wehrte er ab. »Nur ein paar, die ich ebenfalls im Laufe der Zeit gesammelt habe. Solche, die zusammenpassen.«
»Und hier oben schlaft Ihr auch«, wollte Ursul wissen und schaute auf eine schmale Bank, die nun in ein Gerüst eingebaut war, das zur Stütze für das größte Teleskop umfunktioniert und in einer der hinteren Ecken unter einem mehr als schiefen Dach stand.
»Na ja, direkt unter dem Himmel«, erwiderte er achselzuckend. »Im Winter ist es natürlich kalt. Aber das stört einen Astronomen nicht, wenn er den Sternenhimmel betrachtet.«
»Darf ich einmal hindurchschauen?«, wollte Ursul wissen und stieg die winzige Treppenstufe hinauf, auf die ein bequemer Sitz montiert war.
Elias lachte. »Bei Tag bringt es natürlich nicht viel, du musst einmal kommen, wenn es Nacht ist.«
»Was sucht Ihr dann, wenn es Nacht ist?«
Er lachte. »Natürlich Planeten. Hier sind die Sternkarten dazu.« Er reichte ihr einige Papiere, die auf einem Stehpult lagen. »Damit hat schon Kopernikus gearbeitet. Und von dem Halleyschen Kometen hast du gewiss schon gehört«, fragte er dann und nahm irgendwelche Zettel vom Tisch.
Ursul nickte halbherzig, schüttelte dann den Kopf. »Ja, natürlich, gehört schon, aber allzu groß ist mein Wissen darüber nicht. Ich weiß nicht einmal, weshalb er eigentlich so heißt.«
»Natürlich nach dem Astronomen Halley, der bis 1742 lebte und herausgefunden hatte, dass dieser Komet in ganz bestimmten Abständen wiederkommt, das nächste Mal in ungefähr sechsundsiebzigeinhalb Jahren. Und dass man ihn bis vor Christi Geburt zurückverfolgen kann. Zuletzt ist er im März 1759 erschienen, jetzt soll er wieder im November 1835 kommen und danach 1910, 1986, 2061. Er ist mit dem bloßen Auge sichtbar, also ohne Teleskop.«
Elias stieg von dem kleinen Trittchen herunter, schob das Rohr in dem Fenster dann in eine andere Position. »Es kommt kalt herein«, stellte sie fest und beobachtete Elias.
»Ich habe aus dem Fenster ein Stück herausschneiden müssen und bis jetzt hat sich noch niemand beschwert; für die Dinge, die man liebt, muss man auch Opfer bringen können«, sagte er dann.
»Was fasziniert Euch an dieser Sache so sehr?«, wollte Ursul wissen.
Er dachte nach, stieg dann wieder auf das Leiterchen hinauf und schaute durch das Rohr. »Dass man lernt, keine Angst zu haben.«
Sie schaute ihn verblüfft an. »Angst?«
»Nun ja. Man glaubt doch immer – vor allem wenn man sieht, wie unruhig und unsicher diese Welt doch ist hier unten bei uns – Franzosen, Österreicher, und wer dann kommt, ist ungewiss –, man glaubt doch, dass diese Erde, der Mond, die Gestirne, all das, was da oben am Himmel ist, dass dies alles ganz sicher ist. Aber das ist es natürlich überhaupt nicht. Kannst du dir zum Beispiel vorstellen, dass sich der Mond von der Erde entfernt? Zwar nur ein paar Zentimeter im Jahr, aber er tut es nun mal. Oder dass die Erdachse schwankt und keinesfalls feststeht? Natürlich sind das alles nur Vermutungen bisher, vielleicht ja auch nur Hirngespinste, aber ich glaube daran. Diesen Mond hatte ich mir als Kind eigentlich immer stabil vorgestellt. Und dass er es nun nicht sein soll, das lässt einen doch Angst bekommen, oder etwa nicht?«
Als sie später wieder in das Uhrenzimmer gegangen waren, nun doch etwas tranken, schüttelte Elias verlegen die Schultern. »Ich hoffe nicht, dass du nun nicht mehr kommst, weil ich dir nur immer solche Dinge erzähle, die wenig erheiternd sind.«
Ursul lachte. »Mein Onkel oder der Faktor erzählen mir auch Dinge, die wenig erheiternd sind. Wenn Schiffe, an denen sie beteiligt sind, nicht zurückkehren und die Ladung verloren geht, dann ist das eben auch nicht gerade heiter. Oder wenn die Währung rutscht und Dukaten plötzlich eben von einem Augenblick zum anderen nur noch die Hälfte wert sind.«
Er nahm ihren Kuchen vom Teller, roch daran. »Beim nächsten Mal erzähle ich dir Dinge, die weniger Angst einflößend sind«, versprach er und zog den Duft des Kuchens ein. »So etwas hat meine Mutter immer gebacken«, sagte er dann lächelnd und küsste Ursul behutsam auf die Stirn, als sie aufstand.
»Habt Ihr eigentlich auch noch eine normale Schlafbank, ich meine, ohne den Himmel über Euch?«
Er kratzte sich am Kinn, schüttelte dann lächelnd den Kopf.
»Das schon, aber bisher hatte ich noch keine Zeit, alles einzurichten. Wenn ich damit fertig bin, sage ich es dir. Vielleicht bei deinem nächsten Besuch.«