(…)
jedn farnacht
schtarbt in tol doss geschrej,
wen ss’fargejt di sun
un zu ir horn
klamert sich der barg.
(…)
Jeden Abendstirbt im Tal der Schrei,
wenn die Sonne versinkt
und sich der Berg
in ihr Haar krallt.
Da schickt der Herr den Pudel aus, / Er soll den Jockel beißen. / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.
millionen von schneeglöckchen blühen im Frühjahr im Sumpf des Manig am Galgenbichl zwischen unzähligen Erlen, Jahr für Jahr, heute noch und immer wieder, nur ein paar Meter von den Sautratten entfernt. Mit einem Buschen frischgeklaubter Schneeglöckchen in der Hand gingen mein Cousin Valentin und ich im Manig am Galgenbichl den steilen, grasbewachsenen Hang hinauf, blieben am Straßenrand stehen, winkten mit den Frühlingsblumen den vorbeifahrenden Autos zu, bis jemand stehenblieb und uns für die Frühlingsblumen ein paar Schilling gab. Den Verkauf der Schneeglöckchen am Rande der Sautratten beendeten wir enttäuscht, als einmal jemand anhielt, mir den dicken Buschen Schneeglöckchen abnahm und ohne auch nur einen einzigen Schilling zu bezahlen, frech hinter der Windschutzscheibe grinsend, mit seinem Auto davonfuhr. »Enz! Beim Arsch brennt’s«, haben die Dorfkinder gerufen beim Vorbeilaufen an deiner Enznhube mit einem Strauß Schnee- oder Maiglöckchen in der Hand oder mit einem Bündel langer Schilfkolben, die du, mein Tate, »Kanonenputzer« genannt hast, unter dem Arm aus dem Sumpfgebiet der Sautratten, unweit des Ufers der Drau, wo aus dem Kadaver des Judenmassenmörders die Kleeblätter blühten, Glücks- und Unglücksklee, die Türkenfelder gediehen, die Erdäpfel wuchsen und wo der Roggen für das Schwarz-Brot, der Weizen für das Weiß-Brot und der Hafer für das Pferdefutter reiften, die der Jockel Jahr für Jahr geschnitten hat. Nach der Erdäpfelernte haben wir das trockene Erdäpfelkraut über dem Skelett von Odilo Globocnik angezündet, ein ganzes Feld stand in Flammen und rauchte. Genußvoll haben wir ein Sirius-Zündholz nach dem anderen in das brennende, stark rauchende und stinkende Kraut geworfen und gierig das Lauffeuer der Flammen beobachtet. Abertausende Globocnikzungen loderten aus allen Ecken und Enden der Sautratten, die mich an die Höllenflammen auf einem Bild meines Religionsbuches erinnerten, wo der reiche Prasser, umschlungen von einer grünen Schlange, zwischen den hochlodernden roten Flammen liegt. Ein nackter dunkelroter Teufel mit Hörnern, Fledermausflügeln und spitzen Fingern beugt sich über den Mann, der in die Hölle gekommen ist, und gießt ihm aus einem Becher heiße Galle in den Mund.
Deine Mühle neben dem Plumpsklo, in der das Getreide aus den Sautratten für den Eigengebrauch, wie es hieß, gemahlen wurde, war erschreckend düster, ein verstaubter, ein paar Quadratmeter großer Raum, in dem ich mich aber auch oft heimelig fühlte und gerne, wenn die Mühle eingeschaltet war, das warme, duftende Mehl über meine Finger rieseln ließ, ich roch daran oder streckte meine nackten Arme bis zu den Ellenbogen in die immer höher wachsende Pyramide des feinen, warmen Mehls und lief vor dem Plumpsklo auf und ab, dachte an das Märchen mit dem Wolf und den sieben Geißlein, fuchtelte mit den weißbestäubten Händen und rief entzückt: »Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!« Jahrzehntelang lag derselbe weiße Staub auf den unzähligen in der Mühle an allen Ecken und Enden vom Gewicht des feinen Mehls durchhängenden Spinnweben. Wenn du den Motor eingeschaltet hast, hat der Trichter, in den du aus einem Jutesack das Getreide hineingeschüttet hast, heftig zu rütteln begonnen, langsam ist dabei das Getreide ins Mahlwerk eingesickert. Die immer noch nach dem Getreide aus den Sautratten riechenden Jutesäcke haben wir Dorfkinder mit großen Scheren auseinandergetrennt und Indianerkleider daraus geschneidert, haben aus Holz einen Tomahawk gezimmert und sind mit Kriegsbemalung – wir beschmierten unsere Gesichter mit schwarzer Holzkohle und dem rostroten Blütenstaub der hochgewachsenen weißen Lilien aus dem Garten der Mame – in den Wäldern herumgeirrt, den Tomahawk in der Hand, und sind auf unsere Schulfreunde und Schulfeinde grimmig losgegangen mit den auswendig gelernten Worten aus einem Winnetou-Buch: »Wo ist die Kröte von Atabaskah? Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apachen, zu rächen den Tod seines weißen Bruders!« – »Ha, Winnetou, du Hund von Pimo! Fahr zum Teufel!« – »Die Schlange von Atabaskah wird nicht mehr zischen und den Häuptling der Apachen verächtlich einen ›Pimo‹ nennen!« Und als Skalp schlugen wir uns gegenseitig ein Stück rotgefärbtes Schweinsleder ins Gesicht. – Du warst, mein Tate, der einzige Bauer im Dorf, der über seiner Hose und seinem Hemd die blaue Arbeitsmontur eines Arbeiters getragen hat. Durch den Schlitz der Arbeitsmontur hast du, um noch einmal zu deinem Gewaltausbruch in der Küche zurückzukommen, in deine Hosentasche gegriffen und das zerknüllte, mich an eine hängende Fledermaus erinnernde Taschentuch herausgeholt und wolltest es an meine Nase halten, du hast mit dem weißen Fledermausflügel meine blutende Nase nur gestreift, denn ich bin zurückgewichen vor meinem Luzifer, ich wollte nicht, daß du mein Blut stillst, ich wollte, daß es rinnt und rinnt und nicht mehr aufhört zu rinnen, so lange, bis du es auffängst in deinen groben Bauernhandschalen und dein spitzes, immer gebräuntes Teufelsgesicht damit beschmierst, bis dein Arsch brennt, angezündet vom Sohn deines leibhaftigen Teufels, mein Tate, für immer! »Enz! Beim Arsch brennt’s!« hat es geheißen. »Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmal Teufel!« hast du oft gerufen, wenn dir die Arbeit nicht so, wie du es gewünscht hast, von der Hand ging, eine Maschine nicht funktionierte oder, wie ich einmal beobachtet habe, eine Schnur riß und du hintenüber zu Boden gefallen bist. Oft hast du fluchend die große Getreidemühle repariert, wenn der Roggen aus den Sautratten im hölzernen Trichter der kaputten Maschine stockte, nicht ins stählerne Mahlwerk hinunterrieselte und zermalmt werden konnte. Mit noch blutender Nase habe ich der aus Angst und Verzweiflung schreienden Mame das Küchenmesser aus der Hand gerissen. Ob ich mich wohl dazwischengeworfen hätte, wenn sie versucht hätte dich zu erstechen? Oder ob ich der Mame nach den ersten bestialischen Messerstichen das Werkzeug aus der Hand genommen hätte, um dir endgültig den Garaus zu machen, Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmalteufel! Und noch ein paar Stiche, Neunmal-, Zehnmal-, Elfmalteufel! … »Der Roggen geht rot auf, weil Kain den Abel erschlagen hat!« hast du einmal zu mir gesagt, mein Tate. Auf den Sautratten! Die Mame ist in die Schwarze Küche hinausgegangen, hat die Blutlache ihres Sohnes wortlos und devot aufgewischt, während du wieder hinausgegangen bist zu deiner Arbeit, ob auf dem Kirchenfeld am Rande der Friedhofsmauer, auf dem Spitzanger mit dem angrenzenden Tümpel, der umrandet war von unzähligen hochgewachsenen braunen Schilfkolben, wo sich haufenweise Frösche und Schlangen tummelten, oder auf die mysteriösen und vergifteten Sautratten, unweit vom Ufer der Drau, in die Nähe des Skeletts von Odilo Globocnik, der sich König und Globus nannte und stolz verlautbarte: »Zwei Millionen ham’ma erledigt!«
Ein paar Jahre später – ich ging in die Handelsschule – hatte ich einmal einen lautstarken Raufhandel mit meinem jüngeren Bruder im Zimmer, aus dem deine Eltern herausgestorben waren. Du bist mit deinen nägelbeschlagenen, von den Sautratten noch erdigen Goisererschuhen über die sechzehnstufige Holzstiege gehastet, über die du einige Jahre davor mit dem Leichenbestatter Stimniker deine dicke tote Mutter in einer kuscheligen Wolldecke über die Stiege hinunter ins Aufbahrungszimmer der ehemaligen Knechtstube getragen hattest – dein ehrwürdiger Vater und Enz-Bauer wurde wiederum zwei Jahre davor in der von Tischlerhand gezimmerten, stolzen Bauernstube aufgebahrt, mit Pfauenfedern hinter seinem eingerahmten, lebensgroßen, vom Fotografen retuschierten Porträt –, hast also nach unserem Raufhandel die Türschwelle des Sterbezimmers deiner Eltern übertreten und wolltest mich schlagen, ohne nachzufragen, wer denn eigentlich den Streit angezettelt hatte, denn nur ich konnte es gewesen sein, ich war immer der Bösewicht! Ich stand immer unter Verdacht! Ich war stur, bockig und eigensinnig, hatte immer das letzte Wort und war ein Strick! Du Strick! Du! Bei unserer Rauferei haben mein Bruder und ich die zusammengeleimte Platte des Tisches gespalten, auf dem zu Weihnachten, solange die Großeltern noch lebten, der aufgeputzte Christbaum mit Lametta und Sternspritzern stand, mit Schokoladefröschen, Schokoladevierklee, Schokoladescheren und Schokolademessern, und in dem in der Schublade das kartonierte Familienbild mit einem in einem großen Bastkorb aufgebahrten, über und über mit weißen Wachsblumen verzierten toten Kind lag, dem man einen Rosenkranz um die zum Gebet gefalteten Finger gewickelt hatte, das ich immer wieder, die Schublade leise öffnend, verstohlen und heimlich betrachtete, wobei ich mich, wenn die dicke Großmutter mit offenem Mund heftig schnaufend im Bett lag oder nach einer frischen Semmel auf dem Nachttisch griff und am Enzian-Schmelzkäse zahnlos herumkaute, den ich ihr, zusammen mit einer Schachtel Niemetz-Schwedenbomben, vom Kaufhaus »Deutsch« gebracht hatte, hineinträumte in den Sarg. »Seppl, geh zum Deutsch und bring mir eine Schachtel Enzian!« hat es oft geheißen. An der Anrichte im Kaufhaus Deutsch stehend, schaute ich sehnsüchtig auf die auf einem Tablett liegenden geräucherten Forellen mit den offenen Mäulern und zählte die feinen Fischzähnchen, schaute auf die mit Kokos bestreuten Schwedenbomben und unterhielt mich immer lange mit der ständig einen rosaroten Bazooka-Kaugummi kauenden jungen Verkäuferin mit dem auftoupierten, fettglänzenden Haar, das sie mit der Schwarzkopf-Frisiercreme »Flot« eingeschmiert hatte. Manchmal blies sie den Bazooka-Kaugummi so groß auf, daß man ihr halbes Gesicht nicht mehr sehen konnte. Einmal kratzte sie verlegen und fluchend den auf ihrem Gesicht zerplatzten Kaugummiballon von den Wangen, Lippen und Augenbrauen. Lange klebten die Kaugummiteilchen auf Wimpern und Augenlidern. Oft dachte ich daran, daß ich nach dem Besuch der Dorfvolksschule eine Kaufmannslehre absolvieren sollte, ich wollte der Nachfolger der nach der Frisiercreme riechenden Walder Liesl werden, die Bauern und Keuschler, der Pfarrer und die Pfarrerköchin sollten zu mir kommen und Zucker und Salz kaufen, gemahlenen Roggen und Weizen, Mannerschnitten und Bensdorf-Schokolade, Heller-Zuckerln und Schwedenbomben, Bazooka-Kaugummi, geräucherte Hechte und Karpfen aus dem Bach, der durch die Sautratten in die Drau fließt und auf dem wir im Winter von der Mitte des Dorfes weg durch die wohl drei Kilometer weit sich erstreckenden Felder bis zum Ufer der Drau mit den Schlittschuhen fuhren.
Der Großvater, der mit Sichel und Sense auf den Sautratten arbeitete, längst bevor der Judenmassenmörder auf dem Gemeinschaftsfeld verscharrt wurde, lag mit schwarzen Lederschuhen im Sarg, in der ehrwürdigen Bauernstube, während die Großmutter, die in der verruchten, nach Tabak riechenden Knechtstube aufgebahrt wurde, nur mit schwarzen Socken, ohne Schuhe, in den Sarg gelegt wurde. Als der Großvater, der Enznopa, in der Bahre lag, hast du uns mit traurigem Gesichtsausdruck gebeten, in den Garten zu gehen, Blumen abzuschneiden und in den Sarg zu legen. Ich kann mich noch genau an deine Worte erinnern: »Buben! Geht’s in den Garten und bringt’s dem Opa ein paar Blumen!« Nacheinander gingen wir mit einem Küchenmesser in den Garten und schnitten Gladiolen und Astern ab und deckten den Leichnam mit einem Blumenmeer zu, nur sein Gesicht mit dem weiterwachsenden Bart konnte man noch sehen. Als deine Mutter in der Knechtstube im Sarg lag, war von Blumen keine Rede mehr, nicht eine Gladiole oder eine Rose lag auf ihrem schwarzgekleideten Körper, nur das durchsichtige schwarze Bahrtuch, auf dem in silberner Farbe Rosen aufgedruckt waren, keine roten und keine rosaroten. Die kinderlose Ragatschnig Tresl, deine Schwester und meine Taufpatin, trat an den Sarg heran, legte ihre Hände auf die mit einem Rosenkranz umflochtenen und zum Gebet gefalteten kalten Hände ihrer Mutter, rüttelte daran, sodaß der Sarg mit der schweren Toten zu wackeln begann, und jammerte: »Muata! Muata!« Ich hatte die Hoffnung und gleichzeitig die Angst, daß der schwarze Sarg mit der Toten vom Katafalk rumpeln, der Sarg abstürzen und die Tresl sich auf die Verstorbene werfen und sie totschlagen würde, weil sie, ihre ehrwürdige und geliebte Mutter, ohne jemanden zu fragen, gestorben war. Die Mame dagegen war froh, daß es vorbei war. Es ist vorbei! hat es geheißen. Tagtäglich mußte sie dreimal der ständig unzufriedenen, wehleidigen und mürrischen Alten das Essen über die Stiege in ihr Zimmer bringen. Am Morgen, nach der Stallarbeit, kam die Mame mit einer Waschschüssel und mit einem frischen Handtuch, säuberte das Gesicht und den Nacken der Alten, beschmierte ihr dünnes silbergraues Haar mit dem stark duftenden Veilchenhaaröl, drehte die beiden mit flinken Fingerbewegungen geflochtenen Haarzöpfe zu einer Schnecke und verknotete sie mit den schwarzen Haarnadeln auf ihrem Hinterkopf. Oftmals ging ich in ihr Zimmer und roch am Veilchenhaaröl, beschmierte damit meine eigenen Haare, zog wieder die Tischschublade heraus, um das abgebildete tote Kind zu betrachten, während die schon delirierende Großmutter in ihrem Krankenbett murmelte: »Unsa Kotz hot Katzlen ghobt, siebene, ochte, neune. Ans hot kane Tatzlen gehobt, steckt mas wieder hinten eine.« Eine Woche vor ihrem Tod schrie sie immer wieder: »Jockel! Jockel! Hilf mir! Ich will nicht sterben!«, worauf der Vater die letzten Nächte in ihrem Zimmer, im Bett seines vor zwei Jahren verstorbenen Vaters schlief. Am Todestag der Großmutter öffnete ich ihre Schlafzimmertür und wollte die Tresl, meine Taufpatin, zum Mittagessen rufen, als ich erschrocken vor der nackt mit auseinandergespreizten Beinen und offenstehendem Mund im Bett liegenden Großmutter stand. Die Tresl hielt ein tropfendes Tuch in der Hand und machte eine Handbewegung, die mir sagte, daß ich mich zurückziehen solle. Sie hatte dabei einen schamvollen und gleichzeitig bösen Gesichtsausdruck. Ich blieb einen Moment wie angenagelt stehen und kam mir vor wie ein erstarrter Pfau, der seinen Teufelsschrei verschluckt hat. Ich schloß erschrocken die Tür und lief halb betäubt vom Anblick der nackten Toten über die sechzehnstufige Stiege hinunter. Zur Mame, die am Sparherd stand und mit einem Holzlöffel im Rindsgulasch rührte, sagte ich kein Wort, niemals, bis zu ihrem Tod nicht, auch dir, mein Tate, habe ich diese Geschichte nie erzählt, ich habe mich immer dafür geschämt, obwohl wir einander ein halbes Jahrhundert über den Weg gelaufen sind, niemandem habe ich das Geständnis gemacht, als zehnjähriges Kind eine nackte, alte, tote Frau mit auseinandergespreizten Beinen in einem Bett gesehen zu haben, ausgerechnet deine Mutter, mein Tate, auch dem Pfarrer im Beichtstuhl habe ich davon nichts erzählt. Oder hätte ich es vielleicht zu Ostern dem Pfarrer im schwarzen Beichtstuhl mit dem violetten Vorhang beichten sollen? Vielleicht hätte mir der Pfarrer wie nach jeder Osterbeichte empfohlen, mich an den Altar zu knien, meine Sünden zu bereuen und drei Vaterunser zu beten, denn nur meine Neugierde – »Neugierige Leute sterben früh!« – war daran schuld, daß ich eine nackte, alte Frau mit auseinandergespreizten Beinen in einem Totenbett gesehen hatte. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.
Zu Ostern waren alle Kruzifixe in der Kirche – wie das Holzfenster des Beichtstuhls – mit einem violetten Tuch verdeckt, bis zur Auferstehung am Samstagnachmittag. Manchmal stieg ich auf den Altar, schob am Kopf des Gekreuzigten das violette Tuch zur Seite und überzeugte mich, daß tatsächlich noch Jesus von Nazareth in meinem Heimatdorf Kamering an diesem Kreuz hing und nicht nach Jerusalem ausgewandert war, denn die Glocken, erzählte der Pfarrer Franz Reinthaler, verlassen in der Osterwoche die Kirchen und fliegen nach Rom. Am Gründonnerstag setzte ich mich nach der Frühmesse unter dem Pfarrhof auf eine mit Moos bewachsene, morsche Bank zwischen den Birken und ließ den Kirchturm nicht aus den Augen. Die Erlösung kam erst am Karsamstag. Nachdem wir vom Pfarrer beim Gottesdienst erfahren hatten, daß Jesus auferstanden sei, zündeten wir zur Feier der Auferstehung auf dem Kirchenfeld, unweit vom Friedhof, ein Osterfeuer an und starrten wortlos eine halbe Stunde lang ins Feuer, stocherten mit einem Haselnußstecken in der Glut. Die Ragatschnig Tresl, deine Schwester, mein Tate, die es verabsäumt hatte, bei der Totenwäsche ihrer Mutter das Zimmer abzusperren, war es auch – ich habe es schon hundert Mal erzählt und werde es trotzdem nicht los –, die mich als Dreijährigen beim Eichholzer über die breite Stiege ins Aufbahrungszimmer meiner verstorbenen Großmutter trug, die im Zweiten Weltkrieg drei Söhne im jugendlichen Alter verloren hatte und an gebrochenem Herzen gestorben war, das schwarze, durchsichtige Bahrtuch in die Höhe hob, mir das Totenantlitz meiner an gebrochenem Herzen verstorbenen Großmutter zeigte und »Schau, Seppl! Schau!« sagte. Ich schaute, wahrscheinlich schaute ich lange mit gerunzelter Stirn aufs aschgraue, eingefallene Gesicht der Toten, es gibt ein paar Fotos, auf denen man mich bereits als Kleinkind mit gerunzelter Stirn sieht. Vielleicht hatte ich auch, während ich auf das Totenantlitz der Großmutter schaute, einen Bleistift in der Hand, immer wieder soll man mich mit einem Bleistift in der Hand gesehen haben. Lange hat es mich in Tag- und in Nachtträumen hin- und hergerissen zwischen dem bleichen, eingefallenen Gesicht meiner im Sarg liegenden Großmutter mütterlicherseits, dem ersten Bild aus meinem Erinnerungsvermögen, das mir im Alter von drei Jahren den Stempel des Todes aufdrückte, und deiner nackten, mit auseinandergespreizten Beinen im Bett liegenden toten Mutter, die ich überraschend als Zehnjähriger zu Gesicht bekam. Das Zimmer, in dem die tote Großmutter nackt im Bett lag, roch nach einer brennenden Wachskerze, nach Urin, Kot und Verwesung und nach dem Seifenwasser mit der Terpentinseife, auf der ein Hirsch eingeprägt war. Der Mund der Großmutter stand offen, die rechte Hand lag auf dem Bett, aus dem mein Großvater herausgestorben war, die linke Hand mit ihren gichtkranken Fingerknochen hing leblos über die Bettkante. Ob sich der eingeprägte Hirsch auf der glitschigen Kernseife schon verwaschen und verflüchtigt hatte, konnte ich nicht sehen, ich schloß erschrocken die Tür des Sterbezimmers und trippelte über die sechzehnstufige Holzstiege nach unten.
Erzählt habe ich dir auch nie, mein Tate, daß ich mit zwanzig Jahren, als ich in Klagenfurt in der damaligen Hochschule für Bildungswissenschaften in der Keltengasse als »Schreibkraft« in einem Büro gearbeitet habe, in meiner Einsamkeit und Unfähigkeit, Menschen zu begegnen, ein halbes Jahr mit einer Plastiksexpuppe, die ich in einem Sexshop in der Karfreitagsstraße gekauft hatte, zusammengelebt habe und meine aufgeblasene Lebensgefährtin eines Tages, nachdem ich ihrer überdrüssig geworden war, in einer Holzhütte auf einen Holzblock gelegt, mit einem Hackbeil zerstückelt habe, bis die Luft endgültig draußen war, und beim nächsten Besuch in meinem bäuerlichen Elternhaus auf dem Kirchenfeld – auf deinem von der Kirche, der Diözese Gurk, genauer gesagt, gepachteten Feld –, auf dem wir als Kinder und Jugendliche wie auf den Sautratten das Getreide, den Türken und die Erdäpfel einbrachten, begraben habe zwischen den kniehohen Brennesseln, vor der Friedhofsmauer, unter den weit ausgebreiteten Ästen eines nach Moschus duftenden, blühenden Holunderstrauches, neben deinem abgestellten, verrosteten, einscharigen Pflug mit den Holzgriffen, der von Jahr zu Jahr gebrechlicher wurde und immer mehr in sich zusammensackte und sich in die Erde bohrte, bis sich das rostige Eisen der Pflugscharen vor der Friedhofsmauer einfraß in den Knochenstaub der unchristlichen Selbstmörder, die man, ein paar Jahrzehnte davor, noch außerhalb der Friedhofsmauer begraben hatte. »Vor dem Holler«, hast du oft gesagt, »soll man den Hut ziehen!«, denn die Holunderblüten und die Holunderfrüchte sind das beste Mittel gegen Grippe und Erkältungen, hast du oft gesagt. Selbstverständlich habe ich das Grab meiner Puppe mit Vergißmeinnicht vom Rand deines Kirchenfeldes und mit der an der Hausmauer hochrankenden Schlingpflanze mit dem Namen »Jelängerjelieber« geschmückt, die abends einen süßlichen Duft verbreitete und von den Nacht- und Totenkopffaltern umschwärmt und die damals von der an der Hausmauer herunterhängenden Hakenkreuzfahne verdeckt wurde. Deine Mutter, die Enznoma, lief mit erhobenen Händen – die weit herunterhängende Fahne mit den herabrieselnden toten und noch zappelnden Totenkopffaltern zur Seite schiebend – aus dem Haus und rief: »Heil Hitler! Heil Hitler!«, als Hitler angeblich im offenen Wagen, aus Villach kommend, die Dorfstraße entlang nach Spittal an der Drau gefahren sein soll. Auf der Nordseite der Friedhofsmauer bin ich auf den Friedhofsabfallhaufen gestiegen, habe aus den vermoderten Totenkränzen die Plastikrosen und Plastiknelken herausgezogen und habe nicht nur das Grab meiner Puppe geschmückt, sondern auch noch einen Draht mit einer Plastiknelke um den hölzernen Haltegriff deines rostigen Pfluges gewickelt. Als Kinder haben wir diese Plastikrosen und Plastiknelken vom Friedhofsabfallhaufen ins Knopfloch gesteckt, sind die Dorfstraße auf und ab gelaufen und haben gerufen: »Achtung! Achtung! Radio Wien! Tausend Tote und keiner hin!« (Später, mein Tate, hast du die Reste des Pfluges in den Spitzanger geschleppt, hast den Sumpf mit dem Schilf, den Fröschen und Schlangen zerstört, zehn, zwanzig Autowracks hast du bei Nacht und Nebel im Sumpf versenkt, hast, wie man heute sagen würde, ein Biotop vernichtet, mit Erde aufschütten und mit einer Raupe planieren und auch noch den kleinen Auenwald nebenan abholzen lassen, um wieder ein paar tausend Quadratmeter Ackerland dazuzugewinnen.) An der südseitigen Friedhofsmauer, unmittelbar neben der Holunderstaude und dem rostigen Pflug, war der zweite Gemüsegarten meiner Mame, wir waren schließlich eine große Familie mit Eltern, sechs Kindern, Großeltern, Magd und Knecht. Als Kind stellte ich mir vor, daß die langen Wurzeln der Petersilie und die Wurzeln des Maggikrautes unter der Friedhofsmauer hindurchwachsen und an den vermodernden Leichen der toten Kinder und an den jugendlichen Selbstmördern zerren und saugen, sie zum Leben erwecken oder die Skelette umschlingen und sie so lange würgen, bis sie tot sind, endgültig, denn immer wieder haben mich der drei Tage und drei Nächte aufgebahrte Großvater und die ebenfalls über siebzig Stunden in meinem Elternhaus aufgebahrte Großmutter heimgesucht in meinen nächtlichen Träumen als in mir Auferstandene, mit denen ich zu ringen, die ich abzuwehren hatte, die mich als völlig Vereinsamten und Alleingelassenen immer wieder gerufen haben und in ihren Sarg hineinzerren wollten, denn sie brauchten eine Gespielin, einen Spielmann in der Langeweile ihrer Ewigkeit. »Das sind die Spielleute!« hast du gemeint, mein Vater, wenn wir am Abend gemeinsam am Küchentisch saßen und einen Löffel Butter in den Milchkaffee hineinrutschen ließen, sodaß die Fettaugen der sich auflösenden Butter an der Oberfläche des hellbraunen Linde-Kaffees schwammen, die ich mit meinem Löffel immer schneller im Kreis drehte, bis der Kaffee überschwappte und die Fettaugen der Toten vom zweiten Gemüsegarten der Mutter neben der Friedhofsmauer auf deinen »Kärntner Bauer« oder auf mein Karl-May-Buch spritzten.
»›Komm mit! Komm mit!‹ ruft die Tschufitl«, sagte immer wieder meine bettlägrige Großmutter und meinte den Totenvogel, wenn ich in ihrem Zimmer am Tisch saß, auf den ein Jahrzehnt lang der Weihnachtsbaum, abgeholzt im väterlichen Wald gegenüber den Sautratten, gestellt wurde, und heimlich das auf einem kartonierten braunweißen Foto in einem aus Bast geflochtenen Kinderwagen aufgebahrte und mit Wachsblumenkränzen geschmückte tote Kind betrachtete. »Seppl! Hast du die Tschufitl gehört? Sie ruft mich schon wieder! Ich werde bald sterben! ›Komm mit! komm mit!‹« Seltsamerweise habe ich meine aufgebahrten Großeltern jahrzehntelang in den nächtlichen Träumen immer wieder in einem Spiegel gesehen, der im großelterlichen Zimmer an der Westseite hing und in dem ich, auf dem grünen, eingebeulten und nach Urin stinkenden Diwan sitzend, die hinter mir im Bett liegende Großmutter beobachten konnte, wenn ich von meinem Karl-May-Buch aufschaute. Ich erinnere mich, während ich ununterbrochen das Schnaufen der Schwerkranken und bald Sterbenden hörte, »Im Sudan« und »In den Schluchten des Balkan« gelesen zu haben. (»Im Sudan« und »Die Sklavenkarawane« bekam ich nach einer Christmette am Weihnachtsabend von der Pfarrermarie geschenkt, eingepackt in Weihnachtspapier, auf dem grüne Fichtenzweige und Tannenzapfen abgebildet waren. »Steck’s schnell weg!« hat sie gesagt, die eifersüchtigen Dorfleute sollten es nicht sehen. Außerdem wußte ich nicht, was sie überhaupt von den Karl-May-Büchern hielten, denn die Nachbarsfrau, die uns immer wieder Bockshörndln, das trockene, harte, schokoladebraune, bitter schmeckende Johannisbrot, brachte, sprach immer wieder vom »Schund«, den ich lese, und daß mich Karl May »verderben« werde. Selbst der eifersüchtige Bruder rief manchmal: »Mame! Er liest schon wieder Karl May!« Zu Hause, als bereits die Küche nach Weihrauch roch, öffnete ich das Paket, das ich von der Pfarrermarie bekommen hatte, und wußte, daß ich nicht nur ein paar Monate weiterexistieren würde auf dieser langweiligen Hube in diesem katholischen Dorf, sondern auch würde fortgehen können in den tiefen Orient, in die Schluchten des Balkan, durchs wilde Kurdistan, von Bagdad nach Stambul, durch das Land der Skipetaren, zu den Orangen und Datteln und zu Satan und Ischariot.) Manchmal habe ich der Großmutter auch aus den Karl-May-Büchern vorgelesen, habe dabei oft meinen Kopf gehoben und in den Spiegel, auf ihre Augen geschaut, ob sie mir wohl noch zuhört, bis ich ihre immer müder werdenden Augenlider beobachten konnte und ihr Schnarchen hörte, dann habe ich wieder leise weitergelesen. Schweißgebadet und mit heftig schlagendem Herzen wachte ich auf, wo immer mir die Toten erschienen – mir erschienen sie als meine Seele durchlöchernde Geister und Gespenster, die immer wieder »Komm mit! Komm mit!« riefen – ob im Inland oder im Ausland, in Indien oder in Spanien –, denn man hatte mich einst als Kind genötigt, über hundertvierzig Stunden mit den verstorbenen Großeltern zusammenzuleben. Sogar die Tür zum Aufbahrungszimmer war ausgehängt, in dem die Toten auf der schwarzen Bahre lagen, zuerst der Großvater, zwei Jahre später die Großmutter. An den vier Ecken des Sarges waren silberne, tatzenartige Füße mit eingravierten Zehen angebracht, die den Toten den Dauerlauf ins Himmelreich erleichtern sollten. Man konnte die Tür des Aufbahrungszimmers nicht schließen, man konnte die Toten nicht wegsperren, die Tür war ausgehängt. Da auch die Tür der Küche offenstand, konnte ich beim Suppenlöffeln, den Kopf nach rechts drehend, ins gegenüberliegende Zimmer schauen und die erhobene Nasenspitze, die gefalteten Hände und die Fußspitzen, die mit einem durchsichtigen schwarzen Bahrtuch abgedeckt waren, der toten Großmutter sehen. Das ganze Bauernhaus roch nach verwelkenden Blumen, nach brennenden Wachskerzen und nach einer mehr und mehr verwesenden, den Sarg ganz und gar ausfüllenden dicken Leiche. Ich schob einen Löffel voll Suppe in den Mund und schaute auf die Verstorbene, drehte wieder meinen Kopf, schaute auf den vollgefüllten Frittatensuppenteller, in dem zerhackte Petersilie und Maggikraut schwammen, und schaute wieder rechts auf die Leiche, drehte wieder meinen Kopf und schaute auf den Suppenteller … Leiche, Suppenteller, Petersilie, Leiche, Suppenteller, Leiche, Maggikraut …, so ging es die ganze Zeit hin und her, bis ich aufstand, den leeren Porzellanteller mit dem Blumenmuster zum Abwasch trug und wieder der Toten einen Besuch abstattete, eine dicke, violett glänzende, über das Bahrtuch laufende Fliege von ihrem Antlitz verscheuchte.
Immer wieder ging ich auch als achtjähriges Kind ins Aufbahrungszimmer und betrachtete die Veränderungen im Gesicht meines toten Großvaters, der ebenfalls jahrzehntelang neben dem Galgenbichl auf den Sautratten gearbeitet hatte, die sich wie Igelstacheln sträubenden Oberlippenbarthaare und seine von Tag zu Tag dunkler werdenden Fingerspitzen – blau wurden sie, als ob man sie eingeklemmt hätte an der Pferdestalltür, wo sein Lieblingspferd stand, der schöne, stolze braune Fuchs, den er verehrt und dessen Fell er, wie du mir erzählt hast, mein Tate, besonders zum Glänzen gebracht hatte für die Pferdeschau, indem er die Bürste in seinen eigenen, tagelang gesammelten Urin tauchte und damit das Fell des Pferdes bürstete. Nicht nur eine, mehrere vergoldete Plaketten hat der Großvater für seine Pferdezucht erhalten. (Ein an einem Magengeschwür leidender Bauer aus dem Dorf, hast du mir erzählt, soll über Monate jeden Morgen auf nüchternen Magen seinen eigenen Urin getrunken haben und steinalt geworden sein.) Einmal ging auch mein ältester Bruder, der zukünftige Hoferbe, mit dem du gemeinsam meinen geliebten Marillenbaum – neben den Karl-May-Büchern mein einziger Besitz – abgehackt und damit auch meine junge Seele zerstückelt hast, wohl in der Hoffnung, daß der Alte wiederauferstehen werde, aus dem Aufbahrungszimmer in die Küche zu der den Leichenschmaus vorbereitenden Mame und sagte zu ihr: »Mame! Der Opa hat den Mund offen!« – »Ja, ja«, sagte die Mame ungerührt. Enttäuscht drehte der Bruder wieder um und ging zurück ins Aufbahrungszimmer in der Hoffnung, daß der brachliegende Alte sich erheben, denn auch sein Bart und seine Fingernägel waren weitergewachsen, und wiedererwacht das Bahrtuch wie dichte schwarze Spinnweben von seinem Körper zerren, aus dem Sarg steigen und zu seiner Arbeit in den Stall oder auf die Sautratten zum Skelett von Odilo Globocnik gehen werde.
Als der Großvater starb, hast du, mein Tate, den Trauergästen ein Szegediner Gulasch mit Kalbfleisch spendiert, und als die Großmutter starb, hast du ein Szegediner Gulasch mit Schweinefleisch denen, die Leich’ gegangen, zum Totenschmaus gekommen sind, servieren lassen, mit Semmeln vom Deutsch, die in einem geflochtenen Brotkorb lagen, den ich beim Handarbeiten in der Volksschule mit Bast umwickelt und schließlich zum Muttertag meiner Mame geschenkt hatte mit einem Strauß frischer Maiglöckchen. Die Kälber und zukünftigen Kühe waren dir näher als die Schweine, deshalb gab es zum Leichenschmaus der Großmutter kein Kalbfleisch mehr, sondern nur mehr das Fleisch von einem Schwein, das mit dem frischen Gras aus den Sautratten und mit den Küchenabfällen gefüttert worden war. Die Mame war immer glücklich, wenn sie zum Muttertag von mir einen Strauß Vergißmeinnicht oder Maiglöckchen und einen selbstgebastelten Korb geschenkt bekommen hatte. Die Schwester backte eine Schwarzwälder Kirschtorte und stellte sie auf einem Silbertablett mit einem weißen Tortenblatt in die Tischmitte. Es roch nach Bohnenkaffee und nach frischen, noch feuchten Maiglöckchen, die ich in derselben Stunde aus dem Sumpfgebiet der Sautratten geholt hatte. Die Mame setzte sich an den Tisch, betrachtete ehrfurchtsvoll die Geschenke und sagte in ihrer sprachlosen Art immer wieder: »Ach so! Ach so!«, wenn ich ihr von der langwierigen Flechtarbeit mit dem Peddigrohr aus dem Stamm einer vietnamesischen Rattanpalme erzählte. Den handgeflochtenen Korb hatte ich auch noch mit farblosem, glänzendem Lack bepinselt. Sie gönnte sich eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten Pause, stöhnte danach leicht auf, sagte: »Kindele, ich muß …!« und ging wieder wortlos an ihre Arbeit.
Die Mame war für den Haushalt, für die Kinder, Schweine und für die Hühner zuständig, der Vater für die Stalltiere, die Kühe, Stiere, Ochsen und Kälber, für das Kirchenfeld, den Spitzanger und für die Sautratten. Ich erinnere mich nicht, daß die Mutter, die drei Brüder im Zweiten Weltkrieg verloren hatte, die Sautratten, in denen der Judenmassenmörder Odilo Globocnik verscharrt wurde, auch nur ein einziges Mal betreten hätte. Ich sehe meine Mutter – und ich kann sie in und außerhalb von mir suchen, solange ich will, bei Tag wie bei Nacht – nie am Rande des Manig am Galgenbichl neben den Sautratten verschwitzt mit einer Sichel im Getreidefeld, eine Getreidegarbe haltend oder gebückt auf dem Erdapfelacker eine erdige Erdäpfelknolle nach der anderen in einen Stahlkorb werfend, sie war auf den Sautratten seit Anbeginn von der Bildfläche verschwunden. Sie war nie im Bild auf den Sautratten. Als wir noch Kinder waren, arbeitete sie auf dem Spitzanger und auf dem Kirchenfeld, ging neben dem schnaubenden und auf den feuchten Boden stampfenden schwarzen Ackergaul her, aber niemals arbeitete sie bei der Getreideernte oder bei der Erdapfelernte auf den Sautratten mit. Ob du ihr, die im Zweiten Weltkrieg drei Brüder im jugendlichen Alter verloren hatte, die Mitarbeit auf den Sautratten, in denen das Skelett des Judenmassenmörders Odilo Globocnik lag – »Zwei Millionen ham’ma erledigt –, ersparen wolltest, mein Tate? Die überarbeitete Mame beklagte sich einmal bei dir: »Ich bin sechzig Jahre alt, habe sechs Kinder ausgetragen, die Füße tun mir ständig weh, ich bin müde, ich kann nicht mehr soviel arbeiten. Was ist, wenn ich hin bin, was wird dann aus der Hube?« – »So schnell bist du nicht hin!« war deine schlagfertige Antwort. Als ich einmal nach einem mehrtägigen Aufenthalt aus Italien zurückgekehrt war, vermißte ich die kleine schwarze Katze und fragte dich bei der abendlichen Fütterung im Stall nach ihr. Ein Heubündel in den Händen haltend, bist du vor mir stehengeblieben und hast wörtlich in einem gespreizten Hochdeutsch gesagt: »Sie ist gestorben!« Während die Mame nicht so schnell hin sein wird! Die starrgewordene Katze, so hast du es mir erzählt, hast du im Stall in die Kotrinne geworfen. Die Eisenflossen der im Stall installierten, elektrischen Entmistungsanlage haben sie hinaustransportiert und mit dem immer nachfolgenden Stallkot auf dem Misthaufen begraben. Die Großmutter väterlicherseits, die dicke Theresia Winkler, geborene Jesenitschnig, sagte einmal zu meiner Mame: »Jetzt ist es auch schon wieder fünf Jahre her, seit die Muata hin ist!« »Das hat mir sehr weh getan«, beklagte sich einmal die Mame bei mir, »wie kann sie nur sagen, daß meine Mutter hin ist!«