Kapitel 10
Acqua Alta

Der Regen hatte bereits tagelang gedauert, und so kam das Hochwasser nicht unerwartet. Es hatte genug Vorzeichen gegeben, dass das Wasser in der Lagune in kürzester Zeit wieder ansteigen würde. Und die Stadt abermals in die Situation bringen würde, dass man die niedrigsten Stellen und Plätze nur noch über Holzstege und mit hohen Stiefeln begehen konnte. Chiara hatte es nie geschafft, sich die am niedrigsten gelegenen Stellen der Stadt zu merken, die als Erste überschwemmt sein würden.

Sie war mit einem Fischer, der das größte Boot auf der Insel besaß, zur Stadt gefahren, um mit dem Drucker noch etwas zu besprechen. Am Abend hatte sie wieder zurückfahren wollen. Aber der Abend sah anders aus, als sie es sich vorgestellt hatte: Niemand wagte mehr den Weg über die aufgetürmte See. Die Warnsignale der schrillen Schiffsglocken waren kaum mehr zu überhören und die Gondeln hatten ihren Verkehr eingestellt. Es blieb ihr also nichts übrig, als die Nacht in der Stadt zu verbringen. Sie konnte auch nach langem Überlegen zu keiner Entscheidung kommen, wo sie anklopfen sollte, und lief eine Weile ziellos umher. Schließlich stellte sie fest, dass sie sich auf dem Weg zum Palazzo befand.

Aber als sie die enge Calle zum Haupteingang entlanglief, sah sie gerade noch, wie Fulco eilig den Schlüssel ins Schloss steckte, um abzuschließen.

»Ich wollte Euch eigentlich fragen, ob ich hier übernachten kann«, sagte sie, als sie vor der Tür stand, »vielleicht gibt es bei diesem Regen noch einen Platz für mich, auch wenn ich keinen Schlüssel mehr besitze. Ich kann gewiss nicht mehr zu meiner Insel zurück. Die See ist zu stürmisch.«

»Herzlich gern, Eure Kammer ist vermutlich unberührt, da die Putzfrau nun doch mit ihrem Mann nach Frankreich ziehen wird und bisher niemand neu eingestellt wurde.«

»Und wo wollt Ihr hin bei diesem Wetter?«, fragte Chiara beunruhigt, da der Regen und der Sturm inzwischen noch zugenommen hatten, »das Wasser ist schon fast überall. Auf San Marco könnt Ihr schon fast schwimmen.«

Fulco zog sich eine Kapuze über den Kopf. »Nach Ursul schauen«, sagte er dann hastig, »sie ist noch unterwegs.«

»Aber doch ganz gewiss nicht mehr bei diesem Wetter?«

»Ihr kennt sie nicht«, sagte Fulco. »Wenn sie sich etwas vorgenommen hat, führt sie es auch aus. Und sie hatte sich einiges vorgenommen.«

»Und wozu ist sie unterwegs, das verrückte Kind?«

Fulco hielt für einen Augenblick inne und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Sie will endlich diese dritte Frau finden.«

»Sie will was?«, fragte Chiara mehr als verblüfft.

»Die dritte Frau finden, die auf jenem Bild, das sie von Leone aus dem Ghetto hatte. Da gibt es ein Bild, auf dem drei Frauen zu sehen sind, eine ist diese Lea Coen, eine ist diese Margarete aus Ursuls Familie, deren Schicksal sie aufgeklärt hat. Und nun will sie wissen, wer die dritte ist.«

»Und wo und wie will sie das erfahren?«

»Im Arsenal«, erwiderte Fulco erregt, »nur damit Ihr wisst, wie verrückt sie ist.«

»Im Arsenal«, flüsterte Chiara fassungslos, »da findet sie vermutlich immer noch französische Berserker und außer einer weitgehend versenkten Flotte gar nichts mehr.«

»Die Franzosen sind vermutlich alle abgezogen, aber es ist immer noch nicht sicher dort«, sagte Fulco beunruhigt. »Sie will einen der früheren Schiffsbauer finden, die noch Bescheid wissen. Über das Damals.«

Chiara warf die Hände über dem Kopf zusammen. »Welches Damals? Und weshalb will sie das überhaupt wissen?«

»Sie sagt, sie habe schon als Kind gerne Rätsel gelöst«, rief Fulco und hastete zur Tür hinaus. »Ich habe Euch übrigens etwas ins Regal gelegt, was Euch gewiss interessieren wird. Und in der Küche liegt ein Zettel: Sebastiano gehört Euch für diesen Nachmittag, seine Mutter muss packen; aber Ursul hat ihn vermutlich mitgenommen ins Arsenal.« Dann schluckten ihn der Nebel und der Regen.

Chiara betrat das Haus, schüttelte ihre nassen Kleider aus und überlegte, was sie tun sollte.

Ob es Ursul gelingen würde, einen Schiffsbaumeister zu finden, um etwas über eine Frau herauszufinden, mit der sie weiß Gott überhaupt nichts zu tun hatte, war mehr als fraglich. Sie fand ihre Kammer so, wie sie sie verlassen hatte, mit gemachtem Bett, aber nicht frisch bezogen. So, als habe irgendwer gewusst, dass sie nicht endgültig gegangen war. Selbst der Blumenstrauß stand noch auf dem Tisch, die Blütenblätter der Rosen lagen verwelkt auf der Tischplatte.

Sie machte ihren üblichen Gang, salotto, Bibliothek, Kaminzimmer, stand vor den Dogenbildern, schaute dann zum Fenster hinaus: Es war alles grau, kaum war die gegenüberliegende Seite des Kanals zu erahnen. Und es regnete noch immer in Strömen. Sie stieg seufzend die Treppen wieder hinunter und nahm ihre alten Stiefel aus der Waschküche. Sie konnte Fulco nicht allein suchen lassen.

Der Regen peitschte ihr entgegen, die Straßen waren inzwischen nahezu leer. Ein paar Mutige in hohen Stiefeln und Regenkleidung stapften noch auf dem Markusplatz herum, über den inzwischen Stege gelegt waren. Die Nebenstraßen musste man ohne Hilfsmöglichkeiten passieren.

Als sie das Castelloviertel erreicht hatte, spürte sie, dass sich in einem ihrer Stiefel bereits Wasser angesammelt hatte und jeder Schritt mit einem leisen Quietschen begleitet wurde.

Der Eingangsbereich des Arsenals war ebenfalls menschenleer: Die beiden steinernen Löwen links und rechts des Eingangs hüteten die Hallen, in denen es nichts mehr zu hüten galt. Der Wächter, der normalerweise hier stand, war vermutlich vor der acqua alta geflohen.

Von Fulco oder Ursul keine Spur.

Sie schaute von Weitem in die Hallen, die alle leer schienen, ging wieder zurück – dann sah sie eine kleine, verlorene Gestalt. Sebastiano hockte unter einer Laterne, die Hände über den Kopf gelegt, und schaute mit starrem Blick auf die Reste des Bucintoro, die man lieblos nahe seines ursprünglichen Platzes hingeworfen hatte. Es war nichts übrig geblieben als ein halber Rumpf mit nach oben ragenden Stangen, die wohl einst das Verdeck des prachtvollen Schiffes getragen hatten.

»Warum nur haben sie das gemacht?«, murmelte er, als Chiara auf ihn zukam.

Chiara hockte sich zu ihm nieder, schlang die Arme um seine Schultern. »Wie bist du überhaupt hierhergekommen? Du musst jetzt mit nach Hause kommen«, sagte sie dann entschieden und wischte ihm die Tränen vom Gesicht, »es nützt nichts, wenn du hier im Regen sitzt und trauerst.«

»Abschied nehmen muss man schon«, wehrte sich Sebastiano und schob Chiaras Hand zur Seite, »ich sehe ihn doch nie mehr wieder. Ursul hat mich mitgenommen. Damit ich mich verabschieden kann.«

»Vielleicht wird er irgendwann wieder aufgebaut«, sagte Chiara, wenn auch zweifelnd.

Der Junge ließ sich hochziehen, deutete dann mit dem Kopf zu den Hallen, die nicht alle ganz zerstört waren. Der ingresso di terra, der Zugang vom Land, war zum Teil erhalten, der ingresso all’acqua, der direkte Zugang zur See, war hingegen weitgehend niedergerissen.

»Das war die größte Werft auf der ganzen Welt. Früher«, sagte Sebastiano.

»Ich weiß«, sagte Chiara. »Aber man darf nie den Glauben an eine Sache aufgeben. Vielleicht wird sie wirklich wieder aufgebaut.«

Sebastiano zuckte mit den Schultern. »Ursul hat auch nicht aufgegeben, aber trotzdem nichts gefunden.«

»Weißt du, wo sie ist?«

»Nein«, erwiderte Sebastiano mutlos. »Keiner von uns findet, was er sucht. Fulco auch nicht.«

»Nun, er sucht Ursul«, sagte Chiara, »aber sie wird auch allein nach Hause kommen.«

»Aber sie ist genauso nass wie ich«, sagte Sebastiano vorwurfsvoll, so, als sei Chiara an ihrer Situation schuld. »Und ihren Schiffsbaumeister hat sie natürlich nicht gefunden. Wie auch?«

Sie gingen ein Stück am Kai entlang, dann sahen sie plötzlich Fulco mit Ursul aus einer der kleinen calle treten. Fulco hatte seinen Regenschutz über Ursul gezogen, sodass ihre Schultern geschützt waren, aber Chiara bezweifelte, dass das noch irgendetwas nützte.

»Ihr habt niemanden gefunden?«, fragte Chiara bedauernd, als sie zusammentrafen.

»Sie hat eine Adresse von jemandem, aber dazu ist heute natürlich nicht mehr der richtige Tag«, erklärte Fulco und schüttelte sich.

Der Regen und der Sturm hatten inzwischen noch zugenommen, sodass sie an manchen Stellen befürchten mussten, in den Kanal geweht zu werden.

Sebastiano hatte zugelassen, dass Chiara seine Hand fest umschlossen hielt und ihm ihren Regenschutz über die Schultern legte, obwohl das natürlich nichts mehr half, da das Wasser inzwischen nahezu überall kniehoch war und bei jedem Schritt hochspritzte.

Als sie schließlich den Palazzo erreicht hatten, legten sie ihre gesamten nassen Kleider auf der Gondel ab. Fulco nahm Sebastiano mit in seine Kammer, und Ursul folgte Chiara, die noch einige alte Kleider in ihrem Schrank hatte. Als sie sich kurze Zeit später im Kaminzimmer wiedertrafen, hatte Fulco bereits ein Feuer gemacht und Wasser für Tee aufgestellt.

»Wie eine Familie«, murmelte Sebastiano und schaute glücklich in die Runde, »ich mag Familien. Glückliche Familien.«

»Du hast doch auch eine, eine Familie«, sagte Ursul entschieden.

»Nein«, erwiderte Sebastiano. »In einer Familie kommt eine Mutter und holt ihr Kind ab, wenn sie es versprochen hat«, murmelte er dann vor sich hin. »Aber sobald sie mit diesem Franzosen zusammen ist, hat sie keine Zeit mehr für mich.«

»Du kannst in meiner Kammer schlafen«, schlug Fulco vor.

Aber Sebastiano wollte nicht in Fulcos Kammer schlafen. Er wollte da schlafen, wo er immer sich gewünscht hatte zu schlafen: unter den Dogenbildern.

»Aber hier gibt es kein Bett. Du musst doch richtig schlafen können«, wandte Ursul ein.

Er brauche kein Bett, sagte Sebastiano rasch, er passe mit angezogenen Füßen in einen der großen Sessel.

»Wir nehmen zwei Sessel«, entschied Chiara und stieg die Treppen hinauf, um Decken zu holen.

»Weshalb willst du eigentlich unbedingt in diesem Raum schlafen?«, wollte Fulco wissen.

Sebastiano schüttelte den Kopf und schwieg. Als Chiara mit den Decken zurückkam, sagte er leise: »Sie sind eben immer da. Und manchmal spreche ich mit ihnen.« Chiara nahm Fulco am Arm, »er wird schlafen wollen«, sagte sie und strich Sebastiano mit einem Gute-Nacht-Gruß übers Haar.

Als Chiara den Jungen zudeckte, wurde ihr klar, dass sie nie in ihrem Leben ein Kind zugedeckt und ihm Gute Nacht gesagt hatte. Sie zog behutsam die Decken glatt, stopfte sie nochmals fest, sodass Sebastinao ganz gewiss nicht frieren konnte und er warm eingehüllt war.

Sie ließ den Wunsch zu, dass sie solche fürsorglichen Handgriffe eigentlich sehr gerne tun würde, in Zukunft – Kinder zu Bett bringen und auf ihnen Gute-Nacht-Küsse verteilen. Doch im Augenblick hatte sie nicht die Absicht, sich zu diesem Geschehen einen passenden Mann vorzustellen.

Es war angedacht, und das sollte für den Augenblick genügen.

Später, als sie bereits im Bett lag, dachte sie an Torcello. An ihre winzige Hütte und wie dort alles so anders war als hier. Sie überlegte, wo sich Matteo wohl in diesem Augenblick befand, und erinnerte sich an seinen Vorwurf, dass sie ihm das geheime Zimmer unterschlagen hatte. Und sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie nachprüfen musste, was aus dieser Kammer geworden war, seit sie das Haus verlassen hatte. Sie stieg aus dem Bett, warf eine Decke um die Schultern und stieg die Treppen hinauf. Dann stand sie vor der Tür ohne Türknopf. Sie nahm eine Haarnadel aus ihrer Frisur und schob sie in die Öffnung. Dann drückte sie die Tür auf.

Und zuckte zusammen.

Der Raum war leer.