Kapitel 2
Callons Gemächer lagen in demselben Flügel wie seine . Ally verschlug es nur selten hierher. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie diesen Teil des Schlosses zumauern können. Meist traf sie Callon im Ratssaal, in dem sie mehr Zeit verbrachte als in ihren eigenen Räumlichkeiten. Wenn er sie privat in seinen Gemächern sprechen wollte, konnte das nichts Gutes heißen.
Ally seufzte, ehe sie an die dunkle Holztür klopfte. Von drinnen kam kein Herein. Ob er sie nicht gehört hatte? Sollte sie wieder umkehren und hoffen, dass Callon nichts Wichtiges zu besprechen hatte? Andererseits war sie die Königin und stand damit über ihm. Wenn es ihr beliebte, durfte sie seine Räumlichkeiten betreten, ohne von ihm hereingebeten zu werden.
Entschlossen, aber mit schwitzigen Fingern öffnete sie die Tür. Callon stand mit dem Rücken zu ihr und brütete über seinem Schreibtisch.
»Ihr wolltet mich …«
»Euer Training läuft schlechter als befürchtet.« Callons Ton klang schneidend. Langsam wandte er sich ihr zu. »Ich habe Euch mehrfach in Gedankensprache aufgefordert, einzutreten. Ihr solltet in den letzten sechs Mondläufen gelernt haben, Gedanken bewusst zu empfangen und zu senden. Stattdessen versteckt Ihr Euch hinter einer Mauer, die nicht nur Euch, sondern uns alle aufhält.«
»Was wollt Ihr von mir?« Ally atmete tief in den Bauch ein, um ihren Herzschlag zu beruhigen.
»Setzt Euch, Eure Hoheit.«
Sie kam seiner Aufforderung nach. Was blieb ihr anderes übrig? Ohne Callon würde ihr der ganze Rat und damit auch das Volk entgleiten. Ihm vertrauten die Menschen mehr als ihr. Sie war nur das Mädchen, das auf einem Bauernhof großgezogen worden war und er der Berater des einstigen Königspaares – ihren Eltern. Wenn das Volk nur auf die Meinungen kompetenter Persönlichkeiten baute, warum bestand man auf eine korrekte Erbfolge? Sie wurde von niemandem für fähig gehalten, ein Land zu regieren. Dass sie ihre Magie seit der Einnahme des Throns nicht mehr gezeigt hatte, trug nicht zu einer Besserung des Meinungsbildes bei.
»Ich bin mit Eurem Engagement bei den Ratssitzungen nicht einverstanden. Ihr verschwendet Eure Energien für die falschen Dringlichkeiten.«
»Haben wir nicht bereits zur Genüge über die Steueraussetzungen gesprochen?«
»Darum geht es nicht. Ich halte es für angebracht, dass Ihr zuerst eine Grundausbildung absolviert und ich die Geschäfte derweil für Euch leite.«
»Geschäfte?« Ally schnaubte. Ihr Herzschlag hatte entgegen ihres Versuches, sich zu beruhigen, die Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes angenommen. »Wir haben kein Pfandhaus zu führen. Es geht um ein Land, ein Volk, dem in den letzten Wintern großes Unrecht widerfahren ist. Menschen, an denen ich viel näher dran bin, als Ihr es jemals gewesen seid. Ich kenne die Probleme meines Volkes und muss dafür keine politischen Wälzer gelesen haben.«
Callon lehnte sich an den im Raum stehenden Tisch. Vermutlich vermied er es, sich zu setzen, damit er durch seine Größe überlegen wirkte. »Ihr kennt die Probleme, aber nicht die Lösungen. Ich spreche nicht nur von Eurem mangelnden politischen Verständnis. Auch Euer Wissen über die Wirtschaft, Euer Verhandlungsgeschick und vor allem die Anwendung Eurer Magie lassen zu wünschen übrig. Wie oft trainiert Ihr mit Markus? Ich meine, Euch häufiger im Stall als beim Training zu sehen.«
Ally schluckte und vermied es, die Hand zur Faust zu ballen. Auch ohne diese Geste wusste Callon, wie sehr sie dieses Gespräch aufwühlte. Denn er hatte recht. Ihr mangelte es an so vielem und die Zeit des Tages reichte bei Weitem nicht aus, um all das nachzuholen, worin die Anwärterinnen seit ihrer Kindheit geschult worden waren. Sie schaffte es aufgrund der Ratssitzungen oft nicht einmal zu Markus, dem alten Mann, der nach Ankor gezogen war, um sie den Umgang mit ihren magischen Fähigkeiten zu lehren. Warum gab sie Callons Drängen, ihm die Geschäfte zu überlassen, nicht endlich nach und nahm sich die Zeit für die Ausbildung, die sie brauchte? Auch wenn sie den ehemaligen Meister der Anwärterinnen nicht ausstehen konnte, bei ihm war das Reich in guten Händen. Er liebte Jadera über alles. Und genau da lag das Problem.
»Lasst uns über Tierra sprechen. Was empfehlt Ihr mir zu tun?« Ally lehnte sich in dem braunen Ledersessel zurück. Callon liebte es, um Rat gebeten zu werden. Damit würde sie ihn erfolgreich vom Thema ablenken.
»Darüber habe ich bereits mit …«
»Ich weiß, mit wem Ihr darüber gesprochen habt. Doch das war nicht meine Frage. Zu welcher Erkenntnis seid Ihr gekommen?«
Callon stieß sich vom Tisch ab und schlenderte zu ihr. Er nahm im Sessel ihr gegenüber Platz und ragte damit noch immer zwei Köpfe über sie hinaus. »Jetzt interessiert es Euch? Vorhin schien Euer Pferd wichtiger als die außenpolitische Lage des Landes.«
»Hört auf mit den Spielchen. Sagt mir einfach, was Eurer Meinung nach getan werden sollte.«
Callons rechter Mundwinkel zog sich verächtlich nach oben. »Ich kenne die Nixen nicht gut. Als ich noch Eurem Vater diente, regierte der Paladin über Tierra. Doch wie meine Spitzel mir bereits vor Wintern berichteten, hat der Paladin das Zepter an seine Töchter weitergereicht. Die Nixen scheinen unberechenbar zu sein. Wir sollten uns weitere Verbündete zulegen, um gegen einen Angriff gewappnet zu sein. Der Frieden ist noch lange nicht zurück.«
Diese Einstellung seitens Callon hatte Ally befürchtet. »Die Nixen kennen mich nicht. Vielleicht sollte ich Ihnen einen Besuch abstatten.« Das abfällige Wort, das der Ratsvorsitzende für die Sirenen verwendete, betonte sie dabei absichtlich provokant.
»Das würdet Ihr nicht überleben.«
Ally zog eine Augenbraue nach oben. »Ich dachte, Ihr kennt die Herrscherinnen Tierras nicht gut?«
»Dafür kenne ich die Politik.«
»Und wenn wir Verbündete hätten, können wir den Frieden wieder herstellen ohne Blutvergießen?«
»Mit ihnen können wir die Nixen einschüchtern.«
»Ihr seid also der Meinung, dass wir nur eine Allianz brauchen, um die anderen Länder einzuschüchtern, statt unsere Kriegsschulden zu begleichen? Wo sollen wir solche Verbündete überhaupt herbekommen?«
Callon faltete die Hände in seinem Schoß. »Verbündete gewinnen wir durch eine Heirat. Und mit einer Heirat schaffen wir Euch ausreichend Zeit, damit Ihr Euch Eurem Studium widmen könnt. In Jaderas Geschichte hat es noch nie eine Frau gegeben, die sich um Regierungsgeschäfte gekümmert hat. Ihr würdet damit keine Ausnahme darstellen. Ein König hätte dieses Land wieder fest im Griff.«
»Ihr wollt Jadera lieber einem unbekannten Mann aus einem anderen Reich überlassen, als es von mir regiert zu wissen, nicht wahr?«
Callons Miene blieb unergründlich. »Er wäre kein Unbekannter. Nur ein mächtiger Verbündeter würde uns ausreichend Respekt verschaffen, um vor Tierra sicher zu sein. Ihr müsstet einen der Prinzen heiraten. Und nicht nur einen: Nur der Nachfolger des Landes verschafft uns genügend Respekt.«
Callons Furcht vor den Sirenen schien groß. Noch nie in der Geschichte Jaderas war es nötig gewesen, den nächsten König eines anderen Landes zu heiraten, um damit ein enges Bündnis zu diesem einzugehen. Ab und an kamen Hochzeiten mit Adligen aus den anderen Ländern vor. Ihr Großvater hatte laut den Aufzeichnungen eine Herzogin aus der Luftstadt geehelicht. Aber im Großen und Ganzen blieben die Königsgeschlechter in der Linie des Landes. So viel wusste selbst sie über Jaderas Geschichte.
Da das Reich des Wassers auf der Seite stand, die Callon einzuschüchtern versuchte, waren nur noch zwei Optionen übrig: Sie sollte einen Anathener oder einen der Prinzen aus Sehrazat heiraten. Über das Heiraten hatte sie nie viel nachgedacht. Mit Jay und den Kleinen an ihrer Seite hatte es sich immer angefühlt, als hätte sie bereits eine eigene Familie. Eine, die sie ihr ganzes Leben lang kannte. Und nun sollte sie einen Unbekannten heiraten, der ein ganz anderes Leben führte als sie, sodass es noch schwieriger werden würde, ihn in der kurzen Zeit kennenzulernen. Kopfschüttelnd stand sie auf. Ihr Blick lag auf Callon.
»Und Ihr glaubt, einen Prinzen könntet Ihr besser lenken als ein unerfahrenes Bauernmädchen. Ich hatte Euch für klüger gehalten.«
Mit diesen Worten verließ sie seine Räumlichkeiten und erklärte das Gespräch für beendet. Erhobenen Hauptes schloss sie die Tür hinter sich, doch Callons Blick spürte sie noch durch das Holz hindurch.
Ohne darüber nachzudenken, wohin sie wollte, schritt sie durch die Gänge des Schlosses, bis sie vor einem nur allzu bekannten Zimmer Halt machte. Seit Mondläufen trainierte sie hier mit Markus. Wenn Callon sie als Königin respektieren sollte, musste sie größere Fortschritte erzielen und das ging nicht in Anwesenheit des alten Magiers.
Die Räumlichkeiten waren nicht verriegelt und keine Wachen standen auf dem Gang. Ally schlüpfte durch die Tür und sah sich im Raum um. Hinter einem Holztisch befand sich ein Regal voller Bücher. Einige waren aus Asleens Bestand nach Ankor geholt worden. In ihnen würde sie Antworten finden.
Zielstrebig griff sie nach einem der Wälzer. Ein Salbeiblatt kennzeichnete die Stelle, an der sie zuletzt aufgehört hatte zu lesen. Das Buch handelte von Kräuterkunde. Mithilfe verschiedener Pflanzen ließen sich dieselben Ergebnisse erzielen, die sie mit ihrer Magie eigentlich wirken können sollte.
Wenn sie etwas Baldrian finden würde, könnte sie mit den restlichen Zutaten, die in diesem Zimmer gelagert wurden, einen Trank herstellen, der es ihr ermöglichte, den Trinkenden einschlafen zu lassen. Sie musste nur noch herausfinden, wie viel Zeit ihr blieb, wenn jemand den Trank zu sich genommen hatte.
Es erstaunt mich immer wieder, wie sehr du dich für Kräuterkunde interessierst, obwohl deine Lehrmeisterin nicht gerade ein Vorbild war.
»Du brauchst keine Angst haben, dass ich werde wie sie.« Ally drehte sich zu der schwarzen Drachendame um, die sich lautlos wie eine Katze in den Raum geschlichen hatte. Das Fenster stand offen, wie die aller Zimmer, in denen Ally verweilte. Amina würde überall Zutritt erhalten, wo auch die Königin Zutritt erhielt.
Ally legte das aufgeschlagene Buch auf Markus‘ Lehrtisch ab, auf dem auch Amina Platz genommen hatte.
»Weißt du, wo ich Baldrian herbekomme?«
Dafür ist es etwas früh. Die Tage sind zu kurz, um ihn in seiner vollen Blüte stehen zu sehen.
»Dann werde ich zur Kräuterfrau in die Stadt müssen.«
Wen willst du denn schlafen lassen?
Ally setzte sich auf den Stuhl, den sie manchmal benutzte, um Bücher aus den obersten Fächern zu holen.
»Mich. Vielleicht kann ich mit diesem Trank besser schlafen.« Die Lüge kam ihr einfach über die Lippen, doch Aminas schief gelegter Kopf deutete daraufhin, dass sie sie durchschaut hatte.
Vielleicht solltest du weiter üben, deinen Geist zu klären. Wenn du mir nicht gerade zuhören würdest, könnte man meinen, dass du keinerlei magische Veranlagung besitzt, so wenig, wie du sie in den letzten Mondläufen in Anspruch genommen hast.
Ein Rauchwölkchen stob aus Aminas Nüstern.
Ally klappte den Wälzer zu. »Du hast recht. Lass uns meinen Geist trainieren.«
Zufrieden grummelte die Drachin und schlug mit ihrem gezackten Schwanz. Vielleicht würde das Training Amina davon ablenken zu bemerken, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag.