majn mame hot mir gesungen a pojlisch lid:
baj ale grint schojn der korn in feld –
fun majn wejz is nischto noch kejn ssimen –
jaschek majn gelibter kumt schojn nischt zu mir,
jaschek hot ojfgehert zu kumen ---
majn mame hot mir gesungen doss pojlische lid –
in ire ojgn is gewen der himl.
Meine Mame sang mir ein polnisches Lied:
Bei allen grünt schon das Korn im Feld,
mein Weizen hat noch kein einzig Blatt –
Jasiek mein Liebster kommt nicht zu mir,
weil er keine Liebe mehr hat ---
Meine Mame sang mir das polnische Lied –
in ihren Augen war der Himmel.
Da schickt der Herr das Feuer aus / Es soll den Prügel brennen, / Das Feuer brennt den Prügel nicht, / Der Prügel schlägt den Pudel nicht, / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.
ich las am abend, nachdem du ein paar Stunden davor mit schlotternder blauer Arbeitshose über die Stiege hinuntergeflohen warst, nach meiner Aufforderung mich zu schlagen, im »Schnee am Kilimandscharo« weiter. Vielleicht war ich auch friedlich und dankbar, daß wir alle drei noch lebten, Tate, Mame und Sohn, denn einige Jahre davor war dir die Hand, wie es heißt, bereits ausgerutscht und mein Kinderblut geflossen, und die Mame hatte vor Angst geschrien: »Willst du den Buben erschlagen!« Die Mame war schon zu Bett gegangen und streckte unter der Madonna della Seggiola, unter der ich wohl gezeugt worden bin – oder war es vielleicht auf einem Heuschober auf den Sautratten über dem Skelett des Judenmassenmörders Odilo Globocnik – oder auf dem Kirchenfeld hinter der Holunderstaude, wo ich zwei Jahrzehnte später meine Plastiksexpuppe begraben habe – oder vielleicht auf dem Spitzanger im Schilf zwischen den quakenden Fröschen und Ringelnattern? –, ihre Füße aus und warf einen letzten Blick auf das an der Wand über dem eingerahmten Bild ihrer Mame – auch meine Mutter nannte ihre eigene Mutter »Mame« – hängende grün phosphoreszierende, diabolische und uns immer angst machende Kruzifix, diesen überirdischen Leuchtkörper mit Augen, die uns auch im Schlaf beobachten und kontrollieren konnten, bevor sie einschlief mit ihrem Kopftuch, Tag und Nacht trug sie es wegen ihrer häufigen Kopfschmerzen und wegen ihrer immer wiederkehrenden Migräne. Der Knecht stellte das ausgeleerte, nach dem selbstgebrannten Schnaps mit den Enzianwurzeln von der »Blutigen Alm«, auf die du einst als Vierzehnjähriger dreißig Schafe von deinem Heimatdorf Kamering sechzig Kilometer weit an den reißenden Flüssen Lieser und Malta entlanggetrieben hast, riechende Stamperl mit dem aufgeklebten roten Almrausch und blauen Enzian laut auf den Tisch und drückte seine letzte, stinkende filterlose »Austria C« mit seinen gelben Fingern im gläsernen Aschenbecher aus, steckte das rotweiße Zigarettenpäckchen, auf dem ein weißer Adler, der eine rotweißrote Fahne auf der Brust trägt, in die Rocktasche, ging in seine verlotterte und muffige Knechtstube und legte sich in sein Bett, auf dem, ausgestopft mit den trockenen gelben und beigefarbenen Türkenfedern aus den Sautratten, ein Bettsack lag, in dem er langsam versank. Auch die hinkende und taubstumme Magd hatte sich mit dem speckig abgegriffenen Gebetbuch, auf dem ein schwarzes Kreuz reliefartig aufgedruckt war, in ihre kleine Kammer zurückgezogen und trank den letzten Schluck aus der Buerlecithinflasche, bevor sie die Bettdecke über ihren Körper zog. Besonders im Winter mischte sich in ihrem Zimmer der nußartige Geruch des Buerlecithin mit dem Duft des in einem kleinen Ofen brennenden, knisternden und krachenden, harzigen Fichtenholzes, an dem da und dort noch grüne Nadeln hingen. Die nach Kernseife riechenden Geschwister hatten sich ebenfalls in ihre Betten zurückgezogen, der eine mit dem Bastei-Schundheftchen von Wyatt Earp, der andere mit dem »Mord im Pfarrhaus« von der Agatha Christie, und mit dem Bastei-Roman »Chefarzt Dr. Noll« die ebenfalls im selben Zimmer schlafende Schwester, die später, als auch sie nervenkrank wurde, einmal sagte: »Wenn ich einmal jemanden umbringe, dann einen Arzt!« Der zukünftige Hoferbe rührte niemals ein Buch oder ein Schundheftchen an, legte sich ohne Lektüre ins Bett und zog die Decke über seinen Kopf. Zu fünft schliefen wir im Kinderzimmer, das im Winter von einem Sägespänofen beheizt wurde, aber noch saß ich mit meinem »Schnee auf dem Kilimandscharo« neben dem die Bauernzeitung lesenden Tate unter der laut tickenden Küchenuhr in der Küche. Wir waren oft die letzten, die zu Bett gingen. Manchmal, erinnere dich, mein Tate, vergnügten wir uns damit, Ratten zu erschlagen, die am späten Abend, wenn es still geworden war im Hause, vom Dachboden, wo der aufgeschüttete Roggen aus den Sautratten lag, über die sechzehnstufige Stiege, über die du mit dem Leichenbestatter Stimniker deine tote Mutter in einer Wolldecke ins Parterre getragen hast, hinunterhopsten, im Flur die Kurve kratzten und weiter in den Keller zu den frischen Erdäpfeln hinuntertrippelten und denen wir mit einem Stock in der Hand nachliefen. Als wir einmal mit dem Stock eine quietschende und bereits aus dem Maul blutende Ratte an die Wand drückten, lachten wir einander an, niemals haben wir uns so beglückt angelacht, das ganze Leben lang nicht. Nach diesem gemeinsamen Mord an der Ratte wußte ich, daß uns nichts und niemand mehr wird trennen können.
Einmal, erinnere dich, mein Tate, flog in der Nacht mit lautem Getöse der rotglühende Deckel des Sägespänofens in unserem Kinderzimmer in die Luft und donnerte vor unseren Betten zu Boden. Wir schreckten aus dem Schlaf und blickten durch den Nebel des beizenden Rauchs auf den entsetzt mit der bleichen Mame an der Türschwelle stehenden zahnlosen Tate, schliefen aber bald wieder ein, beglückt, ein Abenteuer erlebt zu haben, beglückt, gespürt zu haben, daß jemand sich Sorgen um uns machte, daß wir noch da, daß wir am Leben und überhaupt auf der Welt waren. »Ich habe mit allem gerechnet!« sagte die Mame am nächsten Tag zu mir – der Schrecken stand ihr noch ins Gesicht geschrieben –, wir hätten also alle tot sein können nach der Explosion des Sägespänofens, die dich, mein Tate, mit unseren Kinderleichen endgültig wieder in den Schützengraben zurückgeworfen hätte zu deinen Kameraden, besonders zu dem einen, der einen Kopfschuß bekam, während er dich nach einem Streifschuß am Hals verarztete, und tot in deine Arme sank, woraufhin du im dreckigen Schützengraben auf die Knie gefallen bist, eine Soldatenpietà, wie sie im Buche steht. Ich stellte mir nach den Worten der Mame – »Ich habe mit allem gerechnet!« – fünf weiße Särge vor, im einen liegt der Seppl, in den anderen der Hansl, der Jockel, der Peter, die Mitze. Und alle müssen sie auf einmal zu Grabe getragen werden, das halbe Dorf hätte unsere halbe, in weißen Särgen liegende Familie aufgeschultert und zum Friedhof hingebracht. Ob sie uns übereinander im engen Grab begraben hätten oder nebeneinander in einem breit ausgehobenen Loch, habe ich mich immer wieder gefragt. Ob die Mame nach dem Begräbnis all ihrer Kinder den Hof endgültig verlassen hätte oder gar in die Drau gegangen wäre? (Einmal, als wir Brüder noch gar nicht auf der Welt waren, wollte sie mit ihrer Tochter, ihrem ersten Kind, den Hof verlassen, wußte aber nicht wohin, ging zu ihrem sprachlos gewordenen Vater, dem Eichholzeropa, der im Zweiten Weltkrieg drei Söhne im jugendlichen Alter verloren hatte, und beklagte sich bei ihm, der sie aber mit seinen in die Länge gezogenen Worten beruhigte: »Es wird … schon wieder gehen! Es wird … schon wieder … werden!« Worauf sie auf die Enznhube zurückkehrte, zu meinem Vater und zu ihrer tyrannischen und selbstsüchtigen Schwiegermutter, denn es wird schon wieder werden. Ihr ständig böse dreinblickender Schwiegervater, der das erste, aber unrentable Elektrizitätswerk im Dorf gebaut und damit ein Vermögen verloren hatte – eine Hube und ein riesiges Stück Wald in der Nähe des Skigebietes Goldeck hätte er dafür kaufen können –, mußte Antidepressiva und Schlaftabletten schlucken. »Wo sind meine Pulver!« hat es öfter geheißen. Oftmals steckte man ihm einen Löffel Traubenzucker in den Mund, wobei die Staubzuckerreste lange in seinem Oberlippenbart hängen blieben. (Ein anderes Mal rief der Vater: »I geh in den Heustadel und häng mi auf!« – »Und was soll dann aus den Kindern werden!« schrie die Mame zurück. Worauf er den Strick wieder fallen ließ und zu seiner Arbeit ging, in den Stall, auf den Spitzanger oder auf die Sautratten zum Skelett.) Die Mame erzählte mir einmal, daß ich als einjähriges Kind, mit einem Bleistift in der Hand, beinahe an einem Brotbröckchen erstickt wäre, das in der Luftröhre steckengeblieben war. Ich rang keuchend nach Luft, mein Gesicht war bereits blau, ich röchelte nur mehr. Die verzweifelte Mutter klopfte mir auf den Rücken, aber es half nicht, bis sie auf die Idee kam, mich an den Füßen zu packen und kopfunter festzuhalten. Als sie mich schüttelte, fiel das speichelbenetzte Brotbröckchen aus Sautratten-Mehl auf den Küchenboden. Eine Zeitlang soll ich noch heftig keuchend nach Luft gerungen haben, aber mein blaugewordenes Gesicht färbte sich bald wieder rot. Ich schrie wie am Spieß, erzählte die Mame, aber ich überlebte. »Er schreit wie am Spieß!« hat es öfter geheißen. Man hat mich also aufgespießt, mit dem Bleistift meiner Kindheit, den ich schon als Einjähriger immer mit mir herumgetragen habe.
Erinnere dich, mein Tate, gemeinsam lasen wir damals an einem Abend in der »Bunten Illustrierten«, die uns wöchentlich gratis zugestellt wurde, da die blauen Blechwerbetafeln dieser Wochenzeitung die Bretter deiner verlotterten Heustadelwand nicht nur verzierten, sondern überhaupt zusammenhielten: »Was ist denn passiert?« rief der Bauer aus dem Nachbardorf, der seinen Mais über dem Skelett des Judenmassenmörders Odilo Globocnik auf den Sautratten eingebracht hatte, und lief, nachdem er von einem Begräbnis gekommen war, eine Treppe des Tennbodens hinauf, sprang in das runde, über die Hälfte mit bereits gärendem Mais aus den Sautratten gefüllte Silo hinunter, packte die Leichen seines vierjährigen Sohnes Franz, seines achtjährigen Sohnes Karl und ihrer Großmutter und hob sie mit Hilfe seines Schwagers aus dem Silo. Die beiden Kinder und die Großmutter waren an den giftigen Gasen erstickt. Kaum hatte der Bauer mit seiner Frau den Hof verlassen, um zum Begräbnis eines Bekannten zu gehen, hatte der kleine Franz zu seinen Geschwistern gesagt: »Gehen wir in das Silo und treten den Türken nieder!« Als Franz den hohen Rand des Silos erstiegen hatte und auf den dampfenden Türken gesprungen war, taumelte er, benommen von den Silogasen, bereits nach wenigen Sekunden, prallte mit seinem Kopf gegen die Betonwand des Speichers und brach zusammen. Laut schreiend holte die kleine Schwester Elisabeth die gehbehinderte Großmutter zu Hilfe. Inzwischen war der größere Karl in den Silo gesprungen, um seinem Bruder zu helfen. Als die Großmutter mit ihrem Krückstock die Treppe zum Tennboden hinaufgegangen war und die beiden Buben ohnmächtig im Sautratten-Silo liegen sah, sprang sie ebenfalls hinunter und wollte sie aus dem verhängnisvollen Futtersilo ziehen. Der kleine Franz, den sie zuerst retten wollte, hatte seinen Arm um den Hals seiner auf dem Bauch liegenden toten Großmutter geschlungen. Die drei Leichen wurden in der Bauernstube aufgebahrt, in der Mitte die Großmutter, links von ihr der achtjährige Karl, rechts der vierjährige Franz, und wir beide, mein Tate, sahen sie gemeinsam auf einem Bild, als die anderen längst schlafen gegangen waren, wir waren alleine mit den bebilderten Toten aus der »Bunten Illustrierten« hinter dem Tisch in der Küche. Die schwarzgekleidete, alte Frau lag mit einer weißen Kieferbinde und einem Rosenkranz in ihren zum Gebet gefalteten Händen in einem schwarzen Sarg. Links und rechts von ihr lagen in kleineren weißen Särgen die zwei Kinder, deren Hände ebenfalls zum Gebet gefaltet und mit einem Rosenkranz umschlungen und deren Unterkiefer genauso mit einem auf dem Haupt verknüpften weißen Tuch festgebunden waren. Vor den drei Särgen war zu Füßen der alten Frau ein kleiner Hausaltar errichtet. Eine große Vase mit braunen Schilfkolben, die in der Nähe des Sautrattenskeletts gewachsen waren, und eine kleine Vase mit zwei roten und einer weißen Rose standen auf dem Tisch. Links und rechts von einem Kreuz, auf das ein weißer Christus aufgenagelt war, brannten zwei Wachskerzen. Auf dem Katafalk, auf dem die drei Särge standen, der aus zwei aneinandergestellten Tischen bestand und mit einem weit hinunterhängenden weißen Tuch überdeckt war, waren mit Stecknadeln kleine Immergrünzweige festgeheftet. Auf dem Leichnam der Frau lag ein durchsichtiges schwarzes Bahrtuch und über den Leichen der beiden Kinder ein weißes Bahrtuch. Zwei Jahre bevor der Familie die Söhne Karl und Franz an den Silogasen starben, erkrankte ihr Sohn Leopold tödlich an Leukämie. Ein Jahr später fuhr ein betrunkener Autoraser ihren Sohn Andreas zu Tode, lasen wir, mein Tate, gemeinsam in der »Bunten Illustrierten«, als die anderen, die Geschwister, die Mame, Magd und Knecht, längst schlafen gegangen waren. »Es geht mir keiner in das Silo, ohne mich oder die Mame zu fragen!« hast du, mit zitternden Händen die »Bunte Illustrierte« haltend, mit gerunzelter Stirn und vor Schrecken weit aufgerissenen Augen zu mir gesagt.
Auch der Sarg meiner an gebrochenem Herzen verstorbenen Großmutter mütterlicherseits war rundum mit Immergrünzweigen geschmückt aus dem Garten, vor dem mein Großvater auf die Nachricht vom Tod seines dritten Sohnes hin in die Knie gegangen war und die Großmutter meiner zukünftigen Mutter die Nachricht vom Tod ihres Bruders überbracht hatte mit den Worten: »Der Adam kommt auch heim, aber anders!« Als einmal – Jahrzehnte später – der verhaßte Nachbar, der sich am Nikolaustag als Krampus verkleidete und als Kinderschreck von Haus zu Haus zog, unsere hohe, buschige Immergrünstaude, die ihm sein Badezimmerfenster vollkommen verdunkelte, einfach weghacken wollte, lief die Schwester aus der Küche und rief: »Nix die Immergrünstaude weghacken!« Der eingeschüchterte Nachbar, der immer unseren Gemüsegarten betreten mußte, um die Marillen an seiner Hausmauer ernten zu können, ließ resigniert das Hackbeil sinken und verschwand aus unserem Garten. Später sägte er seinen immer noch Früchte tragenden Marillenbaum ab, um nicht mehr unseren Garten betreten zu müssen und um einen endgültigen Schlußstrich an seiner an unseren Gemüsegarten, direkt ohne einen einzigen Meter Zwischenraum, angrenzenden Hausmauer ziehen zu können. Oft erinnerte ich mich an den Duft der reifen orangeroten und karminrot gefleckten Marillen an der südseitigen Hausmauer des Nachbarhauses, an den Duft der sich über den halben Gartenzaun ausbreitenden Rosenstaude mit den rosaroten Blüten und an den Duft der reifen Früchte einer im Garten hochrankenden Tomatenstaude, besonders dann, wenn die Sonne schien, die fleischigen Tomaten Risse bekamen und aufplatzten. Als ich einmal dem Pfarrer Franz Reinthaler eine kleine Tomate zeigte, die in einer Tomate gewachsen war, sagte er: »Das ist das Herz vom Jesukind!« Ich wagte es nicht, das kleine Tomatenherz in den Gemüsekorb zu legen, ich trug es ins Schlafzimmer und legte es in den Nachtkasten neben meine Karl-May-Bücher. Neben der »Sklavenkarawane« trocknete es ein und schrumpelte zusammen.
Einige Tage nachdem mein jüngerer Bruder und ich uns im Sterbezimmer deiner Eltern geschlagen hatten und du, mein Tate, wohl erkannt hast, daß der sich nun weit über anderthalb Jahrzehnte hinziehende Kampf zwischen dir und mir für dich für immer verloren war, daß du dir nicht einmal mehr die Lufthoheit über unsere gemeinsame Totenpolsterschlacht sichern konntest, sagtest du zu mir, breitbeinig an der Küchentürschwelle stehend mit deinen von Stallmist umrandeten Goisererschuhen und in deiner geflickten blauen Arbeitsmontur, den speckigen, seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gewaschenen Hut auf dem Kopf, mit flehentlichem Gesichtsausdruck: »Sepp! Mach uns keine Schand!« Du hattest Angst, daß ich irgend etwas anstellen und die heile Welt der Familie in Verruf bringen könnte. Ich nickte verlegen und wich deinem Blick aus, mit schlechtem Gewissen schon vor einer möglichen Schandtat, denn das röm.-kath. Gewissen war immer schlecht. Du hast dich umgedreht und bist wieder hinausgegangen in den Heustadel oder in den Stall zu deiner Arbeit, die nur dir alleine gehörte, denn die anderen, ob Kinder oder Erwachsene, denen gehörte nichts, sie waren Knechte und Mägde und lebendige Werkzeuge der Hoferhaltung. Zwei, drei Tage hast du immer gebraucht, bis du mich besuchtest, wenn ich krank war, während du oft um zwei Uhr nachts aufgestanden bist, um bei einem kranken Kalb das Fieber zu messen. Das Fieberthermometer, das du dem Kalb in den Hintern gesteckt hast, war dasselbe Fieberthermometer, das die Mame uns Kindern unter die Achseln geschoben hat. Und als sich darüber meine Schwester einmal mokierte und zu dir sagte, daß du zwischen Mensch und Vieh nicht unterscheiden kannst, hast du lapidar und verächtlich geantwortet: »Arsch ist Arsch!« Wie oft, mein Tate, habe ich als abgewiesenes und beleidigtes, aber auch als widerspenstiges und bockiges Kind, wie ich von der Mame genannt wurde – »Das schwarze Schaf«, auch das Wort »Zigeuner« ist nicht selten gefallen –, deinen Hut an der Innenseite berochen, den du jeden Abend nach der Stallarbeit an das Kleiderhakenbrett gehängt hast, auf dem waagrecht eine Züchtigungsrute mit einem roten Band lag, und habe deine Nähe gesucht und im Geruch deiner Kopfhaut dein in meinem Kopf schlagendes Herz gefunden. »Ich salz dir den Hintern ein!« hat es auch öfter geheißen. Die Züchtigungsrute war ein Trauerweidenzweig aus dem Sumpfgebiet der Sautratten. Zwischen Schärpe und Hut steckte ein zerfleddertes, blau irisierendes Pfaufederauge, es war zerrissen, es war blind. Selbst das Wort »eigensinnig«, mit dem man mich oft beschrieb, war ein Schimpfwort. »Er«, hat es geheißen, »er ist schon wieder so eigensinnig!« Oder: »Du mußt immer das letzte Wort haben!« »Straßenkehrer wirst du werden!« sagte die Mame öfter zu mir. Von diesem Augenblick an begleitete ich jede Woche den Dorfstraßenkehrer, der einen goldenen Zahn hatte, von den Sautratten bis zur Dorfmitte, bis zu meinem Elternhaus.
Ich wurde immer todtraurig, wenn ich mit meinem aufgeschlagenen Karl-May-Buch in der Neuen Küche neben dir saß, mein Tate, und das Knistern der Wochenzeitung »Der Kärntner Bauer« hörte, dich von der Seite betrachtete, die winzigen braunen Flecken auf deinem Ohr zählte und daran dachte, daß du doch eines Tages nicht mehr sein wirst, jedenfalls nicht mehr mein lebender Tate, daß du eines Tages doch wirst sterben müssen. Manchmal fragte ich mich dabei, wie lange noch die Mame kein Wort sagen und die zuckende Nadel ihrer ratternden Nähmaschine mit ihren Morsezeichen für sie sprechen wird. Wie oft wird sie noch einen Schluck Weihwasser trinken und mit ihren schmalen violettroten Lippen leise ein Gebet sprechen? Wie oft wird sie noch das bunte Kopftuch auf ihrem Nacken verknoten? Wie oft wird der Tate im Stall noch den Teufel und den Doppelteufel an die kotbespritzte Wand malen, dort, unter dem Schwalbennest? Wie oft noch wird er uns böse, verbittert oder zärtlich ansehen, wenn er, in der winterlichen Kälte mit dem Traktor aus Feistritz von der Mühle kommend, mit mehreren noch warmen, in Seidenpapier eingehüllten Brotlaiben, auf denen ein paar Schneeflocken zerrinnen, die Küche betritt? Vor diesem Tag fürchtete ich mich, jahrzehntelang, ich konnte mir ein Leben ohne Mame und Tate nicht vorstellen, gleichzeitig aber hatte ich auch immer wieder den Wunsch, endlich erlöst zu werden von den Eltern, um endlich – ohne betrauert zu werden oder jemandem weh zu tun oder weh getan zu haben – verlorengehen, mich endlich umbringen zu können mit einem kotbeschmierten Kalbstrick, mit dem die Kälber auf die Welt gezogen wurden. Die Geschwister spielten sowieso keine Rolle, sie waren mir egal, und ich war ihnen ebenso egal. Achtzig Jahre alt warst du, als du einmal zu mir gesagt hast: »Zehn Jahre möchte ich noch leben, dann ist die Hölle sowieso voll, dann bin ich im Himmel!« Gelebt hast du dann noch fast zwanzig Jahre. Ein anderes Mal, als ich dir unmittelbar nach meiner Rückkehr auf deinen Bauernhof von meinen schlaflosen Nächten erzählte, sagtest du: »Ich bin achtzig Jahre alt und schlafe wie ein Toter. Und du?«
»Du gehst verloren!« hat der religiöse Milchmesser, der Albert Sattlegger, der jeden Monat einmal in mein Elternhaus kam, um den Fettgehalt der Milch zu prüfen, und bei uns auch aß und übernachtete, immer gerufen, »wenn du nicht an Jesus Christus glaubst, dann gehst du verloren!« Einen Hodensackbruch ließ der Milchmesser, der einmal zu mir sagte: »Gott sieht bei finsterer Nacht eine schwarze Ameise auf einem schwarzen Stein!«, nicht ärztlich behandeln und tauchte immer wieder mit seinem großen Sack, der seine Hose zwischen den Oberschenkeln ausbeulte, auf dem Bauernhof auf. »Wenn es soweit ist, dann ist es soweit«, sagte er, »dann hat er mich eben zu sich gerufen!«, wenn ich missionieren wollte und ihm empfahl, sich operieren zu lassen. Tatsächlich starb er auf seinem elterlichen Bauernhof einige Zeit später an dieser Krankheit. Zwischen den Kühen auf deinem Melkerthron sitzend, hast du einmal den ebenfalls im Stall arbeitenden Milchmesser mit ängstlichem Gesichtsausdruck gefragt: »Hast du schon einmal den leibhaftigen Teufel gesehen?« Als ich ein Kind war, hast du öfter zu mir gesagt: »Du brauchst vor dem Teufel keine Angst haben, Seppl, aber vor dem Teufel im Menschen!« Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, mein Tate, und auch davon hast du wohl nichts gewußt, ich habe dir nichts davon erzählt, weinte ich einen Sommer lang – die Fenster standen offen, wir hörten die Schreie Tausender Frösche – jeden Abend im Bett unter dem Schutzengelbild um meine Mame. Auch der Mame habe ich davon nichts erzählt. Nie habe ich ein Wort über meine Ängste und Todessehnsüchte verloren. Ich hatte Angst, daß die Mame eines Tages sterben wird, wenn auch erst in Jahrzehnten, daß sie überhaupt eines Tages wird sterben müssen, in fünfhundert oder tausend Jahren vielleicht, allein der Gedanke an ihren möglichen Tod war für mich entsetzlich. Ich weinte so lange, bis das Kopfposter naß wurde, Abend für Abend, und lauschte dabei, wenn mein Winseln leiser wurde, auf das Gequake der Frösche aus dem Sumpfgebiet der Sautratten, auf das Rauschen des Windes zwischen den hohen, stramm am Waldrand stehenden Fichten und Tannen oder auf den niederpeitschenden Regen. Erst dann schlief ich mit erhitzten Wangen und zitterndem Unterkiefer ein. Die im selben Zimmer schlafenden Geschwister mokierten sich manchmal über mein lautes Schluchzen, das ich nicht verbergen konnte auf meinem Polster unter dem Schutzengelbild, hinter dem der Schatten des allabendlich vor dem Schlafengehen aus der Jauchegrube aufsteigenden Teufels hockte. Blickte ich in der Nacht auf den breiten Rahmen des Bildes, sah ich die schwarzen spinnendünnen Finger des sich hinter dem Heiligenbild verbarrikadierenden Teufels. Versteckte ich mich unter der Bettdecke, wuchsen die Hände des Teufels zu großen, dicken, über den Kindern wachenden Klauen an. Wie oft, mein Tate, hatte ich Angst, daß die Madonna della Seggiola von Raffael von der Wand fallen und dich und unsere Mame erschlagen könnte. Oft bin ich aufs Bett gestiegen, auf das Kopfpolster der Mame, und habe am schweren Bild gerüttelt, habe geprüft, ob es wohl noch fest verankert ist in der Wand, die das Schlafzimmer der Eltern vom Schlafzimmer der Kinder trennte, habe mir manchmal aber auch überlegt, ob ich nicht den Nagel lockern sollte, damit sie beide vom schweren schwarzen Rahmen des Heiligenbilds erschlagen werden, aber das Bild hing zu dicht über dem Bett der Mame, ich hatte Angst, daß nur sie vom Heiligenbild erschlagen wird und du überlebst. Danach hatte ich wieder ein schlechtes Gewissen, kniete vor dem Bett der Mame mit Blick auf die Madonna nieder, begann das Schutzengelmein zu beten und schob mir zur Selbstbestrafung auf meiner Handinnenseite eine Stecknadel aus der Nähkiste der Mame unter die Haut, vorsichtig, damit ich mir nicht ins Fleisch stach. Manchmal saß ich mit zehn, zwanzig Stecknadeln, die ich mir in der rechten Hand unter die Haut geschoben hatte, heftig schnaufend und mit zusammengebissenen Zähnen als kindlicher Fakir unter dem Herrgottswinkel und genoß meine Schmerzen. Zwischen den beiden Bildern, dem Bild mit der Madonna della Seggiola in deinem Schlafzimmer und dem Schutzengelbild, auf dem ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln ein Kind über die Holzbrücke eines Baches führt, befand sich eine dünne Zwischenwand, ein Mauerwerk, das uns mit den auf beiden Seiten daran hängenden Bildern zugleich beschützte und trennte. Gerne hätte ich ein Loch in die Wand gebohrt und nach der Hand meiner ebenfalls einschlafenden Mame gegriffen, wenn wieder der von Nazareth, angestachelt vom Teufel, der sich selber hinter dem Schutzengelheiligenbild mit einem Tintenbleistift an die Wand gemalt hatte, seine spießige Dornenkrone in meiner Kinderseele kreisen ließ und mich zur Unterwerfung und zu den bekannten Worten aus der Selbstmördergrube meiner Kinderseele zwang: »Jesus! Du Schwein!« Bevor ich verlorengehen konnte.
Der Pfarrer Franz Reinthaler, der in Stockenboi den alten, künstlerisch wertlosen Hauptaltar aus der Kirche räumen und im Schuppen des Pfarrhofs zum Entsetzen der damaligen Mesnerin aufheizen ließ – »Seither habe ich mich vom Reinthaler abgewandt!«, sagte die Mesnerin zu mir, »ich habe ihn nicht mehr mögen! Wie man nur einen geweihten Kirchaltar aufheizen kann!« –, dieser Pfarrer erzählte uns Schulkindern im Religionsunterricht, daß jeder Mensch, auch die kleinsten Kinder, ununterbrochen von einem Engel beobachtet und abgehört werden, einem Engel, der in einem Buch nicht nur die guten und die schlechten Taten der Kinder aufschreibt, sondern auch ihre Gedanken und Fantasien lesen kann, die guten wie die bösen. Und wenn es dann einmal soweit ist, wenn der leibhaftige Tod mit der Schröckenfux-Sense über das Dorf und alles niedermähend über die Sautratten geht, das Skelett des Judenmassenmörders streift und auch uns den Garaus macht, wird das »Lebensbuch«, wie es der Pfarrer nannte, aufgeschlagen, werden die guten und bösen Taten vorgelesen von der Engelsstimme, und der Mensch kommt in den Himmel oder in die Hölle. Später einmal ging ich in meiner Langeweile, als der Pfarrer nach dem Gottesdienst in Stockenboi, wo ich ministrierte, in einem schwarzen Kasten mit violetten Vorhängen den Gläubigen die Beichte abnahm, hinter den Altar und sah, daß die Heiligenfiguren und die Engel keine Körper hatten, daß sie nur auf Bretter aufgemalt oder auch ausgehöhlte Statuen ohne Herz und Hirn waren. Von diesem Augenblick an wußte ich, daß diese eingeweidelosen und herzlosen Engel mit ihren hohlen Köpfen, die mich jahrelang gequält und beängstigt hatten und mich hätten in den Selbstmord treiben können, nicht beobachten und aushorchen und ein Tage- und Nachtbuch über mich schreiben konnten, denn sie waren leblos und nur aus Holz geschnitzt. Bald nach der Entdeckung dieser Lüge und Einschüchterung des Pfarrers, der in unserer ganzen, acht Jahre lang dauernden Schulzeit kaum einmal ein Wort über den Zweiten Weltkrieg verloren hatte und niemals von den Sautratten sprach, obwohl er bereits Pfarrer von Kamering war, als der Judenmassenmörder Odilo Globocnik in den Sautratten verscharrt und ihm ein christliches Begräbnis im Nachbardorf Paternion verweigert wurde – der Pfarrer Reinthaler muß davon gewußt haben –, spürte ich wochenlang den Zwang, abends, wenn ich bereits im Bett lag und die Mame auf der anderen Seite der Mauer noch herumkramen hörte, unter dem an der Wand hängenden Schutzengelbild in das Kopfpolster hineinzuflüstern: »Jesus, du Schwein! Jesus, du Schwein!« Als ich danach Schuldgefühle bekam, flüsterte ich weinend ins Kissen hinein: »Jesus, du bist kein Schwein! Jesus, du bist kein Schwein!« und hielt mich an der Bettdecke fest, denn der hinter dem Schutzengelheiligenbild mit einem violetten Tintenbleistift aufgemalte Teufel, der nie schläft, zeigte mir mit den langen Krallen seiner Finger den Weg zur Jauchegrube, dort sollte ich hingehen, vom Balkon springen und eintauchen mit meinem nassgeweinten Polster zur Strafe für meine ungeheuerlichen und verzweifelten Gotteslästerungen und ihn, den Teufel, hinunterbegleiten in seine Behausung, bis auf den Grund der tiefen, von Menschenkot gefüllten, stark nach Ammoniak riechenden Jauchegrube. Jeden Abend, bevor die Kinder zu Bett gingen, verließ der Teufel pünktlich die Jauchegrube, schmuggelte sich ins Kinderschlafzimmer und versteckte sich hinter dem großen, eingerahmten Bild, auf dem ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln ein Kind über die Brücke führt, wachte und lauschte die ganze Nacht auf den Atem der fünf Kinder, bis wieder in meinen Angstfantasien der mich immer wieder heimsuchende Kameringer Kirchturm auftauchte, den man auch von den Sautratten aus sehen konnte, und mit seiner Kirchturmspitze, an der ein Kreuz angebracht war, in mein Herz drang und mich durch seine Stöße immer tiefer in die Matratze mit der Roßhaarfüllung hineinstampfte, bis die meinen Brustkorb durchdringende Spitze des Kirchturms mit dem Kreuz neben meiner Wirbelsäule durch meinen Körper fuhr, mich im Bett festnagelte und ich von Engeln und Teufeln umschwirrt wurde, die im Wettstreit versuchten meine Seele zu retten, jeder auf seine Weise, sie in den Himmel hinauf- oder in die Hölle hinunterzutragen.
Nachdem der Pfarrer Franz Reinthaler in Stockenboi einen neuen schönen Altar für die Kirche bekommen hatte und die alten, wertlosen Altarteile längst auf den Dachboden und in die Holzhütte des Pfarrhofs geschafft worden waren, schoben wir im Winter, wenn der eiskalte Pfarrhof, wo wir nach dem Gottesdienst einen Hagebuttentee tranken und für unsere Ministrantendienste selbstgemachte, mit Zucker bestäubte Schaumrollen von der Pfarrerköchin bekamen, einen Engelsflügel nach dem anderen und eine Heiligenfigurattrappe, die wir keck lachend an unseren Knien zerbrachen, in den heißen roten Schlund des Ofens hinein. Wiederum Jahrzehnte später, als ich wieder einmal nach Stockenboi zur sogenannten Bichlkirche ging, um an einem warmen Frühjahrstag die Wirkungsstätte meiner Kindheit zu besuchen und um mich an die Ministrantenzeit zu erinnern, lag neben dem Pfarrhof auf einem Abfallhaufen ein auf ein Brett aufgemalter Engel neben ein paar ebenfalls auf Bretter aufgemalten Soldaten, die noch vom alten, zerstörten Altar stammten und erst Jahrzehnte später vom Dachboden geschafft, auf den Abfall geworfen wurden und damals vom Pfarrer, von der Pfarrerköchin oder von uns Ministranten nicht verheizt worden waren. Den Engel mit den kugelrunden blauen Augen unter dem Arm haltend, der seinen rechten Zeigefinger mahnend in Richtung Himmel hebt, ging ich über den mit gelben Himmelsschlüsseln bewachsenen Hügel hinunter und brachte eines der letzten Bruchstücke meiner Kindheit und das letzte Bruchstück des ehemaligen Kirchenaltars von Stockenboi, vor dem ich als Ministrant jahrelang gekniet hatte, in Sicherheit. Monat für Monat fuhren wir mit dem Pfarrer Franz Reinthaler und mit der Pfarrermarie mit einem weißen, innen nach Benzin riechenden Volkswagen über Tragail und Zlan nach Stockenboi. Wenn ich halb betäubt vom Benzin und von der kurvenreichen Fahrt auf dem Rücksitz des weißen VW saß, lagen meine rotweißen Ministrantenkleider, die ich aus der Sakristei der Kameringer Kirche auf die Reise in die Berge mitgenommen hatte, auf meinem Schoß.
Auf den Sautratten, auf denen wir in der Kindheit über dem dahinmodernden Skelett des Judenmassenmörders Globus – »Zwei Millionen ham’ma erledigt!« – das Getreide für das tägliche Brot geerntet haben, schwang ich dann zwei Jahrzehnte später wieder mit dir, mein Tate, die Schröckenfux-Sense, auf der das österreichische Bundeswappen mit dem Adler aufgedruckt war, nachdem ich über mich und über dich mehrere Bücher geschrieben, danach meine Sprache verloren, mich zurückkatapultiert hatte in die Sprachlosigkeit meiner Kindheit und als Elendshäufchen verzweifelt zu dir auf deinen inzwischen verlotterten Bauernhof zurückgekehrt war, wo ich den Stoff für die Heimkehr des verlorenen Sohnes sammeln wollte, ins von grausamen Schicksalsschlägen geprägte, kreuzförmig gebaute Dorf Kamering, in dem wir beide aufgewachsen sind und das im Jahre 1897, kaum ein Jahrzehnt vor deiner Geburt, zur Gänze abgebrannt ist. Bauernkinder, die zusahen, wie die Erwachsenen das trockene Erdäpfelkraut auf den Feldern verbrannten, zogen an einem windigen Oktobernachmittag ein Bündel Heu aus einem Stadel und zündeten es auf der Tennbrücke an. Der Wind trieb die Flammen in den Heustadel und setzte das Gebäude in Brand. Das Feuer griff auf die anderen Heustadel, Ställe, Bauernhäuser und Gesindehütten über und hinterließ einen dorfgroßen Aschehaufen, 26 Gebäude sollen abgebrannt sein. Danach, wenige Jahre vor deiner Geburt, mein Tate, wurde das Dorf wiederaufgebaut, das kreuzförmige und gottesgläubige Arrangieren der neugebauten Häuser und Wirtschaftsgebäude sollte ein weiteres schweres Unglück verhindern. Einige Jahre bevor das Dorf zur Gänze abbrannte, trat die Drau über die Ufer und riß den nördlichen Teil des rund um die Kirche angelegten Friedhofs in ihren braunen Fluten mit, sodaß die Skelette und die Kadaver der frisch verstorbenen Kinder und Erwachsenen, modernde Totenkränze und Kerzenstummel bis hinter den Schneeglöckchenwald des Manigs und hinter die Sautratten geschwemmt wurden, mehrere Kilometer talabwärts Richtung Villach. Während des Zweiten Weltkrieges stürzten zwei Männer aus dem Dorf im nahe gelegenen Wald eine mannsgroße Jesusstatue über einen Wasserfall hinunter. Der Pfarrer Franz Reinthaler zog den Torso aus dem Bach, fand aber die Arme des Gekreuzigten nicht mehr, sie blieben verschollen, obwohl er mehrfach bei Tag und mit einer Taschenlampe in der Nacht das ganze Bachufer abging. Die beiden Frevler, so erzählte uns Schulkindern der Pfarrer beim Religionsunterricht, mußten büßen und haben die Strafe Gottes bekommen, sie haben im Hitlerkrieg ihre Arme verloren, mußten mit hölzernen Armprothesen leben, an denen eiserne Haken angebracht waren, und bis zu ihrem Lebensende von Frauen und Kindern gefüttert werden. Abends vor dem Schlafengehen nahmen ihnen die eigenen Kinder die Armprothesen mit den spitzen Haken von den Oberarmen. Vielleicht war es nur eine Legende, vielleicht hat der Pfarrer diese Geschichte nur erfunden, vielleicht wollte er uns angst machen, denn wir sollten, wie es hieß, beten, beten und noch einmal beten. Zu Lebzeiten des Pfarrers und der Pfarrerköchin, die wir Pfarrermarie nannten, stand die armlose Jesusstatue festgehakt an der Wand im breiten, kühlen Flur des Pfarrhofes, immer geschmückt mit den Blumen der jeweiligen Jahreszeit. Im Winter wurden Trockenblumen in die schief hängende Dornenkrone eingeflochten, Pfaufedern und Getreideähren steckten zwischen dem Rücken des Gekreuzigten und der frischgekalkten Wand, zu seinen Füßen stand im Herbst eine Erntedankkrone mit den Ähren von Roggen, Weizen und Hafer aus den Sautratten, die aus dem Skelett des Judenmassenmörders gewachsen waren, beim Erntedankfest im Herbst, nach der vollbrachten Ernte, wurde sie in der Kirche bei einem Gottesdienst auf einen Katafalk gestellt, mit Weihwasser und Weihrauch gesegnet und danach feierlich mit brennenden Kerzen, Gebeten und Gesängen durchs ganze Dorf getragen.
Erinnere dich, mein Tate, als ich im Alter von neunundzwanzig Jahren wieder zu dir zurückgekehrt war, um eine Heimkehr des verlorenen Sohnes schreiben zu können, und ich dich überallhin begleitet habe bei den Arbeiten, ob im Wald oder auf den Feldern, stand umringt von den gelben Sumpfdotterblumen ein erschöpftes Kalb, das aus der Umzäunung ausgebrochen war und das du eine Stunde lang durch die Auen gehetzt hattest, bauchtief in einem Tümpel auf den Sautratten. Du hast einen Strick an den Hörnern des entflohenen Kalbes festgebunden, das du schließlich einfangen konntest, und wolltest es aus dem Sumpf ziehen, aber das Kalb ist verstockt stehengeblieben. Immer wieder hast du fluchend – Teufel! Teufel! Doppelteufel! – dem störrischen Tier den Haselnußstecken, den du auf den Sautratten von einem Strauch gebrochen hast, auf den Kopf geschlagen, bis seine Schnauze blutbeschmiert war. In immer schnellerer Reihenfolge fielen die Blutstropfen von der Schnauze und zuckten an der Wasseroberfläche des Tümpels zwischen den gelben Sumpfdotterblumen auf. Mit jeden Schlag hast du auch ein paar Fliegen und Bremsen getötet, die sich am blutverschmierten Kopf des Tieres festgesaugt hatten, aber das Kalb blieb unbeirrt im Tümpel zwischen den Sumpfdotterblumen und hochgewachsenen Schilfkolben stehen und ließ die halbstündige Züchtigung über sich ergehen. Schließlich wurde das Kalb von mehreren Männern aus dem Sumpf gezogen und von einem Fleischhauer an Ort und Stelle über dem Skelett des Judenmassenmörders geschlachtet, die blutige Haut und der Kopf des Kalbes wurden auf den Sautratten vergraben.
Minutenlang hast du Tag für Tag im Stall mit einem Hanfstrick ein anderes krankes, von Tag zu Tag magerer werdendes Kalb geschlagen, das am Fuß eine schmerzende Eiterbeule hatte, nicht mehr aufstehen konnte und nicht mehr fressen wollte. Bei der Züchtigung, die vierzehn Tage lang dauerte, hättest du dich, so die klagende Mame, überanstrengen und tot umfallen können. Heftig schnaufend und in Schweiß gebadet, hast du wutentbrannt die Züchtigungsrute auf den Stallboden geworfen. Manchmal hast du mit deinen abgearbeiteten Fingern den Kopf des Kalbes gekrault und hast flehentlich und zärtlich aufs Tier eingeredet: »Steh doch auf, du mußt was fressen, steh auf, sonst gehst du ein!« Schließlich jagte am Neujahrstag der Fleischhauer mit dem Schlachtschußapparat dem kranken Kalb den Bolzen in den Kopf, öffnete mit einem großen Küchenmesser eine breite Wunde am Hals, aus der dick das Blut herausplätscherte. Gemeinsam mit dem Fleischhauer hast du Stricke an den Vorderbeinen des Kalbes festgebunden und das tote Tier über den Schnee in den Hof hinausgeschleift, wo es mit dem Kopf nach unten am Frontlader des Traktors aufgehängt und enthäutet wurde. An der Hautinnenseite der Flanken und am Nacken konnte man deutlich die rotblauen Spuren der wochenlangen Züchtigung mit der Haselnußrute aus den Sautratten sehen. »Deck die Eingeweide mit Stroh zu, und wirf Schnee über die Blutflecken, man soll am Neujahrstag kein Blut auf dem Hof sehen!« hast du mir aufgetragen, im Namen deines Aberglaubens, mein Tate. Ein anderes Mal hast du einem Stier die schwarze, scharf riechende Zugsalbe auf die rote, eiternde, bereits nach Verwesung riechende Nackenwunde geschmiert. Du hattest vergessen die Halskette, die sich in die Nackenhaut des heranwachsenden Stiers fraß, zu erweitern. Es hätte nicht mehr lange gedauert, und die Eisenkette wäre dem Stier ins Fleisch gewachsen. Du hast einen zusammengedrehten Jutesack, auf dem »Café do Brasil« stand, dem Stier um den Hals gelegt, damit die blutige und vereiterte Kette nicht mehr mit der Wunde in Berührung kommen konnte. Der ganze Stall roch bereits nach Verwesung.
Immer wenn ich nach der Schlachtung eines Schweins mit einem in Fettpapier eingepackten, noch warmen Stück Fleisch im Pfarrhof auftauchte und es der Pfarrermarie mit den Worten »Das schickt die Mame!« überreichte, sprach ich, um den Pfarrer zu beeindrucken, vor dem mannsgroßen, armlosen, mit Blumen geschmückten Jesus ein Vaterunser und ein Schutzengelmein, denn ich wollte sein Erzministrant bleiben. Als der Pfarrer Franz Reinthaler wieder einmal meine bettlägerige Großmutter besuchte, ihr die heilige Kommunion brachte und die Beichte abnahm – ich empfing den Pfarrer im schmalen Flur meines elterlichen Bauernhauses mit einer brennenden Kerze und ging voraus über die sechzehnstufige Stiege ins Zimmer der Großmutter –, deutete er mit seinem gelben, von der Smart Export gebräunten Zeigefinger auf mich und sagte zu meiner stolzen Großmutter: »Und das ist mein Erzministrant!« Ich war also sein Erzministrant, und die anderen Ministranten, denen ich manchmal, um mich als Chef bei den Gottesdiensten unentbehrlich zu machen, falsche Anweisungen beim Ministrieren gab, waren meine Diener. Auf mein Zeichen hin läutete mein Cousin und Mitministrant die Glocke im falschen Augenblick, der Pfarrer am Altar drehte sich mit strengem Blick um, beide schüttelten wir entsetzt den Kopf, der Pfarrer und ich. Durch die Menge der Gläubigen ging ein leises Raunen. Der blonde Cousin, den ich oft mit einer Schröckenfux-Sense auf der Schulter zu den Sautratten gehen sah, hatte das Ritual durcheinandergebracht. Wenn wieder ein Schwein geschlachtet wurde, mein Tate, bettelte ich in deiner Abwesenheit und fragte die Mame, ob ich ein Stück Fleisch zum Pfarrhof bringen könnte, denn du sahst es nicht gern, daß wir dem Pfarrer Fleisch schenkten, du hattest mit dem Pfarrer viele Streitgespräche, ich stand immer dazwischen, ich hatte Angst, daß er mich nicht mehr aufnehmen wird im Pfarrhof, mich vielleicht sogar als Erzministrant entlassen wird, wenn du dich wieder einmal mit ihm gezankt hast. Wenn ich wußte, mein Tate, daß du dich in deine Arbeit im Stall, im Heustadel oder auf den Sautratten beim Skelett von Odilo Globocnik vergräbst, lief ich, nachdem ich die Mame angebettelt hatte, hinter deinem Rücken mit einem Stück frischem, oft noch warmem Schweinefleisch zum Pfarrhof hinauf und übergab es der Pfarrermarie mit den Worten: »Marie! Das schickt die Mame!«
Einmal aber – No milk today! – soll der Pfarrer beim Gottesdienst, in seiner Predigt, meine Mame aus heiteren Himmel gedemütigt haben mit den Worten: »Dem Pfarrer ein Lackl Milch mehr geben ist nicht notwendig!« Die Mame füllte die Milchkanne, die von der Pfarrermarie abends nach dem Melken in unserem Haus abgeholt wurde, immer bis zum Rand, so weit, bis die frische, noch kuhwarme Milch überschwappte. Die gekränkte, in der Kirchenbank sitzende Mame, die sich die Predigt angehört hatte und nicht verstand, warum der Pfarrer wegen so einer Lappalie in der Öffentlichkeit gegen sie stichelte, sagte zu mir: »Ich weiß schon, wen er damit gemeint hat! Wieso soll ich die Milchkanne nicht bis zum Rand füllen?« No milk today, it seems a common sight / But people passing by don’t know the reason why… Als wir in unserem Kinderschlafzimmer an einem Samstagabend die Hitparade aus dem Radio hörten, das einst der Onkel Hans und die Tant Mitze von der Konditorei Rabitsch aus Klagenfurt meinen Großeltern geschenkt hatten – das Radio trugen wir ehrfürchtig aus der Küche in unser Schlafzimmer –, und gerade das Lied »No milk today« von den Herman’s Hermits lief, tauchte die Mutter, der die Popmusik mißfiel, an der Türschwelle auf und sagte auffordernd: »Licht ausschalten! Schlafen gehen!« Ich antwortete keck: »Wart noch ein bißchen!« Als man kaum eine halbe Minute später im Lied ein schönes, zartes Totenglockengeläute hörte, sagte ich: »Jetzt kannst du gehen!« – »Ach so!« antwortete sie, lächelte hilflos und ein wenig gekränkt, runzelte die Stirn, schloß die Tür und ging in ihr Schlafzimmer. Wir hörten weiter die Hitparade, bis Mitternacht. No milk today, my love has gone away… Während sie sich ausstreckte in ihrem Bett unter der Madonna della Seggiola von Raffael und noch einmal, bevor sie einschlief, dem grün phosphoreszierenden Kruzifix erschrocken in die Augen schaute und ihn mit einem letzten Vaterunser und Gegrüßt seist du Maria beim Ausläuten der Totenglocke um Gnade bat, für eine gute Nacht und für den nächsten Tag.