RICCARDO – es ist Nacht.
Ich sitze im Kaminzimmer, schaue hinunter auf den Kanal, der einem riesigen Ameisenhaufen gleicht, auf dem jede der Ameisen in eine andere Richtung rennt. Dutzende von Booten, die den Kanal hinauf und hinab eilen. Ihre Lichter flackern über dem Wasser, berühren andere Lichter, die auf dem gleichen Weg sind – ein Weg, der ins Ungewisse führt, zumindest in den meisten Fällen.
Ich höre Glocken läuten, das Tuten der Signalhörner, die Rufe der Barkenführer. Ich kenne den Weg der Boote, wenn sie die Christen zur Isola San Francesco del Deserto und Mazorbo bringen, die Juden nach San Nicola auf dem Lido: damit selbst im Tod noch alles seine Ordnung hat.
Ich sehe die anderen Boote, die aus dem Nebel auftauchen, wieder im Nebel versinken – Boote, die in eine andere Richtung fahren: voll beladen mit Dienern und Mägden, Betten, Geschirr, Lebensmitteln. Boote, die zu den Villen der Brenta unterwegs sind, um ihre Herrschaft in Sicherheit zu bringen. In die vermeintliche Sicherheit. Die Stadt flieht.
Nur »Personen von Wert« darf der Arzt mit der spitzen Maske vor dem Gesicht, die mit Kräutern gefüllt ist, noch behandeln. Die anderen sind auf die Arsenalarbeiter angewiesen, die bisweilen nicht einmal mehr mit zehnfachem Lohn bereit sind, Lasten wie diese mit ihren Booten zu den Inseln zu bringen.
Jacopo hat heute Morgen eine Kammer für sich gerichtet, er hat mir einen Beutel mit Dukaten überreicht und mir gezeigt, wie wir verfahren sollen, falls es ihn als ersten von uns dreien treffen sollte.
Aber natürlich weiß niemand, wer dieser Erste sein wird. Und wann der »Magistrato della Sanita« das weiße Holzkreuz an unsere Tür nageln oder eine andere Markierung anbringen wird.
Chiara schaute bestürzt hoch, ließ den Brief sinken. »Es ist die Pest, wisst Ihr das?«
»Lies weiter«, befahl Matteo sanft, »du wirst merken, weshalb du es lesen sollst.«
RICCARDO – Irgendwer hat mir einmal erzählt, wie traurig er darüber war, dass er den Menschen, die er liebte, nie das gesagt hat, was er eigentlich hätte sagen sollen: Sätze, die er ein Leben lang aufbewahrt, gehortet hatte, so lange, bis es eines Tages zu spät dafür war.
RICCARDO – ich möchte nicht zu jenen gehören, die auf ihren Sätzen sitzen bleiben. Ich möchte sie jetzt sagen. Auch wenn ich nicht weiß, wie und wo ich beginnen soll. Und ich nie den Mut hatte, sie aus mir herauszubrechen, sie vor dich hinzulegen. Aus Angst, dass ich dich bedrängen könnte mit meinen Gefühlen. Und ich auch nie ganz sicher war, welche Gefühle du für mich in dir trugst.
Nun, da diese Welt zu zerbrechen scheint und keiner weiß, wann er sie verlassen muss, möchte ich reden. Erzählen. So wie man eine Geschichte erzählt.
Ich möchte chronologisch erzählen, da ich weiß, dass du ein Mensch der Ordnung bist, das Chaotische nicht liebst so wie ich, die einfach alles aus sich herausfließen lässt und das Ordnen erst danach in Erwägung zieht.
Ich beginne also mit unserer Jugendzeit.
Mit deiner engen Kammer unter dem Dach, unserem Paradies bei Nacht. »Unser zweites Leben« wie wir es nannten. Der Ort, an dem du mir geholfen hast, den »Arrest des Spinnrads«, dem ich tagsüber unterworfen war, abzuwerfen. Du wischtest weg, was sie mir überstülpten, jeden Tag aufs Neue. All die Richelieus, die Festonstiche, die Langettenstiche, die Knopflochstiche, sticken, nähen, klöppeln – es verfloss in der Nacht, wurde ungültig. Meine Erziehung, die du in die Hand genommen hattest, sie begann hier, zu einer Zeit, die dazu gewiss nicht geeignet war: An dein Stehpult stelltest du mich, als ich noch kaum das Kinn über die Schreibplatte heben konnte und du mir ein Fußbänkchen unterstellen musstest.
DENN SIEHE, ICH WILL EINEN NEUEN HIMMEL UND EINE NEUE ERDE SCHAFFEN, DASS MAN DER VORIGEN NICHT MEHR GEDENKEN WIRD, NOCH ZU HERZEN NEHMEN.
Diesen Satz von Jesaja wollte ich dir immer sagen – ich tat es nie. Weil er mir zu großartig schien und ich mich scheute, solche gewaltigen Sätze in den Raum zu stellen.
Ich will auch nicht behaupten, dass es nur der Geist war, der mich an dir faszinierte, es war auch anderes. Wie du mich mit einem einzigen Finger berühren konntest, so behutsam, dass es schien, als wollest du lediglich einen Ton anschlagen, ihm mit geneigtem Kopf nachlauschen. Aber diesen einen Ton, diese Berührung, spürte ich durch jedes Gewand hindurch, er traf mich, blieb in mir haften, ruhen. Es war eine Melodie, die sich in mir formte, in mir weiterklang, zu einer endlosen Melodie wurde, die ich dir zu jeder Zeit hätte vorsingen können.
Aber ich tat es nie.
Ich höre drunten die Signalhörner, schriller als zuvor, der Nebel scheint dichter geworden zu sein. Und ich habe Schwierigkeiten, meinen Kopf zu durchforsten, nach all dem zu forschen, was ich sagen möchte. Nicht weil es zu wenig wäre – es ist zu viel und mir bereitet die Reihenfolge Mühe: Was ist wichtig, weniger wichtig, was muss entfallen. Warum habe ich Angst, es zu sagen.
Von jenem Kuss zum Beispiel kann ich noch nicht reden.
Also sollen es zunächst die kleinen Dinge sein, die haften geblieben sind.
Jene Tage in Nürnberg zum Beispiel, wo ich hinsollte, um Lukas Helmbrecht zu heiraten. Seine Familie, die Familie eines Safranbeschauers, die mich domestizieren wollte. Und mich zu diesem Zwecke die Safransorten auswendig lernen ließ, die ich mir nie merken konnte: zima duschkani, zima des bullia, zima des taquila. Als ich sie nach Tagen des Übens immer noch nicht konnte, hast du mich abgehört wie einst bei den Vokabeln. Grimmig, weil weder du noch ich wollten, dass ich in diese Nürnberger Safranfamilie einheiratete. Ich sagte also zima duschkani und dachte: »Bring mich weg, so rasch wie möglich. Lass uns im Galopp in die Serenissima zurückreiten.«
Ich sagte zima des taquila und dachte dahinter: »Lass uns in den giardino pensile gehen und den Rosenduft einatmen«. Meine Lippen formten zima des bullia, aber lautlos sagte ich den Satz dahinter: »Bring mich in dein Zimmer. Und lass es uns endlich tun.« Wobei ich kaum eine exakte Vorstellung davon hatte, was ich mir da wünschte.
Oder dann der Tag, an dem sie dich zu dieser Vorladung bei der Inquisition holen ließen, wegen den verbotenen Büchern, die du und deine Freunde in unsere Stadt geschmuggelt hatten. Ich saß in jenem kleinen Park in der Nähe des Arsenals und wartete auf dich.
RICCARDO, ich sehe mich warten, voller Ungeduld, und ich sehe mich nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschien, um die Ecke rennen in ein Geschäft und mir völlig verrückte Zoccoli kaufen, mit Bergkristallen und Opalen, nur damit ich beschäftigt war. Ich sehe mich zurückrennen, um dich nicht zu verpassen, ich traute mich nicht, die Schuhe anzuziehen, weil ich sie nicht anprobiert hatte und sie schon jetzt auf mich wirkten, als seien sie viel zu klein. Ich sehe dich, wie du die Calle herunterkommst, deren Namen ich nicht behalten habe. Ich streckte dir meine neuen Schuhe entgegen und sagte, schau mal, was ich mir gekauft habe, so, als ob es nichts Wichtigeres zu erzählen gäbe, als dir von diesen unpassenden Zoccoli zu berichten.
Du knietest nieder, zogst meine alten Schuhe aus und warfst sie unter die Bank. Du zogst mir die Zoccoli an, ebenfalls zweifelnd, weil du bereits jetzt sehen konntest, dass sie viel zu klein waren. Aber ich zwängte mutig meine Zehen hinein und dann gingen wir durch die Stadt, mit diesen schrecklichen Schuhen, die drückten und kniffen. Aber wir rannten durch die engen Calli, kauften uns an der Straße frittolle, verschmierten uns dabei mit Zucker.
Und als wir an einem Haus vorbeikamen, an einem sehr vornehmen Haus, stahl ich eine Rose, die hinter dem Tor blühte. Ich stahl sie für dich, ohne Schuldgefühle. Du nahmst sie, machtest einen Kratzfuß, stecktest deine Nase in die Blüte und schenktest die Rose dann einer alten Frau, die gerade vorbeikam.
»Wir brauchen sie nicht«, sagtest du lachend, »wir brauchen keinen Trost. Weder du noch ich.«
Über deinen Besuch bei den Inquisitoren sprachen wir nicht. Nicht zu diesem Zeitpunkt.
Erst als du am Abend weggingst, lächelnd und mit dem spöttischen Satz »Nicht auf die Galeeren, nur zu meinen Freunden. Geh schlafen«, war klar, dass ich natürlich nicht schlafen gehen konnte. Ich wartete. Bis spät nach Mitternacht. Saß draußen auf dem Altan, schaute auf den Kanal hinunter, wie heute.
Dann kamst du, und wir hörten die Nachtigall. Du fragtest mich, ob ich die Nachtigall höre. Ich sagte, dass ich die Nachtigall höre. Aber dass ich in diesem Jahr zuvor noch keine gehört hatte.
Und dann – völlig abrupt – hast du mir plötzlich von den Päpsten erzählt.
Und ihren Seelen. Ob sie überhaupt welche hätten. Und falls sie welche hätten, wie sie zulassen konnten, dass Menschen gefoltert, gequält, verbrannt wurden, auf Scheiterhaufen endeten, in Gefängnissen verhungerten, verdursteten. Vor allem jener schlimmste von allen, Kardinal Cesare Borgia, der Sohn des Papstes Alexanders VI., der seine Opfer in Stücke hacken ließ, erstechen, erdrosseln, dann in den Tiber kippen ließ, der Mann, der stets Gift bei sich trug, das cantarella, das weiße Arsen, mit dem er dann vermutlich selbst seinen Vater vergiftete.
Und während du das alles aus dir herauswürgtest, deine Pein, die du vermutlich bei jenem morgendlichen Verhör erlebt hattest – in der Ferne war immer noch die Nachtigall zu hören –, war in meinem Kopf etwas völlig anderes. Genau das Gegenstück zu dem, was du sagtest.
Ich hörte die Sätze, die die Freundinnen zu meiner Mutter sagen, wenn sie bei ihr zu Besuch waren, über dein pockennarbiges Gesicht redeten und dass dir meine Zuneigung überhaupt nur deswegen gewiss sei, weil keine andere Frau dich mit diesem Gesicht begehren würde.
RICCARDO, ich höre dein Lachen an diesem Vormittag, als wir durch die Stadt gingen. Und ich küsse diese Narben. Jede einzelne. Ich darf es tun, darf alles tun zu dieser Stunde, da es ohnehin nur auf dem Papier geschieht und ich nicht weiß, wie lange mir dieses Papier noch zur Verfügung stehen wird.
Und nun der Kuss.
Ich muss jetzt über ihn reden, weil er der einzig wirkliche ist, den ich je von dir bekommen habe.
Du erinnerst dich – es war an jenem Martedi grasso, dem Höhepunkt des Carnevale, und ich hatte in jener Nacht mit vielen Masken getanzt, Masken, bei denen ich natürlich nie wusste, wer dahintersteckte. Du trugst die bautta, wie hundert andere in diesen Tagen, ich ging – sinnigerweise – als Nonne. Ein Kostüm, das ich gewiss nicht ausfüllte, das du aber für mich besorgt hattest.
Und dann dieser Kuss um Mitternacht.
ALS DIE MASKEN FIELEN.
Ich gestehe, dass er mich bis heute irritiert. Es war kein zärtlicher Kuss. Kein Kuss von dieser Zärtlichkeit, mit der du mich normalerweise am Morgen begrüßtest, bevor wir mit unserer Arbeit am Stehpult begannen.
Dies hier war ein zorniger Kuss. Ein harter Kuss. Auf den Mund. Wohin du mich nie zuvor geküsst hattest. Und natürlich wusste ich, dass du mich bestrafen wolltest. Und dass ich diese Strafe verdient hatte. Aber ich hatte damals das Gefühl, dass dieser Kuss von einem Mann stammte, der eine Ewigkeit darauf gewartet hatte, eine Frau küssen zu dürfen. Eine Frau. Nicht eine Schwester.
Ich weiß noch, wie das Geläut der Glocken von San Marco durch die weit geöffneten Fenster in den Ballsaal hereindrang und wie du mich dann – ohne ein einziges Wort zu sagen – einfach stehen ließest. Inmitten der lachenden, fröhlichen Menschen, die nun um Mitternacht ihre Masken abnahmen.
Ich sah, wie du verschwandest.
Du bist einfach untergetaucht. Hast deine Maske auf den Boden geworfen, wo sie zertrampelt wurde.
Und ich sehe auch noch, wie ich anschließend mit dem Aschezeichen auf der Stirn voller Scham durch die Stadt lief, als sei ich für immer gezeichnet. Gebrandmarkt. Und wie mir dabei all die Sätze durch den Kopf gingen, all die versprochenen Liebesabenteuer in den Dampfbädern oder sonst wo, die ich all den Botschaftern oder Gesandten berichtet hatte, die niemand anders waren als du. In jeweils anderen Masken. Um mich zu entlarven.
Und wie ich mich dann nach der Frühmesse fragte, ob ich auch wirklich alles gebeichtet, nichts vergessen hatte. Mir überlegte, ob ich ein zweites Mal zur Beichte gehen sollte, oder gar ein drittes Mal, um sicher zu sein, dass auch alle meine Sünden bei jenem Priester geblieben waren, dem ich sie in seinem Beichtstuhl mitgeteilt hatte. Wie ich ihn bitten wollte, meine schmerzenden Lippen wieder zu unbenutzten Lippen werden zu lassen, mir tröstend übers Haar zu streichen und zu sagen, dass diese Lippen nun wieder rein seien.
Und wie ich dann durch diese beschmutzte Stadt ging, die voller Unrat in der Dämmerung erwachte, mit Hunderten von zerbeulten Masken, zerfetzten Kostümresten, abgerissenem Federkopfputz, dazwischen Essensreste, durch die sich die Katzen und Ratten hindurchwühlten. Wie ich mich von einem Gondoliere ziellos durch die Lagune fahren ließ, ohne zu wissen, ob ich nun nach Burano wollte, nach Murano oder Torcello.
Nach Hause wollte ich auf keinen Fall.
Ich fürchte, an diesem Morgen gab es keine Sätze, die zu horten gewesen waren. Ich war unfähig, mir irgendwelche auszudenken, die ich dir in aller Bußfertigkeit hätte zu Füßen legen konnte.
Ich war ausgebrannt.
Drunten fahren noch immer die Boote, ich höre ihre Signalhörner, die häufiger geworden sind. Der Nebel scheint dichter zu werden.
Ich sitze hier im Kaminzimmer, weiß dich dort oben in deiner Kammer, unserer Kammer. Ich bin nur durch eine Treppe von dir getrennt.
Aber es ist so, als gäbe es diese Trennung nicht, als sei ich bei dir. Ich bin dankbar für jede Sekunde, die wir haben. Ich erlebe sie deswegen so intensiv, weil ich weiß, dass es jederzeit die letzte sein könnte. Und es erfüllt mich mit Traurigkeit, dass ich nie wagen würde, dir zu sagen, dass ich diese Sekunden gern bis an den Rand ausleben würde: Ich stelle mir vor, wie ich dir Söhne und Töchter schenken würde.
Dort oben in jenem magischen Raum.
Wenn du es zulassen würdest. Wider alle Vernunft. Eine Vernunft, die nur unsere Vernunft ist, unsere christliche Vernunft. Nicht die der Ägypter oder anderer Völker, die uns nicht verdammen würden ob unserer Liebe. Und die ganz gewiss auch einen anderen Namen finden würden für dieses Zusammensein.
PS. Ich stecke diesen Brief wie immer an die Stelle in der Bibel, die unsere Stelle ist: Das Hohe Lied Salomons.
Chiara schob die Blätter des Briefes zusammen und versuchte in der Dunkelheit, Matteos Gesicht zu erkennen. »Es gehörte also alles zusammen«, sagte sie dann kopfschüttelnd: »Der Würfel, das Gedicht und die Kammer. Hättest du das gedacht?«
»Nein, sicher nicht«, erwiderte er, »aber wenn man den zweiten Brief liest, der mehr als 30 Jahre später geschrieben wurde, also, nachdem diese Frau geheiratet, Witwe geworden war und aus dem Orient in den Palazzo zurückgekehrt ist, ergibt natürlich plötzlich alles einen Sinn.«
RICCARDO – es sind inzwischen Jahrzehnte vergangen, seit sie damals jenes weiße Holzkreuz an unseren Palazzo genagelt haben. Seit wir miteinander in jener Höhle auf der Insel Lazzaretto Veccchio beieinander waren und ich dir in jener Nacht die Safransorten aufgezählt habe, im Schlaf, wie du mir später lächelnd gesagt hast: Auch dies wieder so, als haben die Safransorten für alles andere gestanden, was ich dir nicht sagen konnte. Noch immer nicht – verstehst du das? Gehortete Sätze, obwohl mir hätte klar sein müssen, dass die Zeit knapp werden könnte, um eines Tages all das zu sagen, was ich immer sagen wollte.
Dass ich nun Briefe an einen Toten schreibe, erzürnt meine Kinder, die neulich durch Zufall einen dieser Briefe entdeckten. Aber was wissen Kinder schon von den Gefühlen der Eltern. Woher sollten sie wissen, dass du nur kurz aus dem Zimmer gegangen bist, um Wein zu holen, da die Karaffe fast leer ist und dein Weinglas halb geleert. Deine Zigarre liegt halb geraucht auf dem Aschenbecher, auf dem Stehpult liegt ein aufgeschlagenes Buch, irgendeine Übersetzung, an der du gerade gearbeitet hast. Vielleicht den Horaz, weil ich den Epikur gewählt hatte, um mit dir über das Glück zu diskutieren. Aber du wolltest aus irgendeinem Grund den Horaz, ließest ihn mich übersetzen, auswendig lernen. Du weißt ja, dieses carpe diem hast du mir so eingetrichtert, dass ich es nie vergessen würde.
Und noch immer ist es so, als würdest du mir Aristoteles vorlesen und mit mir Latein üben oder Griechisch, als würdest du mit mir lange Diskurse über die Unendlichkeit des Himmels führen und in welchen Monaten man den Mars klar und deutlich sehen kann, die ganze Nacht hindurch. Als würden wir auf dem Altan sitzen, auf den Kanal hinunterschauen, uns flüsternd unterhalten, damit uns niemand hören konnte. Am Ende gar noch Bartolomeo, der plötzlich über uns hereinfallen und uns mit seinen lächerlichen Fragen und seiner Eifersucht zornig machen würde.
Und noch immer ist es so, als würden wir uns über die Schleichwege der verbotenen Bücher unterhalten, die ich meist unter irgendwelchen Wollknäuel verborgen zu euch in die Stadt schmuggelte; als würden wir uns ausdenken, wie wir unsere Falkenjagden geheim halten konnten, die unsere Eltern ihren Töchtern verboten hatten, oder wie wir uns über den derzeitigen cicisbeo unserer Mutter amüsierten. Den Liebhaber, dessen einziger Verdienst darin bestand, ihr zu sagen, wie wunderbar die Farbe ihrer Augen sei und die Blässe und die Glattheit ihrer Haut, für die sie überall bei ihren Freundinnen bewundert wurde.
Die Söhne, die ich dir schenken wollte, habe ich einem anderen geschenkt, Töchter habe ich drei geboren, eine hat überlebt. Sie ist soeben dabei, ins Weihrauchland zu ziehen, weil sie den Mann, den sie hier in Venedig haben wollte, nicht bekommen konnte.
Wenn ich an dein Grab denke auf dieser Insel, dieses Massengrab mit Hunderten von anderen, die hier gestorben sind, zwischen Schichten aus Kalk gebettet für alle Ewigkeit, dann weiß ich zugleich, dass du dort nicht bist.
Du bist bei mir.
Vergraben in mir. Und wenn ich ganz sicher bin, dass wir beide allein sind – ganz gleich, wo, im Palazzo oder auf dem Weg zum Rialto, um einzukaufen, in Torcello oder in Burano, dann nehme ich anschließend, wenn ich wieder zu Hause bin, meinen Federhalter, öffne das Tintenfässchen, das noch immer auf deinem Lesepult steht und dessen Tinte ich ständig erneuere. Und schreibe dir Briefe. Streue Sand darüber und wische ihn anschließend ab.
Dieses Lesepult, auf dem noch immer der Würfel liegt, den du damals zerschnitten hast, dieses Pult ist für mich noch immer ein Ort, an dem ich mich beschützt fühle, vor allen Unbillen dieser Welt behütet.
So, als habe niemand Zutritt zu diesem Raum außer uns beiden.
Ich bewahre diese Briefe, die ich dir schreibe, nach wie vor in der Bibel auf, bei Salomon, im Hohen Lied. Und ich hoffe, dass sie nie in die falschen Hände fallen werden und auch du zu jeder Zeit Zugang zu ihnen haben kannst – ich weiß, dass du diesen Gedanken verstehen würdest.
Morgen werde ich dir wieder schreiben. Dir von unserem giardino pensile berichten, in dem jetzt die Rosen blühen, die wir beide damals noch miteinander gepflanzt haben.
Manchmal wache ich nachts auf, bilde mir ein, die Signalhörner auf dem Kanal zu hören wie damals. Aber dann höre ich deine Stimme, die mir sagt, dass dies keine Signalhörner sind: Es sei das Cembalo, auf dem du mir vorspielst.
»Diese beiden Briefe steckten übrigens nicht beim Hohen Lied«, sagte Matteo, als sie zu Ende gelesen hatte, »ich fand sie bei Sodom und Gomorra. Und die übrigen Briefe, die diese Frau beim Hohen Lied versteckt hatte, hat wahrscheinlich jemand verbrannt. Ich könnte mir vorstellen, dass ihre Kinder nicht eben erbaut waren über diese Geschichte. Sie werden sicher der Meinung gewesen sein, er sei ein cicisbeo gewesen, dieser Riccardo, und sonst nichts.«
»Er war kein cicisbeo«, empörte sich Chiara. »Vielleicht war es eine amour fou«, sagte sie nach einer Weile leise und schob die Briefe in ihren Umhang, »aber jede Frau würde sich vermutlich wünschen, eine solche amour fou zu erleben.«
»Jeder Mann wohl auch«, sagte Matteo und löste das Seil des Kahns von dem Poller.
Ein Nachtvogel flog über sie hinweg, dem Flügelschlag nach musste es ein großer Vogel sein.
Das Licht der Lampe flackerte bereits, als Matteo sich erhob und das Ruder in das Wasser gleiten ließ.
Aber Chiara war ganz sicher, dass sie ihren Weg durch die Lagune auch bei Nacht und ohne Licht finden würden.