ich wejss nischt woss ess trachtn
ferd in a regn –
ferd ajngeschpante
in schwere wegn.
nor ich –
ich wolt lign ojf ot di wegn,
ojf di wegn, bajnacht in a regn,
un wern geschlept fun nasse ferd
iber der grojer un schtiler erd.
Ich weiß nicht, was grübeln Pferde
im Regen –
Pferde, eingespannt
vor schwere Wägen.
Ich aber, ich läge
gern auf den Wägen,
auf diesen Wägen nachts im Regen,
gezogen von nassen Pferden
über die graue, stille Erde.
Da schickt der Herr das Wasser aus, / Es soll das Feuer löschen, / Das Wasser löscht das Feuer nicht, / Das Feuer brennt den Prügel nicht, / Der Prügel schlägt den Pudel nicht, / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.
nie, mein tate, niemals nahm ich in den Kindertagen eine unheimliche Stimmung wahr, wenn es hieß, daß wir auf dem Spitzanger und auf dem Kirchenfeld arbeiten werden, arbeiten gehen, hat es immer geheißen, aber ich erinnere mich an das Auftauchen eines gespenstischen Quälgeists – an einen in diesem Dorf ohne Ufer mit einem Tintenbleistift an die Wand gemalten Teufel, der sich selber verwischt und sich selber um den Schlaf bringt, Nacht für Nacht, denn der Teufel schläft nicht –, wenn der Zuruf des Pfaus kam, denn der Schrei des Pfaus war als Schrei des Teufels gebrandmarkt, daß wir wieder auf den Sautratten arbeiten gehen werden. Deshalb war ich auch immer froh, wenn mich am Vortag oder am selben Tag die Pfarrermarie fragte, ob ich sie in den Wald begleiten möchte zum Pilzesammeln für den Pfarrer Franz Reinthaler, der besonders die Steinpilze liebte, die wir ihm am frühen Abend, nachdem wir aus dem Wald zurückgekehrt waren, in einem Korb stolz zeigten, während er am Waldrand, an der von der Sommersonne gewärmten Südseite des Pfarrhofes, an einem Heiligenbild weitermalte. Nicht einen einzigen Pilz hast du in deinem Leben gegessen, mein Tate, niemals hast du einen Pilz aus dem Wald angerührt. Einmal, als uns die Pfarrermarie ein paar bereits gebratene Parasole gab, sagte ich scherzhaft in deiner Anwesenheit: »Wenn wir die Schwämme essen, werden wir alle sterben!« Du hast mich angeschrien, daß ich nicht so ein Zeug reden soll, und warst mißmutig und unansprechbar den ganzen Tag über. Heute, im nachhinein, wie man so sagt, nachdem ich erfahren hatte, daß wir als Kinder auf einem Feld gearbeitet haben, wo aus dem Kadaver des Odilo Globocnik, der sich »Globus« und »König« nannte – »Zwei Millionen ham’ma erledigt!« –, das Getreide reifte, mit dem in der Feistritzer Mühle »Seiler« jeden Tag Hunderte Brotlaibe gebacken und im ganzen Drautal, eingewickelt in knisterndes Seidenpapier, verteilt wurden, heute ist mir ein Licht aufgegangen. Alle haben sie vom Brot aus den Sautratten gelebt, das als Getreide aus dem Kadaver des Judenmassenmörders gewachsen ist, über mehrere Generationen gib uns unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen, denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Heute und jetzt glaube ich mich zu erinnern, daß damals die Erwachsenen und Kinder gereizt und unruhig wurden, wenn nur das Wort Sautratten fiel und wir die Schröckenfux-Sensen und die Schröckenfux-Sicheln auf den Wagen luden, das Zugpferd anspannten, die Lederriemen auf den Rücken des Gauls schnalzten und zur Arbeit auf dieses mysteriöse Feld fuhren. Warum hast du geschwiegen, mein Tate, warum hast du es wohl verschwiegen, denn du mußt es gewußt haben, wie all die anderen im Dorf, daß Odilo Globocnik von den Engländern in Mai 1945 auf den Sautratten verscharrt worden ist? Über ein halbes Jahrhundert hast du uns immer wieder deine Kriegsgeschichten erzählt, die immer wiederkehrenden und selben, ja, ausschweifend, und detailliert hast du davon berichtet und uns mit hineingezogen in die blutverschmierten Schützengräben deiner schauerlichen Kriegsjahre, aber du hast auch gesagt: »Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte ich niemals Deutschland, Holland, Frankreich oder das Meer gesehen, gar nichts hätte ich von Europa gesehen. Ich wäre immer auf dem Bauernhof geblieben! Der Krieg war das einzige Erlebnis meines Lebens.« Wir Kinder ließen kleine, ratternde Plastikpanzer, die wir beim Kirchtag gekauft hatten, knatternd und feuerspuckend über die Tischplatte laufen zwischen den roten Plastikindianern aus den Linde-Kaffeepackungen. Ich bin in dein Schlafzimmer geschlichen – es war taghell, das an der Wand hängende und in der Nacht phosphoreszierende Kruzifix konnte mich noch nicht sehen – und habe aus dem Kasten der Mame ein paar wertvolle Maria-Theresien-Taler gestohlen und sie beim Kirchtagsstandl eingetauscht für Plastikkriegsspielzeug, für zigarettenlange, explodierende Knallkörper, die wir »Raudi« nannten, für die Stoppelrevolver und für die dicken, prall mit geschlagenem Eiweiß gefüllten Schaumrollen, denen sofort die Wespen zuflogen. Niemals hast du erwähnt, daß wir als Kinder auf den Sautratten gemeinsam mit dir und mit Magd und Knecht den Roggen für das tägliche Schwarzbrot, den Weizen für das tägliche Weißbrot, den Hafer für die beiden Zugpferde und den Mais für die eierlegenden Hühner eingebracht haben über dem dahinmodernden Skelett eines Nazibluthundes, der mit seinen Komplizen der Welt die Gurgel umgedreht hat.
Einmal, mein Tate, zum Mittagessen, nahm ich ein Stückchen Brot nach dem anderen aus einem kleinen, auf dem Tisch stehenden geflochtenen Korb, zerbröselte eine Schnitte nach der anderen unter der Tischkante zwischen meinen Oberschenkeln und ließ die Bröckchen nacheinander auf den Boden fallen, bis sich ein Häufchen zerbröseltes Schwarzbrot aus dem rot aufgegangenen Roggen der Sautratten zwischen meinen Füßen gebildet hatte. Als unmittelbar nach dem Mittagessen die Schwester den Küchenboden kehrte, fand sie an der Stelle, wo ich immer saß, das Häufchen mit Brotbröckchen. Ich hatte noch versucht den Haufen auf die Seite und einem meiner Brüder in die Schuhe zu schieben. Ich verbarrikadierte mich im Heustadel, ich wußte, daß man mich verdächtigen würde, und versteckte mich in Hörweite, um schließlich, sollte ich gerufen werden, wie ein Phönix aus der Asche des Backofens zu steigen, in dem das Brot aus dem Getreide der Sautratten gebacken wurde, mich zu stellen und zu sagen: »Ich war’s nicht!« Auch der Onkel Franz, dein herzensguter Bruder und Unschuldsengel, der bei der SS in Nürnberg war, sagte immer wieder: »Ich hab nichts getan! Ich war nur am Schreibtisch.« (Der Onkel Franz war übrigens seit Juli 1932 Mitglied der NSDAP, er gehörte der SS und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt an. In der Verbotszeit soll er illegal Schriften verteilt haben. Nach der NS-Machtergreifung war er stellvertretender Ortswahlleiter in Oberdrauburg im oberen Drautal, wo er auch Lehrer war. Ende 1945 wurde er aus dem Schuldienst entlassen, nachdem er schon vorher von den Briten verhaftet und interniert worden war. Vom Mai 1945 bis August 1947 war er in britischer Gefangenschaft.) Die sich an den Besenstiel lehnende Schwester deutete mit ihrem Zeigefinger auf den Brotbröckchenhaufen: »Wenn du das noch einmal machst, dann bekommst du wieder Schläge, bis du blaue Würste am Arsch hast!« Ich zuckte mit den Schultern, zeigte ihr eine lange Nase, deutete keck auf meinen Arsch, lief wieder in den Stall hinaus und versteckte mich hinter einem neugeborenen, noch wackelig auf den Beinen stehenden, schwankenden Kalb, dessen Geburtsschleim auf dem Fell gerade erst eingetrocknet war und noch die braunen Haare zusammenklebte. Ich weiß nicht, ob du jemals etwas von dieser Geschichte mit den Brotbröckchen erfahren hast. Es wurde wenig gesprochen, und was vorbei war, war vorbei, es gab andere Sorgen. Draußen im Stall wartete die nächste trächtige Kuh. Wenn die Beine des Kalbes die Eihaut durchstießen und die weißgelben Füße aus der blutenden und schleimigen Kuhscheide schauten, hast du, mein Tate, zwei Stricke an den schleimigen Fesseln der aus der Kuhscheide schauenden Beine festgebunden. Gemeinsam haben wir das Kalb aus dem Leib der Kuh gezogen. Manchmal sind wir beim Kälberziehen, wie es hieß, wenn das Kalb überraschend schnell aus dem Körper der Kuh glitschte, auch auf den Rücken gefallen und sind im Stallmist gelandet. Oft weckte mich die Mutter um zwei Uhr früh oder um vier Uhr früh und sagte: »Gemma! Kalblziehen!« Voller Schleim und Blut ist das Kalb auf den Boden geplumpst und hat sofort die schleimbedeckten Augen aufgeschlagen. Mit dem Stroh vom Getreide hast du das Neugeborene trocken gewischt und ihm gut zugesprochen, denn es sollte vom Gras und zermahlenen Türken aus den vergifteten Sautratten ernährt und zu einer anständigen Milchkuh werden. Kalbsfleisch hat es bei uns fast nie gegeben, du wolltest keine Kälber schlachten, die sind mir zu schade, hast du immer gesagt, du wolltest immer Milchkühe aufziehen und mit der von den Sautratten verseuchten Milch im Blutkreislauf der Geschichte unseren Käse und die Butter erzeugen, die wir uns einverleiben mußten – die Milch an die Molkerei verkaufen, damit die verseuchte Butter und der verseuchte Käse auch an die nächste und übernächste Generation weitergegeben werden konnten. »Das neugeborene Kalb«, hast du gesagt, »steht in einer Stunde auf eigenen Beinen. Und der Mensch?«
Der Großvater mütterlicherseits sah es nicht gerne, wenn wir bei der Heuernte oder bei der Getreideernte auf den Sautratten, dem dunkelsten Fleck unserer Drautaler Heimaterde, aushalfen. Auch der Großvater mütterlicherseits, der Eichholzeropa, der einst Bürgermeister der Gemeinde Paternion war, muß es gewußt haben, daß der Judenmassenmörder Odilo Globocnik auf den Sautratten verscharrt wurde. Aber nach dem Tod seiner drei Söhne auf den Schlachtfeldern in Rußland und in Jugoslawien schwieg er wie ein Grab, wie drei in den Lüften übereinandergestapelte Gräber schwieg er, er sagte kein Wort mehr, bis zu seinem Tod sagte er kein Wort mehr. Da wir Kinder hin- und herpendelten zwischen dem bäuerlichen Großelternhaus mütterlicherseits und dem Großelternhaus väterlicherseits, wären wir gerne mit dem Eichholzeropa für ein paar Stunden auf die Sautratten gegangen in der Hoffnung, bei den Arbeitspausen auf dem Feld, wenn sich die ermüdeten und verschwitzten Feldarbeiter ringsum auf den Boden setzten und Speck, Brot und gekochte Eier auspackten, endlich einmal eine andere Jause zu bekommen, nicht mehr das Brot aus der großen Mühle und Bäckerei in Feistritz in meinem Elternhaus, sondern das Brot aus dem Holzofen meiner Tante, gebacken wohl mit dem Getreide aus den Sautratten, einen anders gepökelten Speck, andere Wurst von einem anderen Schwein und nicht immer die Wurst und den Speck vom eigenen Schwein aus dem eigenen Stall, und vor allem ein Stück Emmentaler, denn der Eichholzeropa war eine Zeitlang Vorstand der Oberkärntner Molkerei in Spittal an der Drau, von der er nicht nur einmal einen Pfau und später einen Fernsehapparat, sondern dann und wann vom fast hundert Kilo schweren, in der Spittaler Käserei gemachten frischen Emmentalerlaib eine große Ecke geschenkt bekommen hat, eingepackt in knisterndes Fettpapier, besonders dann, wenn wieder einer seiner besten Freunde zu Besuch kam, der Molkereidirektor Dr. Michael Hecher, der immer in seinem weißen Arbeitsmantel mit seinem weißen Mercedes in den breiten Hof meines Großvaters einfuhr – während meine Mame bei der Molkerei immer nur den geschmacklosen, billigen Stangenkäse bestellte. Die Milch aus dem väterlichen Stall wurde in großen Milchkannen zur Sammelstelle in der Dorfmitte, dort, wo sich der senkrechte und der lotrechte Balken des kreuzförmig gebauten Dorfes treffen, unter dem Hügel, auf dem sich der Pfarrhof befand, gebracht, wo am Morgen die noch kuhwarmen Milch von den Molkereiarbeitern mit einem Milchwagen abgeholt wurde. Am Vortag wurde auf einem Zettel, der am Deckel der Milchkanne eingeklemmt wurde, die Bestellung aufgegeben, immer Butter und Käse. Am darauffolgenden Tag lagen zwei Kilo Stangenkäse und ein Paket mit zehn Stück Österreichischer Teebutter auf der ausgeleerten Milchkanne mit der abblätternden Aufschrift »Enz«. Später, in den Sommerferien – ich ging bereits in die Handelsschule –, arbeitete ich in der Spittaler Molkerei im Büro neben dem ständig Smart Export rauchenden Herrn Hochl und der ebenfalls ununterbrochen Smart Export rauchenden und blind, ohne auf die Zahlentastatur zu blicken, den ganzen Tag auf die ratternde Rechenmaschine klopfenden Agnes Neururer und las in den Arbeitspausen inmitten der Tabakwolken den »Steppenwolf« von Hermann Hesse und von Wolfgang Borchert »Draußen vor der Tür«. Die litaneiartige Geschichte von Wolfgang Borchert »Dann gibt es nur eins!« lernte ich auswendig: »Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins: Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!«
Auf den Sautratten, mein Tate, hat also auch dein Schwiegervater, mein Großvater mütterlicherseits, der Johann Winkler, vulgo Eichholzer, der vor den hochgewachsenen Gladiolen auf die Knie gefallen ist, nachdem er in einem Brief erfahren hat, daß auch sein dritter Sohn, Adam, gefallen ist und anders, wie es wiederum seine eigene Mutter keck meiner zukünftigen Mutter, ihrem Enkelkind, gegenüber nannte, nach Hause kommen wird, nämlich nicht als Lebender, sondern als Toter, sein Feld bestellt, der Großvater, der vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Bürgermeister in der Gemeinde Paternion war und »Ich habe schon demissioniert!« rief, als die Hitlerbärtchen tragenden Nazis mit ihren schafthohen Stiefeln und stechenden Blicken in sein Büro einmarschierten und ihn aufforderten, das Amt aufzugeben und den Raum zu verlassen. Aus Italien kommend, sage ich dir stichwortartig, mein Tate, mein großer Schweiger und Kriegsberichterstatter, hatte sich Odilo Globocnik, der sich bei den Engländern mit gefälschtem Ausweis als Kaufmann aus Klagenfurt namens »König« ausgegeben und behauptet hatte, vor den Partisanen aus Italien geflohen zu sein, mit seinen Komplizen hoch über dem Weißensee in der Mösslacher Almhütte versteckt, von der aus man auf den höchstgelegenen und von idyllischer Bergwelt eingerahmten Badesee Österreichs, den Weißensee, hinunterschauen konnte, wo wir Kinder im Winter auf dem Spiegeleis Schlittschuh liefen und die berühmte Todesspirale vom Olympiasiegerpaar Ludmilla Beloussowa und Oleg Protopopow nachsimulierten – »Das russische Eiskunstlaufehepaar hat keine Nerven!« hat es damals geheißen in der stark nach Druckerschwärze riechenden Kärntner »Volkszeitung« – und unter den schneidigen Kufen im durchsichtigen Spiegeleis am Grunde des Sees die Skelette und die Totenköpfe von abgestürzten Hirschen sahen und wo, über diesem Weißensee, wiederum Jahrzehnte später, Szenen für den James-Bond-Film »Der Hauch des Todes« mit Timothy Dalton gedreht wurden. In dieser Mösslacher Almhütte wurden Odilo Globocnik und seine Komplizen, darunter der SS-Sturmbannführer Ernst Lerch, seine rechte Hand, wie es hieß, und sein »Judenbeauftragter«, gefangengenommen und in unsere Heimatgemeinde Paternion gebracht, wo mein Großvater, der Eicholzeropa, längst nicht mehr Bürgermeister war. Als die Gefangenen über den Hof des Schlosses Paternion marschierten, stellte ihm ein englischer Offizier eine Falle und rief einfach seinen Namen: »Odilo Globocnik!« Globocnik drehte überrascht seinen Kopf, ein anderer, Deutsch sprechender englischer Leutnant rief: »Sie haben sich verraten, Globocnik, Sie haben den Kopf bewegt!« Globocnik, der schon seit dem Morgengrauen die Zyankalikapsel im Mund hatte, schob die Phiole zwischen die Zähne und biß zu. Der Pfarrer von Paternion lehnte es ab, den Judenmassenmörder auf dem katholischen Ortsfriedhof zu beerdigen. Ein englischer Regimentsadjutant befahl, den Leichnam irgendwo außerhalb geweihter Erde zu begraben. Zwei ungarische Soldaten, die in englischer Kriegsgefangenschaft waren, schaufelten auf den Sautratten, auf denen Kriegsmaterial, Panzer, Jeeps und Lastfahrzeuge geparkt waren, ein Loch. Ein paar Männer öffneten die Bordwand eines Lastwagens, hoben die Leiche von der Ladefläche und legten sie auf dem Sautrattenfeld ins Erdloch, das mit Rasenziegeln abgedeckt wurde. Ein mit englischen Soldaten besetztes Raupenfahrzeug ebnete das frische Grab ein, rutschte mit den Panzerketten mehrmals hin und her und drückte und würgte die Leiche noch tiefer in die Erde hinein. Ein christliches Kreuz wurde an der Stelle, wo der Tote verscharrt worden war, nicht angebracht. Die Familie väterlicherseits von Globocnik, muß ich dir sagen, mein Vater, stammte aus Jugoslawien, aus Tržič, unmittelbar hinter der Kärntner Grenze, er hat eine Zeitlang als Kofferträger auf dem Klagenfurter Bahnhof gearbeitet. Bei der von ihm geleiteten »Aktion Reinhardt« wurden junge, kräftige Menschen als »Arbeitsjuden« für kurze Zeit am Leben gelassen, damit sie die Kleider und andere verwertbare Gegenstände der Ermordeten sammeln, die Gaskammern leeren und die Leichen verscharren konnten. Schließlich wurden auch diese jungen Leute ermordet. Für seine Erfolge bei der sogenannten »Bandenbekämpfung« im Hinterland von Triest erhielt Globocnik das Deutsche Kreuz in Silber und das Deutsche Kreuz in Gold erhalten.
Das sag ich dir also, mein Vater, stichwortartig, was nämlich du mir hättest sagen und erzählen können, denn du mußt es gewußt haben, wie all die anderen es gewußt, aber nie davon gesprochen haben, ein halbes Jahrhundert nicht, jedenfalls nicht in unserer Anwesenheit, daß nämlich der Judenmassenmörder Odilo Globocnik einen Kilometer von unserem Kirchturm entfernt auf den Sautratten verscharrt und nie mehr ausgegraben wurde, daß sein Skelett in den Sautratten vermodert ist, auf denen wir als Kinder gearbeitet und Fangen und Fußball gespielt haben, niemals hast du davon erzählt, obwohl du keine Kriegsgeschichte ausgelassen hast in deinen Erzählungen. Auch der Franz Reinthaler, der unser Religionslehrer und genau zu jener Zeit Pfarrer in Kamering war, muß es gewußt haben, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß ihm der Pfarrer der drei Kilometer weit entfernten Kirche in Paternion, den er oft im Pfarrhof in Kamering traf und der sich geweigert hatte, den Leichnam von Globocnik auf dem Friedhof zu begraben, nichts davon erzählte. Zehn Jahre nach dem Krieg, nach einem Gemeinderatsbeschluß in Paternion, wollte ein unverbesserlicher Hitlerverehrer die Knochen des Judenmassenmörders ausbuddeln und einer christlichen Bestattung zuführen, er wühlte da und dort in der Erde der Sautratten, fand aber die genaue Stelle im weitläufigen, zwei Hektar großen Feld nicht mehr. Einige Kriegsgeschichten habe ich von dir, mein Tate, im Laufe der Zeit zehnmal, zwanzigmal, vielleicht in dem halben Jahrhundert, in dem ich dich erlebt habe, noch öfter gehört. Erst kürzlich hat mir ein entfernter Verwandter von dir, der inzwischen auch schon fast das neunzigste Lebensjahr erreicht hat, den du oft getroffen und mit dem du deine Kriegsgeschichten ausgetauscht hast, erzählt, daß er als sechzehnjähriger Lausbub, wie er sich nannte, im richtigen Augenblick unweit der Stelle stand, wo Globocnik in die Zyankalikapsel biß und auf der Stelle tot umfiel und von wo er, dieser schaulustige Sechzehnjährige, mit seinen Spielkameraden von den Engländern verscheucht wurde. Hast du es absichtlich verschwiegen? Ob du uns verschonen und nicht sagen wolltest, daß wir über einem Skelett in den Sautratten den Roggen für das tägliche Schwarzbrot und den Weizen für das tägliche Weißbrot ernten, aus Angst, daß uns makabre Fantasien bis in die Träume hinein verfolgen oder wir das falsche Brot essen könnten? Und welches Brot wäre das richtige gewesen? Oder hast du dich vielleicht gar geschämt, aber wofür eigentlich, frage ich mich, da du doch öfter, als verbitterter und vereinsamter Bauer, der noch keinen Nachfolger in Sicht hatte, gesagt hast: »Mauthausen haben sie zu früh zugesperrt!« Und: »Hitler hätte doppelt so viele Juden umbringen sollen!« Der aus Klagenfurt stammende SS-Sturmbannführer Ernst Lerch, Globocniks rechte Massenmörderhand und »Judenreferent«, wie er genannt wurde, der über Odilo Globocnik sagte, daß er »ein fröhlicher und geselliger Typ, ein großartiger Mensch« war, wurde zwar im Jahre 1960 verhaftet und vom Landgericht Wiesbaden zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und 1971 in seiner Heimatstadt Klagenfurt erneut wegen der Teilnahme an der Ermordung von 1,8 Millionen Juden in Ostpolen und 50 000 Roma in Polen angeklagt, aber der Prozeß wurde nach zwei Verhandlungstagen auf Antrag der Staatsanwaltschaft Klagenfurt auf unbestimmte Zeit vertagt und nie mehr aufgenommen. Ernst Lerch starb im Jahre 1997 als ehrenwerter Mann, wie es hieß, und Tanzcafébesitzer im Alter von 83 Jahren. Anfang der siebziger Jahre hatte er in Klagenfurt das »Tanzcafé Lerch« betrieben, das er von seinem Vater übernommen hatte. In dieser Zeit begann ein ebenfalls aus Klagenfurt stammender berühmter Entertainer seine Karriere als Jazzsänger im Tanzcafé Lerch, der später sang: »Griechischer Wein ist / So wie das Blut der Erde. / Komm’, schenk dir ein, / Und wenn ich dann traurig werde, / Liegt es daran, / Daß ich immer träume von daheim; / Du mußt verzeih’n.« Ein Foto zeigt den jungen, modisch gekleideten, ungefähr 25jährigen Jazzsänger, der von Ernst Lerchs Nazivergangenheit nichts wußte, im Gespräch mit dem ehemaligen SS-Sturmbannführer. Der in die Kamera lachende Ernst Lerch trug einen vornehmen Anzug mit Krawatte und leicht verdunkelte Augengläser, man hätte glauben können, daß es sich um einen zu Ministerehren gekommenen freundlichen Politiker handelte.
Ich erinnere mich, mein Tate, ich war wohl noch keine zehn Jahre alt, als du wieder einmal deinen Bruder und deine Schwägerin in Klagenfurt in der Konditorei Rabitsch am Neuen Platz besucht und uns frische Schaumrollen und Punschkrapfen mitgebracht hast. Du hast uns dabei stolz erzählt, daß du wieder einmal im Tanzcafé Lerch eingekehrt bist. Womöglich hast du sogar den Komplizen des Judenmassenmörders begrüßt, ihm die Hand gegeben und mit ihm einen Kaffee getrunken? Ich kann mich dunkel an deine Stimme erinnern: »Der Herr Lerch …« Am Klang deiner Stimme und an deinem Grinsen konnte ich ablesen, daß es sich um eine für dich ehrenwerte, um eine Respektsperson handeln mußte. Ich war zu jung, um dir Fragen stellen zu können, ich war ein Kind, ich hatte keine Ahnung von der Geschichte, und später hast du nie mehr davon gesprochen. Außerdem hat es oft geheißen: »Neugierige Leute sterben früh!« Bei dieser Gelegenheit, bei deinem Besuch in der Konditorei Rabitsch und im Tanzcafé Lerch, bist du auch zur Tombola der Klagenfurter Herbstmesse gegangen und hast einem »alten Weiblein«, wie du es genannt hast, von dem du dir Glück erhofft hast, ein Lotterielos abgekauft. Das Röllchenlos hast du dann zu Hause auf den Tisch gelegt, immer wieder haben wir Kinder das zusammengerollte, kleine rosarote Papierstück aufgerollt und traurig auf die falsche Nummer geschaut, wir hätten reich werden können, aber wieder einmal hattest du einen falschen Griff getan. Einige Zeit später, ich war bereits neunzehn Jahre alt und bin in Klagenfurt in die Abendhandelsakademie gegangen, sind wir Schüler oft im Restaurant Wienerwald, dem einstigen Tanzcafé Lerch, ahnungslos in die Gaststube gegangen und haben ein knuspriges Backhuhn oder gebackenen Emmentaler gegessen und Bier getrunken, oft um zehn Uhr abends, nach dem Unterricht. Keiner kannte oder interessierte sich für die Geschichte dieses Hauses.
Aus dem Fenster des Hauses meines Großvaters mütterlicherseits, der im Zweiten Weltkrieg drei Söhne im jugendlichen Alter verlor und der Bürgermeister der Gemeinde Paternion war, hing keine Hakenkreuzfahne. Dagegen lief meine Großmutter väterlicherseits, die Theresia Winkler, geborene Jesenitschnig, die unter ihren Kindern und in ihrer Verwandtschaft keine Gefallenen zu beklagen hatte und deren Leichnam später von meinem Vater und vom Bestatter Stimniker in einer Wolldecke über die sechzehnstufige Stiege ins Aufbahrungszimmer getragen wurde, damals mit hocherhobenen Händen aus dem Haus, in die tief aus dem oberen Fenster hinunterhängende, lange Hakenkreuzfahne hinein, die sich auf ihr Gesicht legte, lief bis zum Dorfbrunnen vor und rief: »Heil Hitler! Heil Hitler!«, als Hitler im offenen Wagen von Klagenfurt nach Spittal an der Drau gefahren sein soll. So stellte es sich meine Großmutter vor. Warum hast du, mein Tate, deine tote Mutter mit dem Leichenbestatter Stimniker nicht mit dem Fetzen der Hakenkreuzfahne über die sechzehnstufige Stiege ins Aufbahrungszimmer getragen und in die Bahre gelegt? Du hättest die Fahne zwischen Sargoberteil und Sargunterteil einklemmen können, sodaß das Hakenkreuz mit Hitlers lang anhaltendem Atem ihr Gesicht berührt hätte. Vielleicht wäre die Alte aufgestanden, als Vampir wiedergekommen und hätte einen Knoten in die Hakenkreuzfahne gebunden, wäre blindwütig auf den Dachboden gegangen zum verseuchten Getreide aus den Sautratten und hätte die gefräßigen, den Roggen durchwühlenden Ratten erschlagen, die ihren Kot in unserem zukünftigen Lebensmittel hinterließen, dem Roggen aus den Sautratten und dem Mehl, aus dem das Brot für das ganze Drautal gebacken und zu Laiben in Hakenkreuzform und zu Brotstriezeln geformt wurde? Ich habe die Hakenkreuzfahne in meinem Elternhaus nie gesehen. Hast du sie verschwinden lassen, im richtigen Augenblick verbrannt? Ist sie vielleicht als Rauchwolke durch den Kamin deines elterlichen Bauernhauses gegeistert und hat die Aschepartikel mit dem Glöckchen Klingeling über das ganze Drautal verteilt? »Mädchen hört und Bübchen, macht mir auf das Stübchen, bring euch milde Gaben, sollt euch dran erlaben. Kling, Glöckchen, klingeling, kling, Glöckchen, kling!«
Als der Krieg zu Ende war und auch du, mein Tate, heil, wie du es genannt hast, nach Hause gekommen bist, aber die englischen Besatzer noch im Land waren, hast du am Abend deiner Ankunft mit deinen Fingernägeln die aus einem Fenster deines Elternhauses hängende Hakenkreuzfahne sorgfältig vom Foto gekratzt, um nicht als Nazi verdächtigt und gebrandmarkt zu werden, während dein Bruder, der Onkel Franz, der bei der SS in Nürnberg war, von der englischen Besatzung über zwei Jahre gefangengehalten wurde. »Ich war nur bei der SS in Nürnberg, ich war nur am Schreibtisch, ich habe nichts getan!« hörten wir von ihm unzählige Male, ohne daß er auch nur ein einziges Mal danach gefragt worden wäre, von niemandem, wir hatten als Kinder sowieso keine Ahnung von der Geschichte und auch kein Interesse, und an den Kriegsgeschichten interessierte uns nur das spöttisch nachzuäffende Spektakel der Erzählungen, besonders dann, wenn du dich auf den Boden geworfen und uns gezeigt hast, wie knapp die Kugel an deinem Stahlhelm vorübergepfiffen ist. Als dich dann bei einer Einvernahme die Engländer gefragt haben, ob du Deutscher oder Österreicher bist, hast du stolz, lautstark und auf Hochdeutsch geantwortet: »Ich bin und bleibe ein Österreicher!« Gänsehaut haben wir Kinder bekommen, wenn du in der nach Frittaten und Knochensud, nach Backhähnchen oder Szegediner Gulasch, nach Kärntner Nudeln oder Sauerkraut riechenden Küche die Hacken zusammengeschlagen, salutiert und laut gerufen hast: »Ich bin und bleibe ein Österreicher! Herr Major!« Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmalteufel! »Vor dem Teufel brauchst du keine Angst zu haben, Seppl, aber vor dem Teufel im Menschen!« hast du oft zu mir gesagt, besonders dann, wenn ich das Religionsbuch auf dem Küchentisch aufgeschlagen hatte, mich wieder einmal gruseln wollte und auf den zwischen den hochstechenden Flammen der Hölle liegenden reichen Prasser schaute, um den sich eine grüne Schlange gewickelt hat und dem ein nackter Teufel mit Hörnern und mit roten Fledermausflügeln heiße Galle in den Mund schüttet, während nebenan und darüber im Himmel der arme Lazarus seine Hände in den Schoß eines gütigen Gottes legt. Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmalteufel! Ich bin und bleibe ein Österreicher!
Drei Jahre bevor Globus – »Zwei Millionen ham’ma erledigt!« – verscharrt wurde, fuhr mein Onkel Peter, der Sohn vom Eichholzeropa, über die Sautratten mit einem Heuleiterwagen, auf dem nicht tausend meterlange, verschiedenfarbige Gladiolen lagen, auch kein Heu, kein frisches Gras und keine Getreidegarben, sondern ein mit Fichten- und Tannenästen zugedeckter, schlichter Fichtenholzsarg, den er vom Bahnhof in Villach hatte abholen müssen und über den Feldweg ins zwanzig Kilometer entfernte Dorf Kamering brachte. In diesem Sarg lag sein in Jugoslawien gefallener Bruder Adam. Als sich mein Großvater im Garten aufhielt und ihm die uniformierte Briefträgerin den Brief überreichte, in dem stand, daß nun sein dritter Sohn, Adam, für den Führer und fürs deutsche Vaterland gefallen war, begann er am ganzen Körper zu zittern und ging vor den blühenden Gladiolen in die Knie. Meine Großmutter soll in der Küche, wo ein Kärntner Almochsengulasch kochte und wo es nach gerösteten Zwiebeln und nach ungarischem Paprikapulver roch, in Ohnmacht gefallen sein, neben dem beschmierten Kochlöffel lag sie vor dem Herd auf dem Küchenboden. Und als meine Mame, deine Frau, wieder einmal in der Küche, in der man das regelmäßige Ticken der Uhr hörte, an der ratternden Nähmaschine saß und aus einem kleinen, klumpigen Schnapsgläschen mit einem aufgeklebten Enzian Weihwasser trank, das ich ihr aus der Sakristei der Kirche gebracht hatte, und ich mit einem Küchenmesser meine Bleistifte spitzte, erzählte sie mir, daß ihre Urgroßmutter im Ersten Weltkrieg einen Sohn auf dem Schlachtfeld verloren und sich das Leben genommen habe, weil sie Angst davor hatte, daß ihre schwangere Tochter, die wegen einer Infektion bettlägrig geworden war – wie damals viele junge Frauen im Kärntner Drautal –, an der Spanischen Grippe erkrankt sein und ebenfalls sterben könnte. Ihr Mann, der vom Viehhandel nach Hause gekommen war, suchte seine Frau auf dem ganzen Bauernhof, bis ihm die grippekranke Tochter den Hinweis gab, daß sie schon wieder auf den Dachboden gegangen sei. Der Großvater meiner Mame ging über die steile Holzstiege des Dachbodens, erblickte den mit einem Kalbstrick strangulierten Körper und rief: »Oba Muata! Oba Muata!« Dieses schreckliche Ereignis soll die Mutter meiner Mame lange verschwiegen und erst erzählt haben, nachdem sie erfahren hatte, daß ihr dritter Sohn gefallen war. Nachdem der Eichholzeropa, ihr Mann, ihr den Brief gezeigt hatte, in dem stand, daß nun auch der dritte Sohn fürs Vaterland und für Hitler gefallen war, und sie, vor dem Herd stehend, in Ohnmacht gefallen und wieder aufgewacht war, erzählte sie weinend das erste Mal die Geschichte vom Selbstmord ihrer Mutter.