Kapitel 1
Obwohl gleißendes Licht die große Halle durchflutete, fielen Jay fast die Augen zu. Die gesprochenen Worte hallten in seinem Kopf wider, zogen sich durch seine Gehirnwindungen und verließen ihn schließlich. Zurück blieb dieselbe Leere, die seinen Geist zuvor befallen hatte. Die dritte Sitzung an diesem Tag und noch kein Ende in Sicht. Gestern erst hatten sie über die bevorstehenden Friedensbündnisse gesprochen. Heute ging es um das Wohl von Jaderas Bevölkerung.
Wieder fragte er sich, was er hier eigentlich tat. Dass er im Rat der Königin sitzen durfte, war lediglich Ally zu verdanken, die sich für ihn eingesetzt hatte. Er war bei Weitem nicht qualifiziert genug für einen solchen Posten. Sein Leben lang hatte er sie beschützt und nun bedurfte sie seines Schutzes nicht mehr.
Jay blätterte in den Unterlagen vor sich auf dem Tisch. Callon hatte diese ausgehändigt, als die Sonne noch voll im Zenit stand. Nun tauchte sie den Raum in ein seichtes Nachmittagslicht. War die Pause wirklich schon so lange her? Jay hatte das Gefühl, dass er bereits den ganzen Tag in dieser Halle verbracht hatte. Er blickte zu Ally, oder Aliena, wie sie nun genannt wurde. Eure Hoheit, Königin von Jadera. Sie fing seinen Blick auf und lächelte ihm aufmunternd zu. Ihren Job machte sie gut, obwohl er wusste, dass sie sich mindestens genauso langweilte wie er. Ally war schon immer ein Freigeist gewesen. An der frischen Luft zu toben und alles um sich herum mit Neugierde zu erkunden, lag ihr im Blut. Keine langweiligen Ratssitzungen über die Lagerbestände des Schlosses, den Streitigkeiten der anderen Länder oder dem Wohlbefinden der Dörfler. Dieses lag Ally sehr am Herzen, doch in ihrem Rat stieß sie auf taube Ohren.
»Was sagt Ihr dazu, Meister Jay?« Ein bärtiger Mann namens Lordan blickte ihn fragend an. Jay hatte gar nicht gemerkt, dass er der Unterhaltung nicht mehr gefolgt war.
Ehe er etwas erwidern konnte, begann Ally zu sprechen: »Du bist doch auch für die Aussetzung der Steuer für weitere drei Mondläufe, nicht wahr? Dieses Vorgehen entlastet die Dörfler und sie können in ihre Aussaat investieren. Im Sommer werden die Erträge umso höher ausfallen und den Steuerverlust der vorangegangen Mondläufe ausgleichen, sofern uns keine Dürre heimsucht.«
Jay war ihr dankbar, dass sie ihn deckte. Zustimmend nickte er.
»Meister Jay …« Callon betonte seinen Titel mit hochgezogenen Augenbrauen. Dem ehemaligen Meister der Anwärterinnen gefiel sein vertrauter Umgang mit Ally nicht. »… kann wohl für sich alleine sprechen.«
Ally verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Ich stimme Eurer Hoheit zu.« Ein Augenrollen seitens Lordan ließ Jay weiter ausholen: »Wir sollten diese Steueraussetzung als Investition betrachten. Die Dörfler können sich das Saatgut für den Sommer kaum leisten. Je mehr gesät werden kann, desto mehr Ertrag kommt später heraus. Wir entlasten die Bevölkerung, sodass sie sich von den entbehrlichen Wintern erholen kann. Nur so kommen sie schnell wieder auf die Beine. Außerdem brauchen wir das Gold nicht dringend. Verkaufen wir doch ein paar der teuren Skulpturen im Park, um diesen Ausfall auszugleichen. Die wirken sowieso fehl am Platz.«
Empört schnaubte eine Frau am Ende des Saals auf. »Die Skulpturen haben Tradition! Eine lange Tradition. Selbst König Eros wusste diese Kunst zu schätzen.«
Margrit war unausstehlich, seit ein Diener sie aufgrund ihrer blau hervorstechenden Adern auf der hellen Haut für die Königin gehalten hatte. Sie spielte auf Allys Vater an. Ihren leiblichen Vater. Zwar hatte sie ihn nie kennengelernt, doch sie musste ihm ähnlicher sein als dem Mann, der sie großgezogen hatte. Ob Tarlin wusste, dass seine Ziehtochter inzwischen Königin war? Vermutlich nicht. Bis Neuigkeiten nach Tannental durchdrangen, gingen ein paar Mondläufe ins Land. Außerdem sprach man nur von Königin Aliena, einer begabten Magierin, die versteckt vor allen Augen aufgewachsen war. In seinem besoffenen Kopf würde Tarlin niemals eins und eins zusammengezählt bekommen.
Nun drehte sich die Sitzung um die Skulpturen. Gut gemacht, Jay , dachte er sich. Jetzt wird es noch länger dauern, bis Callon den heutigen Tag für beendet erklärt.
Es klopfte und die Tür zum Flur öffnete sich. Ein Diener verbeugte sich und flitzte zu Callon. Da er schon unter Allys Eltern als Berater fungiert hatte, überließ sie ihm die Leitung der Sitzungen. Als Allys engster Berater schulte er sie in ihrer Rolle als Königin. Bisher schlug Ally sich ganz gut, aus Jays Sicht. Callon fand viel, was er kritisieren konnte.
Die Königin warf Jay einen Blick zu und ihre Augen leuchteten auf. Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Pedrick, sattelst du bitte Finja für mich?«, hielt Ally den Diener mit einem liebreizenden Blick vom Gehen ab. Pedrick war einer der Stallknechte aus Weiden gewesen. Seit Ally auf dem Thron saß, war Weiden mehr oder weniger ein verlassenes Dorf. Fast alle Bewohner waren in das Schloss gezogen, um der Königin zu dienen. Als noch nicht bekannt gewesen war, wer die wahre Prinzessin und Thronerbin war, hatten die Bewohner Weidens alles daran gesetzt, sie zu finden und ihr auf den Thron zu verhelfen. Jay hatte schon früher von ihnen gehört, doch er hatte Weiden stets als Zielscheibe für einen Angriff des Eisigen gefürchtet. Lieber hatte er versteckt im Untergrund in verschiedenen Rebellengruppen agiert, ohne Ally jemals zu erwähnen.
»Ihr könnt nicht …«, fing Callon an zu protestieren, doch Ally fiel ihm ins Wort: »Und ob ich das kann. Wir sitzen seit dem frühen Morgen zusammen. Lediglich zum Essen durften wir eine Pause machen. Mein Kopf raucht wie Aminas feuriger Drachenatem und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Sitzung ist für heute beendet und ich gedenke, meinen Kopf mit einem kleinen Ausritt freizubekommen.« Herausfordernd blickte sie den Älteren an. Pedrick gab sie einen Wink und eilig verließ der Junge den Saal. Callons kahler Kopf war rot angelaufen, doch er wagte es nicht, seiner Königin zu widersprechen.
»Also gut, vertagen wir die restlichen Themen, damit die Königin sich erholen kann. Die Sitzung ist beendet.«
Ally bedankte sich bei allen Anwesenden für ihre heutige Arbeit mit einem Nicken und rauschte Pedrick hinterher.
Jay stand auf und wollte Ally hinterhereilen, da hielt Callon ihn auf: »Meister Jay? Sucht nach Devan. Er soll Königin Aliena Geleitschutz geben.«
»Das wird nicht nötig sein.« Er hörte an dem Unterton in Callons Stimme, wie wenig der Mann ihn leiden konnte. »Ich werde sie begleiten.«
»Werdet Ihr nicht.« Callon wandte sich von ihm ab und begann mit Margrit und Lordan ein Schreiben zu studieren.
»Ich habe sie mein Leben lang beschützt, da werde ich das auch heute schaffen.« Mit diesen Worten verließ er den Saal und eilte hinter Ally her, die bereits aus dem Raum verschwunden war. Da Callon keine Chance für Widerworte hatte, würde er ihnen vermutlich Wachen hinterherschicken. Er hatte als Ratsvorsitzender das letzte Wort.
Jay verstand, dass Callon wütend auf ihn war. Seinetwegen hatte er sein Wissen und seine Zeit verschwendet, an Mädchen, die niemals Thronerbin sein würden. Doch Jay war ihm dankbar für diese Mädchen. Sie waren gut ausgebildet und gaben hervorragende Hofdamen, Beschützerinnen und Botinnen ab. Eigenmächtig hatten sie ihr Training wiederaufgenommen. Trotz seiner Lehre bei einem Schmied konnte er ihnen im Schwertkampf kaum noch etwas beibringen. Dennoch nahm er sich die Zeit, mit den Mädchen zu trainieren und hatte sogar weitere junge Frauen gefunden, die sich selbst zu verteidigen lernen wollten. Heute würden sie ohne ihn auskommen müssen. Das war seine Chance, Zeit mit Ally allein zu verbringen. Zeit, die sie schon lange nicht mehr gehabt hatten.
Jay hatte gerade die Tür passiert, als Callon erneut das Wort ergriff. »Margrit, Lordan, Ihr bleibt noch, um die Situation mit dem Reich des Wassers zu besprechen. Dafür brauchen wir die Königin nicht.«
»Hast du sein Gesicht gesehen?« Ally hatte Finja zu einem entspannten Schritt durchpariert, nachdem sie Jay in einem Wettrennen um eine Pferdenase geschlagen hatte. »Callon hat alles daran gesetzt, die rechtmäßige Erbin auf den Thron zu bringen, und jetzt würde er mich am liebsten erwürgen.«
Jay schüttelte den Kopf. »Nimm es Callon nicht übel. Er würde alles für Jadera tun und wenn die Züchtigung der Königin dazugehört, dann auch das.«
»Züchtigung?« Ally lachte und drehte sich zu ihm um. Er ritt nun neben ihr und ihre braunen Augen leuchteten wie flüssig gewordener Bernstein im Licht der Sonne.
»Alles in Ordnung, Jay?«, fragte Ally besorgt, nachdem er auf ihren Kommentar nichts erwidert hatte.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du dich gut mit Callon stellst, statt gegen ihn zu arbeiten«, bat er Ally. Dass der Ratsvorsitzende hinter ihrem Rücken Besprechungen führte, gefiel Jay nicht. Doch was hätte er argumentieren sollen, als er Callons Worte unbeabsichtigt gehört hatte? Die Königin hatte um eine Pause gebeten und der Rat konnte auch ohne sie tagen und ihr die Ergebnisse präsentieren, die sie nur noch abzunicken brauchte.
Ally seufzte laut. »Das will ich ebenfalls, aber Callon ist der Meinung, dass ich noch nicht in der Lage bin, ein Land zu regieren, weshalb er mich am liebsten aus dem Rat ausschließen würde. Ich will auch, dass Jadera wieder zu Kräften kommt. Deshalb habe ich die Steueraussetzung vorgeschlagen. Doch die meisten Mitglieder im Rat sind zu raffgierig, als dass sie der Bevölkerung etwas gönnen würden.«
»Du hast dein Argument jedenfalls sinnvoll begründen können.«
»Im Gegensatz zu dir«, neckte Ally ihn. Jay knetete unruhig die Zügel in seinen Händen. Die schwarze Stute namens Nachtschwalbe schüttelte unwirsch den Kopf.
»Mach dir nichts daraus. Ich war ebenfalls kurz vorm eingeschlafen. Erinnerst du dich noch an die erste Zusammenkunft? Da sind mir am Ende des Tages die Augen zugefallen und mein Gesicht wäre fast in der Suppenschüssel gelandet.«
Jay musste angesichts dieser Erinnerung lachen. »Dann sind wir jetzt quitt. Immerhin habe ich dich im letzten Moment davon abgehalten, dich in Suppe zu ertränken.«
»Ich bin die Königin, mir hätte man einfach einen Ohnmachtsanfall angehängt.«
»Und mir würden sie vermutlich unterstellen, ein Suffkopf zu sein, wie Tarlin es gewesen ist.«
Allys Blick wurde weich. »Du lehnst den Wein bei jeder Sitzung ab. Alle wissen, dass du nichts trinkst.«
»Ich weiß.« Jay krampfte seine Hand zusammen, bis das Pferd unter ihm unruhig den Kopf in den Nacken warf und er wieder locker ließ. Tarlin, der Mann, bei dem er und Ally aufgewachsen waren, hatte schreckliche Dinge getan und das meiste davon erst, nachdem er mit dem Trinken angefangen hatte. Jay hatte sich geschworen, niemals zu werden wie er und traute dem Alkohol nicht über den Weg.
»Was ist los, Jay?« Ally hatte seinen Stimmungsumschwung bemerkt.
»Manchmal denke ich, mein Leben wäre vollkommen anders verlaufen, wenn Tarlin nicht gewesen wäre. Vielleicht würde ich dann auch mit den anderen gemütlich beisammensitzen und den Wein genießen.«
»Die Anwärterinnen trinken gerne nach dem Training. Und von ihnen hat noch keine eine Prügelei gestartet.«
Jay schnaubte. »Sie fangen lediglich an, den Männern schöne Augen zu machen.«
»Das tun sie doch auch ohne Alkohol.« Ally schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Auch wenn er der einzige Vater ist, an den ich mich erinnere, heißt das nicht, dass wir werden wie er.«
»Du hast recht. Vielleicht probiere ich es beim nächsten Mal.«
»Lass uns den Schatten unserer Vergangenheit hinter uns lassen. Tarlin war lange genug Teil unseres Lebens, lass ihn nicht auch noch unsere Zukunft beeinflussen.« Ally ritt dicht zu ihm heran, um ihm in die Seite zu stoßen. »Du bist bestimmt witzig, wenn du betrunken bist.«
»Wenn es um Witz geht, brauchst du keinen Alkohol. Was war mit den Exkrementen, die letztens über die Schlossmauern geflogen sind?«
Ally konnte das Lachen nicht zurückhalten. »Das tue ich nur mit Pferdeäpfeln, wenn auf der anderen Seite der Mauer jemand steht, der es verdient hat.« Damit spielte sie auf eine Neckerei zwischen Devan und ihr an. Er wusste nicht genau, was Devan an diesem Tag getan hatte, doch die Ladung Pferdeäpfel im Nacken hatte er sicher verdient. Nicht, dass Jay den anderen Mann nicht leiden konnte. Immerhin hatte der einen wesentlichen Teil zu seiner Rettung beigetragen. Die Blicke, die sich der junge Mann und die Königin zuwarfen, bereiteten ihm allerdings Sorgen. Was Jay am meisten missfiel, war, dass Devan gut mit Callon konnte. Der Kahlköpfige schien sonst niemandem so wohlgesonnen zu sein wie dem blonden Herumtreiber.
»Schau mal Jay, ist da vorne das Meer?« Allys Finger zeigte auf eine Linie am Horizont vor ihnen.
Jay schüttelte den Kopf. »Das ist zu weit von uns entfernt.«
Als er die Sehnsucht in Allys Augen bemerkte, fügte er hinzu: »Wir werden es noch früh genug sehen. Sobald du die politischen Angelegenheiten geregelt hast, wirst du Zeit haben, unsere Welt kennenzulernen. Immerhin regierst du ein Land davon.«
Ally schnaubte. »Wenn es danach geht, werde ich niemals das Meer sehen. Es werden immer mehr Aufgaben statt weniger. Vielleicht solltest du ans Meer reisen. Dann kannst du mir wieder Mondlilien mitbringen, die an der Küste wachsen, so wie früher.«
Sie hatte ihm nie die Frage gestellt, woher er die seltenen Blumen hatte. Vermutlich aus Angst vor der Antwort. Ihre unterschwellige Frage verwunderte Jay.
»Die Mondlilien habe ich den einzelnen Rebellengruppen abgekauft. Ich habe gehofft, dass sie die Magie in dir wecken würden, damit ich sehen konnte, wann du so weit bist.« Das schlechte Gewissen stand ihm bestimmt ins Gesicht geschrieben. Allys Mundwinkel senkten sich und ihr Blick wurde ausdruckslos. Sie schwieg und Jay wollte gerade fragen, ob zwischen ihnen alles in Ordnung war, da ergriff sie das Wort: »Lass uns zurückreiten. Wir haben beide keine Zeit bis zum Meer zu gelangen. Dieser Luxus wird erst mal nur den Boten vergönnt sein.«
»Braves Mädchen«, lobte Ally ihre Stute und schwang sich aus dem Sattel. Sofort eilten Stallburschen herbei, um ihr beim Absatteln zu helfen. Doch Ally bestand darauf, die Stute selbst zu versorgen. Jay lehnte die Hilfe ebenfalls ab und führte sein Pferd in den Stall. Er war froh über die körperliche Arbeit und freute sich schon, morgen wieder mit den Mädchen zu trainieren. Als er gerade die Boxentür hinter sich schloss, legte sich eine Hand auf seinen Unterarm.
»Jay?« Fragend blickte Belja ihn an. Ihre braunen Haare trug sie zu einem Zopf zurückgebunden. Sie wirkte verschwitzt, vermutlich hatte sie ohne ihn trainiert.
»Schön dich zu sehen, Bel.« Lächelnd hielt er inne. Belja grüßte Ally mit einem Knicks und wandte sich dann wieder ihm zu. »Hast du kurz Zeit?«
Ally hatte ihr Pferd ebenfalls versorgt und gesellte sich zu ihnen, als Pedrick angerannt kam. »Eure Hoheit! Eure Hoheit!«
Sie nahm einen tiefen Atemzug und drehte sich zu dem Stallburschen um.
»Meister Callon wünscht Euch zu sprechen.«
Ally huschte ein entschuldigendes Lächeln über die Lippen, ehe sie Pedrick in Richtung Schloss folgte.
»Aber sicher habe ich Zeit für dich«, beantwortete er Beljas Frage. »Wie kann ich dir helfen?«
Belja sah sich vorsichtig im Stall um. »Wollen wir in den Park gehen?«
Jay nickte und sie verließen schweigend die Stallungen.
Der Park war unter der Herrschaft des Eisigen verkümmert. Lediglich seine giftigen Kräuter und Pflanzen hatte er dort anbauen lassen. Mehrere Gärtner hegten und pflegten inzwischen den Bereich hinter dem Schloss und versuchten, die gebräuchlichen Pflanzen unauffällig in das Gesamtbild zu integrieren. Die hässlichen Statuen, deren Verkauf er vorgeschlagen hatte, säumten die Mauer um den Park.
»Was liegt dir auf dem Herzen, Bel?«, nahm Jay das Gespräch wieder auf.
Erneut sah die junge Frau sich um, als wolle sie nachsehen, dass niemand ihre Worte belauschen konnte. Als sie sich sicher schien, dass sie alleine waren, rückte sie mit ihrem Anliegen heraus: »Ich werde fortgehen.«
»Wie fort?«
»Ich bin euch so dankbar, dass ihr meinem Dasein als Dienerin ein Ende bereitet habt. Du hast mich das Kämpfen gelehrt und mir Mut zugesprochen. Jetzt, da ich weiß, dass mein Vater nicht mehr lebt, möchte ich gerne die Stätte seines Todes aufsuchen. Ich weiß, das ist sentimental, aber es gab keine Bestattung oder Trauerfeier für ihn. Ally musste damals vor den Räubern fliehen. Ich habe gemerkt, wie leid der Königin die nicht erwiesene Würde tut. Deshalb möchte ich sie ihm gerne erweisen.«
Sie waren stehen geblieben und mit fragendem Blick sah sie ihn an.
»Das ist aber nicht der Grund, warum du dich nervös umblickst, um sicherzustellen, dass uns keiner belauscht, oder?« Ob sie wollte, dass er sie begleitete? Zwar wurden wieder gerechte Strafen für Räuber eingeführt und der Bevölkerung ging es besser, aber sicher waren die Straßen noch lange nicht.
Belja schüttelte den Kopf. »Es ist etwas anderes. Ich werde nicht mehr ins Schloss kommen. Meine Zeit hier ist vorbei und ich werde zurück in meine Heimat gehen. Mein Vater sollte noch Konten dort haben, die ich auflösen kann, um ein neues Leben zu beginnen.«
»Aber deshalb bist du nicht nervös, oder?«
Belja sah ihn eindringlich an. »Du musst mir versprechen, dass du niemandem etwas verrätst.«
Jay kreuzte die Finger vor seiner Brust als Zeichen der Zustimmung. Über Beljas Lippen huschte ein Lächeln, ehe sie sprach. »Mein Vater stammt aus Tierra. Das Reich des Wassers hat sich seit dem Tod des Eisigen nicht gerade kooperativ gezeigt. Ich habe Angst, dass die Menschen in Jadera mich als Feindin betrachten, wenn sich die Situation weiter zuspitzt.«
»Das würden wir niemals.«
»Du nicht, aber was ist mit Callon? Er hat bereits zwei Menschen gefangen genommen, weil deren Fischhäute auf eine tierranische Abstammung hindeuteten, obwohl sie seit vielen Wintern in Ankor lebten. Sie wurden in den Palast zitiert und kamen nie wieder heraus. Mir sehen Jaderaner meine Herkunft nicht an, aber was ist, wenn er herausfindet, dass ich in den Stammbüchern des Landes nirgends auftauche? Ich stehe der Königin viel zu nahe, als dass es ihn nicht irgendwann interessieren könnte.«
»Ich glaube nicht, dass Callon allzu sehr um Allys Wohlergehen besorgt ist.«
Belja runzelte die Stirn. »Sie hat es nicht leicht, oder?«
Jay schüttelte den Kopf. »Und das ist meine Schuld.«
»Du kannst nichts dafür.«
Wie von selbst wanderte sein Blick an der Mauer des Schlosses nach oben zu dem Zimmer, in dem Ally wohnte. Das Fenster stand einen Spaltbreit offen, um die frische Luft des Frühlings hineinzulassen. Den Tag über hatte sie die abgestandene Luft im Ratssaal einatmen müssen, statt wie früher den ganzen Tag im Freien zu verbringen. »Manchmal frage ich mich, ob es besser gewesen wäre, Ally in dem Wissen aufwachsen zu lassen, welche Last sie irgendwann auf ihren Schultern tragen würde. Doch stattdessen gab ich ihr ein Leben, das sie nun vermisst. Etwas, das sie unwiderruflich aufgeben musste für eine Macht, die sie nie wollte.«
Sie gingen nebeneinander her. Aus den kahlen Ästen sprossen grüne Triebe. Jay mochte diese ersten Anzeichen von Frühling. Es fühlte sich an wie Erwachen. Langsam würde die Zeit des Reisens beginnen. Boten würden vermehrt ausgeschickt werden, um sich ein Bild über die Verfassung des Landes zu verschaffen. Der Schnee im Winter hatte diese Erkundungstouren erschwert.
»Du solltest nicht alleine reisen.«
»Es wäre nicht klug, wenn mich jemand nach Tierra begleiten würde. Was ist, wenn es kein Zurück mehr geben wird?«
Es war naiv gewesen zu glauben, dass die anderen Länder genauso erleichtert über den Sturz des Eisigen waren wie Jadera und ihnen alles verzeihen würden. Sie erinnerten sich an die Kriege, die Einreiseverbote und den abfälligen Umgang ihrer Landsleute. Nur weil Ally nun auf dem Thron saß, waren all die Kämpfe nicht vergessen und vergeben.
»Wann brichst du auf?«
Belja schien schon länger über diese Reise nachgedacht zu haben, denn sie antwortete, ohne zu zögern: »Sobald der Mond voll am Himmel steht. Dann sind die Nächte nicht so dunkel.«
Also in wenigen Tagen. Der Mondlauf war fast beendet. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit mit der jungen Frau, welche ihm ein Lichtblick in den dunklen Zeiten der Gefangenschaft gewesen war. Belja hatte ihm Nahrung gebracht und seine Wunden versorgt.
»Wenn du dich schon der Gefahr aussetzen musst, von Banditen überfallen zu werden, solltest du dich angemessen verteidigen können.« Er konnte Belja zwar nicht begleiten, doch er konnte ihr zumindest ein wenig Wissen mitgeben, damit sie sich selbst schützen konnte.
»Du hast mich doch schon das Kämpfen gelehrt.«
Jay schüttelte den Kopf. »Den ehrenvollen Kampf mit Waffen. Aber Räuber sind nicht ehrenhaft. Sie überfallen dich hinterrücks im Schlaf und du musst ohne Waffe auskommen. Du brauchst eine andere Art von Training.«
Erstaunt blickte sie ihn an. »Und woher kennst du solche Tricks?«
Jay grinste. »Das Training, das die ehemaligen Anwärterinnen hatten, werde ich dir als Schmiedelehrling nicht geben können. Doch du wirst aus erster Hand lernen. In diesen Mauern kommt dafür nur einer infrage: Devan.«