Kapitel 4
Chamsin

»Hat Isacco dir eigentlich je vom Chamsin erzählt?«, wollte Elias eines Tages wissen, als Ursul ihn wieder einmal besuchte.

Sie war inzwischen zu einer regelmäßigen Besucherin geworden. Wenn sie das Gefühl hatte, dass sie jemanden brauchte, mit dem sie Gespräche führen konnte, die über das hinausgingen, was sie die alltäglichen Banalitäten nannte, so stieg sie die Stufen zu Elias Uhrenzimmer hinauf. Sie setzte sich inmitten der tickenden Uhren auf den Boden und hörte zu. Ohne zu reden.

Manchmal setzte sich Elias neben sie. Oder sie kauerte zu seinen Füßen, legte den Kopf an seine Beine und schloss die Augen. Bisweilen holte er auch eine der alten Spieluhren hervor und zog sie auf. Das Lied, das sie spielte, war nicht mehr lupenrein, schepperte bei einigen Tönen, aber es störte sie beide nicht. »Ich habe sie einem Gaukler abgekauft, der durch die Lande zog.« Er lachte. »Einem Nichtjuden. Nicht, dass du irgendwann der Meinung bist, es müsste alles zu mir passen. Ich ordne die Welt nicht so, hier die einen, dort die anderen.« Er stand auf, zog die schweren Gewichte einer Standuhr nach oben, stellte die Zeiger richtig. »Manchmal habe ich das Gefühl, als hätte diese Serenissima, so wie sie sich zurzeit darstellt, mit einem Male sämtliche Uhren zum Stillstand gebracht. Und es wäre an mir, wenigstens eine einzige wieder zum Laufen und zum Schlagen zu bringen.«

»Chamsin«, überlegte Ursul, schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Es gab so vieles, wovon er mir erzählen wollte, aber dann kam es nicht dazu. Die Nabatäer zum Beispiel kamen nie zum Zuge, obwohl sie schon einige Male angetippt worden waren.«

Elias nickte. »Weißt du, es war schon fast grotesk, wie Isacco in früherer Zeit die Menschen einteilte. Kaum hatte er jemanden kennengelernt, fragte er ihn nach dem Chamsin. Kannte ihn der Betreffende, dann war das so, wie wenn sie sich bereits jahrelang gekannt hätten. Kannte er ihn nicht, schien es, als sei sein Interesse an diesem Menschen erloschen, bevor er auch nur die geringste Gelegenheit gehabt hatte, irgendetwas von sich zu erzählen. Und was immer er auch erzählen wollte, es interessierte Isacco nicht. ›Wie kann man denn leben, ohne je von diesem Chamsin gehört zu haben‹, pflegte er dann verächtlich zu sagen.«

»Habt Ihr ihn erlebt?«

Elias lachte, holte aus der Küche einen Krug mit Wein und goss damit zwei Becher voll.

»Natürlich. Das ist etwas, was nie jemand vergessen wird, der ihn je erlebt hat. Man hat das Gefühl, dass man gelebt hat. Auch wenn man mit braunem Staub überzogen ist, das Bett sich auch durch Ausschütteln nicht mehr säubern lässt …«

»Ihr wart also dort?«, fragte sie zögernd. »In der Wüste, wo es ihn gab?«

Elias schaute sie irritiert an. »Natürlich war ich dort«, sagte er dann, nahezu verärgert, »was glaubst du, woher Isacco diese Begeisterung, ja diese Besessenheit für die Wüste, für diese Nabatäer denn haben sollte?«

»Es klang nie so, als habe er es von irgendjemand gehört, es schien mir immer so, als sei er dort gewesen«, meinte Ursul.

»Das ist er auch. Mit mir. Sein gesamtes Wissen darüber stammte von mir. Wir haben zusammen gegraben in der Wüste.«

»Es hörte sich so an, als sei dieses Land ihm keinesfalls entgegengekommen, deswegen habe er es wieder verlassen. Enttäuscht.«

»Ach was«, ereiferte sich Elias, »das war doch viel früher, nicht erst jetzt. Das war damals, als er noch ein Junge war. Jetzt ist er mit völlig falschen Erwartungen hierhergekommen, er hat auf Dinge gehofft, die er nun mal nicht haben kann. Jetzt. Der unmäßigste meiner beiden Enkel war selten zufrieden mit dem, was er irgendwo vorfand. Er hatte sich ein Bild gemacht von einer Sache, und wenn sie dann nicht so war, wie erwartet, schmiss er sie hin. Aber gegraben hat er mit mir. Damals schon. Zu Beginn ohne allzu großen Erfolg, aber es waren immerhin einige Bruchstücke, die wir in Shifta finden konnten. Und wer bescheiden ist, freut sich auch an den Quellen von Kadesh, weil sie nun mal etwas ganz Besonderes sind.«

»Aber was konntet Ihr denn wirklich entdecken, ich meine, jenseits der Scherben? Was habt Ihr erfahren über diese Nabatäer, die ja ganz offensichtlich die Wüste grün gemacht hatten in früheren Zeiten? Welche Karawanenwege haben sie benutzt?«

»Sie benutzten geheime Wege. Du hast ja von Isacco dieses Tagebuch bekommen über den Weihrauchhandel. Er hatte es von mir. Es war mir angeboten worden von einem Händler, der wusste, dass ich mich für alles interessierte, was es aus diesem Land zu erfahren gab.«

Ursul schüttelte nahezu fassungslos den Kopf. »Da gibt es dann also eine Spur, die von Nürnberg über … über die Weihrauchstraße zu den Nabatäern führt?«

»Selbstverständlich gibt es die. Alles berührt sich, weißt du das nicht? Alles, was irgendwie zusammengehört, kommt zusammen, eines Tages. Zufälle oder Bestimmung? Oder Schicksal? Es gibt Hunderte von Namen dafür, aber was sind schon Namen? Dass mir diese »Kürbisgärten« eines Tages von einem Händler angeboten wurden, der wusste, dass ich über meinen Sohn und seine Frau Beziehungen zu Venedig hatte, war so einer. Dass Isacco all die Dinge, die er jetzt nicht mitnehmen wollte, in seinem Korb zurückließ und Leone sie fand, bevor er zu seiner Reise nach Nürnberg aufbrach?« Er machte eine Pause, stieß den Zeiger einer Uhr an, der hängen geblieben war.

»Und ich bin ganz sicher, dass Isacco von diesen Nabatäern erzählen wollte. Aber sein Schiff fuhr früher als ursprünglich angenommen. Ich war zu jener Zeit in Livorno. Und er wusste nicht, dass wir uns eines Tages treffen würden. In diesem Haus. Seine Eltern hatten nichts weiter im Sinn, als ihren Abfall hier einzulagern. Und als sie nun in die neue Wohnung in der Stadt zogen, war ohnehin alles nicht mehr gut genug für meine Schwiegertochter. Von den Betten bis zum Geschirr. Von den Kristallleuchtern, die nun alle aus Murano stammen mussten, gar nicht erst zu reden.«

»Aber mich würden diese Nabatäer schon noch interessieren«, warf Ursul ein, da es ihr schien, Elias habe inzwischen vergessen, dass sie eben aus diesem Grund heute gekommen war.

»Wer den Chamsin nicht erlebt hat, hat nicht gelebt«, war der Satz, der in ihr haften blieb, als sie an diesem Tag wieder in ihre Wohnung zurückkehrte. Wobei sie inzwischen das Gefühl hatte, dass diese Wohnung kaum mehr als eine wenig sinnvolle Bleibe war – es gab weder Uhren noch Teleskope noch Sternkarten in ihr und Spieluhren schon gleich gar nicht. An manchen Tagen, wenn der Onkel irgendetwas mit ihr zu besprechen hatte, glaubte sie zuzuhören, aber dann merkte sie, dass sie nicht einmal ein einziges Wort von dem behalten hatte, was er ihr gesagt hatte.

»Also, ich kann auf dich zählen«, sagte er einmal mit leichter Unruhe, wohl auch Sorge, als er ihr von etwas erzählt hatte, was für ihn wichtig war. »Ich will mit dir eine Fahrt machen, den ganzen Canal Grande entlang, weil ich der Meinung bin, dass es nicht gut ist, wenn du weiterhin in diesem Ghetto lebst, das keines mehr ist. Und außerdem will ich dir vom Boot aus das Haus zeigen, in dem ich eigentlich gern unsere Niederlassung aufmachen würde.«

»Ghetto?« Sie horchte für einen winzigen Augenblick auf. »Was meinst du damit?«

»Das ist doch völlig gleich, wie es jetzt heißt«, sagte der Onkel verärgert. »Es geht darum, dass ich für uns eine gemeinsame Wohnung suchen möchte. Es gefällt mir nicht, wenn dein Kopf inzwischen vollgestopft ist mit Uhren, Teleskopen und Sandsäckchen, die man unter den Kopf bekommt, wenn man über den Jordan geht. Mit uns hat das doch nichts zu tun.«

»Nein, natürlich nicht«, gab sie bereitwillig zu. »Mit uns haben nur Zins und Zinseszins und irgendwelche Zahlen zu tun, die für das Geldwechseln wichtig sind. Das weiß ich schon.«

Der Onkel seufzte. »Du bist verändert, seit wir aus Nürnberg zurück sind, bist du dir darüber eigentlich im Klaren?«

Sie schaute ihn an, als käme sie von einer langen Reise zurück und habe inzwischen vergessen, wo das Land war, in dem sie bisher wohnte.

»Vielleicht«, sagte sie vage, »vielleicht.«

Der Onkel verzog das Gesicht und verließ den Raum.

»Ich meine das nicht so«, rief sie ihm schuldbewusst nach, aber es war ihr klar, dass sie selbst nicht recht wusste, auf was sie sich denn eigentlich bezog. Ganz gewiss nicht auf jene Fahrt über den Canal Grande, die der Onkel ihretwegen bereits so lange verschoben hatte. Und die in der nächsten Zeit nun wohl endlich stattfinden sollte.