Die Kärntner Tracht Prügel
und die Schweizer Omega-Uhr

ss’schnejt,

blasser wern tropnss blut

ojfn wajssn fartech fun dem kazew.

ojssjess farlosn di schildn.

losn iber majn sikorn –

a wajss, lejdik feld.

Es schneit,

bleicher werden die Blutstropfen

auf der weißen Schürze des Schlächters.

Buchstaben entweichen von den Schildern

und lassen meine Erinnerung zurück –

ein weißes, leeres Feld.

Da schickt der Herr den Ochsen aus, / Er soll das Wasser saufen, / Der Ochse säuft das Wasser nicht, / Das Wasser löscht das Feuer nicht, / Das Feuer brennt den Prügel nicht, / der Prügel schlägt den Pudel nicht, / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.

als der eichholzeropa noch lebte, stahl ich aus dem Arbeitszimmer vom Onkel Peter, in dem ein schöner, immer glänzender Sekretär aus hellem Holz stand, unter den eingerahmten Schwarzweißbildern seiner drei im Krieg gefallenen Brüder einen Bogen ungestempelter Briefmarken. Ich ging in die Küche, in der sich der Smart Export rauchende, wortkarge und völlig verschlossene Großvater, ohne einmal aufzusehen, über eine Stunde lang in den »Kärntner Bauer« vertiefte, und klebte nacheinander die eingespeichelten Briefmarken in die Mitte der heißen Herdplatte auf ein kleines Luftloch, sodaß der auf den Briefmarken abgebildete Kopf des österreichischen Bundespräsidenten Adolf Schärf in der zentimeterhoch auflodernden Stichflamme verbrannte, immer und immer wieder, zehn oder zwanzig Bundespräsidentenköpfe hatte ich in Flammen aufgehen lassen. Im Hintergrund, neben dem Kopf des Bundespräsidenten, war das österreichische Bundeswappen mit dem Adler abgebildet. Den restlichen Teil des Briefmarkenbogens versteckte ich in meinem Elternhaus in der Alten Küche ungeschickt auf einen Kasten, auf dem ich auch das von der Mame gestohlene Geld verstaut hatte, das meine Schwester beim Staubwischen entdeckte. Als ich zu meiner Mame dann ein paar Tage später sagte, daß ich irgendwo ungebrauchte Briefmarken gefunden und wir einen Brief an ihre Schwester, an die Tante Nane, nach Vorarlberg schicken könnten, die immer wieder erzählte, daß sie mich, wenn sie aus Vorarlberg zu Besuch nach Kärnten in ihr Elternhaus gekommen war, als einjähriges Kind immer mit einem Bleistift in der Hand gesehen hatte, rief die Mame nur: »Ach ja!«, nahm die Rute mit dem roten Band vom Kleiderhaken, befahl mir die Hose aufzuknöpfen und mich auf den Stuhl zu legen. Bis ich den Schweiß ihrer Anstrengung roch, schlug sie mir auf den bloßen Hintern, während meine Tränen auf den Fußboden tropften. »Wirst du das noch einmal machen?« – »Nein! Mame!« – »Wirst du das wohl nicht noch einmal machen?« – »Nein! Mame!« – Wirst du wohl …!« Als ich mich schluchzend und mit hochrotem Kopf vom Stuhl erheben durfte, sah ich links und rechts die abgesplitterten Teile der Rute auf dem Boden liegen. Halb betäubt vor Schmerz wankte ich Richtung Küchentür. Onkel Peter, der kein Wort zu mir sagte, nur einmal süffisant die Unterlippe verzog, als er mich sah, da er bereits wußte, daß ich eine Kärntner Tracht Prügel bekommen haben mußte, hatte mich ein paar Tage davor bei seiner Schwester, meiner Mame, verpetzt, denn nur ich konnte es gewesen sein, obwohl der sich in den »Kärntner Bauer« vertiefende und Smart Export rauchende Eichholzeropa nichts wahrgenommen und mich nicht verraten haben konnte, aber es genügte als Beweis meine Anwesenheit auf dem großelterlichen Hof mütterlicherseits an diesem Tag, auch die Mame befragte mich nicht nach dem Hergang des Diebstahls oder ob ich überhaupt der Briefmarkendieb war, sondern schritt zur Tat: »Du Höllteufel, du verfluchter!« Ich war nicht nur ein Teufel aus dem Sumpfgebiet der mysteriösen Sautratten, ich stammte aus der Hölle und war verflucht! Weinend, die Hände auf die glühend heißen und noch immer schmerzenden Hinterbacken drückend, verließ ich schwankend auf meinen O-Beinen die Küche, ging über die sechzehnstufige Stiege, über die man wenige Monate später den Leichnam der Großmutter in einer kuscheligen Wolldecke ins Aufbahrungszimmer tragen würde, und legte mich ins Bett. Am Abend, vor dem Schlafengehen, rissen meine Geschwister meinen befleckten Nachtkittel in die Höhe und riefen spöttisch: »Er hat blaue Würste am Arsch! Er hat blaue Würste am Arsch!« Enz! Beim Arsch brennt’s! Eine Woche lang verbarrikadierte ich mich nach der Schule in meinem Zimmer und schaute keinem meiner Geschwister und auch der vorbeigehenden Mame nicht in die Augen. Bis heute weiß ich nicht, ob du, mein Tate, von dieser Geschichte etwas erfahren hast, jedenfalls hast du kein Wort gesagt und mich auch nicht bestraft, es wäre eine doppelte Bestrafung gewesen. Vielleicht hast du dazu geschwiegen, vielleicht hat es dir sogar gefallen, daß ich Briefmarken von deinem Schwager gestohlen hatte und die abgedruckten Köpfe vom Bundespräsidenten Adolf Schärf – mit Bundeswappen und Adler – in kleinen Stichflammen hatte aufgehen lassen, selten habe ich von dir ein gutes Wort über Politiker gehört. Mehrfach bist auch du des Diebstahls von den Nachbarn verdächtigt worden. Einmal warf dir der Schwager vom Anderwaldbauer, der immer als Krampus verkleidet am Nikolaustag in unser Haus kam, vor, daß du aus der Mühle vom AnderwaldAdam Mehl gestohlen hättest, er hätte dich dabei erwischt und, wie es hieß, fest abgefotzt, also durchgehauen, aber er mußte seinen Vorwurf vor Gericht zurückziehen und bestätigen, daß du beim Nachbarn kein zermahlenes Getreide gestohlen hast, das auf den Sautratten aus dem Skelett von Odilo Globicnik gewachsen ist. Immer wieder hast du, wenn du jemanden getroffen hast, der von dieser infamen Denunziation wußte, den Gerichtsbescheid aus der Tasche gezogen und den Persilschein hergezeigt. Laß dich heimgeigen …

Später wurde der Onkel Peter mein Firmpate – mein Vater war Firmpate bei meinem Cousin, dem Sohn von Onkel Peter –, der mir mürrisch und mit strengem Blicken zum Anlaß der Firmung eine Schweizer Omega-Uhr schenkte und beim Firmgottesdienst seine Hand auf meine rechte Schulter legte, während mir der Bischof von Gurk, Dr. Joseph Köstner, mit Salböl ein Kreuz auf die Stirn zeichnete und mit seinem Zeige- und Mittelfinger einen Backenstreich auf meine Wange andeutete. Die Omega-Uhr durfte ich nur sonntags tragen, vor allem beim Gottesdienst. Am Nachmittag, wenn ich durchs Dorf flanierte, in den Wald oder auf den Sautratten mit dem amerikanischen Bazooka-Lederball Fußball spielte, mußte ich die Omega-Uhr in der Schatulle ablegen, die im Kleiderkasten meiner Mame verwahrt wurde. Unter dem Saum ihrer muffig riechenden Sonntagskleider lagen in langen, schmalen weißen Schachteln die wohl einen Meter langen Erstkommunionkerzen ihrer fünf Kinder. Meine Erstkommunionkerze mit den blauen Intarsien von Kreuz und Osterlamm schenkte mir zur Erstkommunion, als ich mir mit acht Jahren das erste Mal die Hostie, den Leib Christi, einverleibte, um im Falle eines plötzlichen Todes, wie es im christlichen Glauben heißt, vom Schutzengel gerettet zu sein, meine Taufpatin, die Ragatschnig Tresl, die mich einst als neugeborenes Kind in der Kameringer Kirche über das Taufbecken gehalten hatte, während der Pfarrer Franz Reinthaler die Taufe vollzog, mir das kalte Weihwasser aus einer gläsernen Karaffe auf die Stirn goß. Da stieß ich meinen zweiten Schrei aus, den selbst die Kirchturmglocke erhörte, die zu läuten begann, ohne, daß jemand in der Sakristei am Glockenstrick zog.

Jahrzehnte später – unsere Wege hatten sich längst getrennt, der Eichholzeropa war hochdekoriert gestorben, und ich hatte jahrelang sein Haus nicht mehr betreten –, als meine Mame wieder einmal zu Besuch war in ihrem Elternhaus, kam der katholisch verbohrte Onkel Peter mit meinem ersten Buch, auf dem ein jugendlicher Selbstmörder aus meinem Heimatdorf abgebildet war, aus dem Zimmer, in dem an der Wand immer noch die eingerahmten Brustbilder ihrer drei im Krieg gefallenen Brüder hingen und immer noch der Schreibtisch stand, auf dem die Briefmarkenbögen lagen, schlug neben meiner Mame mein Buch mit dem Abbild des jugendlichen Selbstmörders mehrmals an seine Oberschenkel, sodaß das Skelett des abgebildeten Selbstmörders unter den eingerahmten Bildern der drei im Krieg gefallenen Soldaten zu Boden klapperte, und rief vorwurfsvoll: »Sex und Kruzifix und Kruzifix und Sex! Abstellen! Abstellen! Die Landsau soll zu schreiben aufhören!« Meine Mame hob hilflos ihre Hände in die Höhe und rief: »Ich kann nichts dafür! Ich kann nichts dafür!« – »Da steigen einem ja die Grausbirnen auf, wenn man das liest!« rief der Onkel Peter. »Abstellen! Abstellen!« – Aber ich hatte schon das sechsundzwanzigste Lebensjahr erreicht und war nicht mehr greifbar für meine Eltern, geschweige denn für meine Verwandtschaft, die mich nie einschüchtern konnte. Du erinnerst dich, mein Tate, du hast mich in Schutz genommen und hast deiner Frau, meiner Mame, ausgerichtet, daß mich der Peter nicht eine Landsau nennen darf, daß er so etwas nicht mehr hören möchte. Wahrscheinlich, hast du gemeint, hat er wieder zuviel Kaffee getrunken, der Peter ist ohnehin schon ein Nervenbündel. »Der Kaffee ist eine Peitsche«, hast du oft mit hocherhobener Hand gerufen, »eine Peitsche!« Alle wurden sie nervenkrank, die ganze Familie war nach dem Krieg verstummt und wurde nervenkrank. Später hat es dann geheißen: »Wenn der Eichholzeropa noch leben würde, dann hättest du dich nicht getraut, so etwas zu schreiben!« Der Eichholzeropa, der von 1932 bis 1938 Bürgermeister der Gemeinde Paternion war, der Hitler als »Windhund« bezeichnet und bereits demissioniert hatte, als ihn die Nazis auffordern wollten, sein Amt zurückzulegen, wurde nach dem mißlungenen Attentat Stauffenbergs auf Hitler der Mittäterschaft verdächtigt und von der Gestapo verhört. Erst nach der Aussage des nationalsozialistischen Bürgermeisters von Paternion: »Laßt ihn in Ruh, er hat im Krieg sowieso drei Söhne verloren!«, ist ihm die Einlieferung in ein Konzentrationslager erspart geblieben. Als der Eichholzeropa starb, war ich sechzehn. Seinen Leichenzug führte ein Mann an, der ein Polster vor sich hertrug, auf dem seine Orden und Ehrenzeichen aufgesteckt waren. Hunderte Leute folgten seinem Sarg. Die unzähligen Blumenbuketts und Blumenkränze konnte man auf seinem Grab gar nicht unterbringen. Tatsächlich wagten es seine vier Töchter, meine Mame, die Tante Nane, die Tante Lise, die Tante Fine, und sein Sohn, der Onkel Peter, den der Krieg zu einem gebrochenen, vollkommen verstummten Menschen gemacht hatte, der nach dem Krieg den Bauernhof nicht übernehmen, sondern zur französischen Fremdenlegion gehen wollte, niemals, ihrem Vater zu widersprechen. Und damit war für meinen Onkel Peter auch die Fremdenlegion gestorben. Es genügte ein einziges Wort, ein Halbsatz, und es gab keine Widerrede mehr, von niemandem, manchmal genügte ein strenger Blick vom Smart Export rauchenden Eichholzeropa, der die Last seiner drei toten Söhne zu tragen hatte, und alle waren eingeschüchtert und folgten seinem Willen. Lustlos übernahm der Onkel Peter den Bauernhof seines Vaters und fuhr auf die Sautratten zum Skelett des Judenmassenmörders Odilo Globocnik, um den Hafer für die Zugpferde zu ernten, lustlos führte er den Bauernhof weiter, auf dem noch der Pfau meines Großvaters sein fächerförmiges Rad aufstellte und raschelnd seine Federn erzittern ließ, der einst zu des Großvaters Geburtstag einer mit Löchern versehenen Holzkiste entsprungen war, bis ihm, dem Onkel Peter, der klappernde Knochenmann höchstpersönlich allzu früh die Schröckenfux-Sense und die Schröckenfux-Sichel aus der Hand nahm. Bei seinem Begräbnis konnte ich nicht dabei sein, die Landsau war auf dem Weg in die Stadt, nach Frankfurt, zur Buchmesse mit einem weiteren, von ihm verteufelten Grausbirnen-Buch.

An einem Gespräch über den Krieg hat sich der Onkel Peter, der zwei Brüder in Rußland und einen in Jugoslawien verloren hatte, niemals beteiligt, auch keine hetzerischen Worte über Juden und Zigeuner sind mir von ihm jemals zu Ohren gekommen, niemand in der Verwandtschaft wußte, was er im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, wo er war, auch er – wie meine Mame, seine Schwester – war verstummt und sprach nur das Allernötigste, nur, daß er nach dem Krieg sein Elternhaus und den ausgestorbenen Bauernhof verlassen und zur Fremdenlegion gehen wollte, das hast du mir hinter vorgehaltener Hand erzählt, mein Tate, du hast mir auch aufgetragen, daß ich nie davon reden, es niemandem sagen sollte, daß er zur Fremdenlegion gehen wollte, man hätte sich dafür geschämt. Mein Elternhaus hat der Onkel Peter selten betreten, hat sich, wenn überhaupt, nur ein paar Minuten an den Tisch gesetzt und ist wieder gegangen, aber während meiner Kindheit ist er immer am Nikolaustag nach der Stallarbeit gekommen, ist verlegen, sprachlos und grinsend wie eine sachige Katze, so der Tate, in der Küche von einem Fuß auf den anderen getreten und hat schließlich gefragt, ob er schon da war, der Spitzbartl, der Krampus. Wir Kinder hockten in der Küche, wir wagten es nicht, in den Flur hinauszugehen, geschweige denn aufs kalte Plumpsklo, das sich außerhalb des Hauses befand. Als wir noch in der Alten Küche hinter den Tischen saßen, ist auch der Eichholzeropa mit seinem Stock gekommen und hat sich zum Schutz der verängstigten Kinder an den Rand des Tisches gesetzt, bis sich der als Krampus verkleidete Anderwald Adam mit Teufelsschreien bedrohlich dem Tisch und den Kindern näherte, die mit einem roten Band umwickelte Trauerweidenrute aus dem Sumpfgebiet der Sautratten, an der unzählige kleine Plastikskelette hingen, auf den Tisch schlug, sodaß die kleinen Ästchen und Plastikgliedmaßen absplitterten und abbrachen, den Kindern ins Gesicht spritzten und auf der Tischplatte liegen blieben und der Eichholzeropa lachend mit der eisernen Spitze seines Spazierstockes den Krampus vom Tisch und von seinen Enkelkindern wegdrückte, während sich meine Schwester mit ihren weit über die Brust hängenden Haarzöpfen zitternd und weinend am Arm vom Eichholzeropa festklammerte. Der als Krampus verkleidete Anderwald Adam überreichte dem Eichholzeropa einen roten Papiersack mit stinkenden Roßknödeln, während wir mit unter der Tischkante schlotternden Beinen das Schutzengelmein beteten und schließlich mit einem Vaterunser den hinter der Krampuslarve grinsenden Anderwald Adam anbeten mußten. Die ältere Schwester vom Anderwaldadam war als Nikolaus verkleidet, der einen Bischofsstab in der Hand hielt und immer wieder auf den Küchenboden stampfte und uns einen roten Sack aus Kreppapier, auf dem ein Krampus aufgeklebt war, in die Hand drückte und zu jedem streng und bedrohlich sagte: »Beten! Beten! Beten! Dreimal am Tag beten!«

Die jüngere Schwester vom Anderwald Adam stand als kleiner, schüchterner Engel mit breiten weißen Flügeln hinter den beiden und verschwand zur Tür hinaus, bevor sich Krampus und Nikolaus umdrehen und das Haus verlassen konnten. Der Krampus Anderwald Adam drehte sich beim Hinausgehen noch einmal überraschend um, lief nah an die Kinder heran und schlug die Sautrattenrute mit den daran hängenden kleinen Skeletten grunzend auf die Tischplatte, während die Oberkörper der weinenden und erschrockenen Kinder nach hinten fuhren. Selbst auf dem im roten Sack neben Nüssen, Orangen und Feigen liegenden Lebkuchen, der aus dem Weizen der Sautratten vom Konditormeister Fallosch in Paternion gebacken worden war, befand sich ein nackter roter Krampus mit einem Ziegenfell um die Hüften, mit bösem Blick und schielenden Augen, mit gelben Hörnern, heraushängender Zunge, langen, spitzen Ohren, Pferdehufen und schweren Eisenketten, der einen Bastkorb vor sich herschleppte, in dem zwei Kinder gefangen waren, ein Mädchen und ein Bub. Der weinende und im Korb gefangene Bub betete mit gefalteten Händen, das kniende und ängstlich nach rechts schielende Mädchen hielt ein Leintuch, das mit Gravensteineräpfeln und Moro-Blutorangen gefüllt war.

Ganz abgesehen davon, daß es bei den Bauern im Dorf einen Gesindetisch gab, denn die Leibeigenen waren nicht würdig am Familientisch Platz zu nehmen, sollen die Herrenbauern, wie du mir erzählt hast, mein Tate, nicht eben zimperlich umgegangen sein mit ihren Knechten und Mägden. Ein an den Teufel glaubender Knecht soll am Nikolausabend, als man das Kratzen der Ruten hörte, in sein Schlafzimmer gelaufen sein, sich hinter dem Kachelofen verkrochen und laut und weinend das Vaterunser gebetet haben. Ein anderer junger Knecht, der am Krampustag von einem Teufel mit einer Rute geschlagen wurde, soll vor Todesangst aus der Küche in den Keller gelaufen sein und sich schreiend auf einem Haufen keimender Erdäpfel gewälzt haben. Vollkommen irritiert stand ein Knecht, der das erste Mal ein Radio sah, vor dem Apparat, als ihn der Bauer aufforderte: »Sag dem, der da drinnen redet, daß er das Maul halten soll!« Der Knecht trat nahe an das Radio heran und schrie mehrmals in den Lautsprecher hinein: »Halts Maul! Halts Maul!« Einen schwer betrunkenen Knecht, so hast du es mir erzählt, mein Tate, soll ein Bauer aus dem Dorf in den Schweinestall gestoßen haben. Dem ohnmächtig im Dreck liegenden Knecht sollen die Schweine in der Nacht die Hoden abgefressen haben.

Bald nach dem Besuch von Nikolaus und Krampus, bei dem der Eichholzeropa und der Onkel Peter als Beschützer der Kinder aufgetreten waren, lernten wir in der Schule von Theodor Storm das Gedicht »Knecht Ruprecht« auswendig: »Von drauß’ vom Walde komm ich her; / Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr! / All überall auf den Tannenspitzen / Sah ich goldene Lichtlein sitzen; / Und droben aus dem Himmelstor / Sah mit großen Augen das Christkind hervor …« Sehnsüchtig warteten wir nach dem Krampus- und Nikolausbesuch auf das Christkind, auf einen friedlichen Weihnachtsabend mit einem über und über geschmückten und leuchtenden Christbaum, auf viel Schnee und auf die meterlangen Eiszapfen an der desolaten Dachrinne der Holzhütte hinter dem Stall. Einmal, du erinnerst dich, mein Tate, sind wir beide eine Woche vor Weihnachten den rechten Balken des kreuzförmig gebauten Dorfes entlanggegangen, sind über den Sautratten im Tiefschnee in deinen Wald hineingestapft und haben zwei Christbäumchen abgehackt, einen Tannenbaum und einen Fichtenbaum, und haben dabei gemeinsam gesungen, ich mit meiner hellen Kinderstimme, du mit deiner rauhen Stimme und mit der Zahnprothese deines klappernden Gebisses: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter. Du grünst nicht nur zur Sommerzeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit: O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter!« Ich erinnere mich noch, wie ich die beiden Bäumchen mit meiner linken und meiner rechten Hand, das Lied weitersummend und bergab vorwärts schreitend, hinter mir nachgezogen habe, während du das Hackbeil getragen und dich am Hang, über den tief verschneiten Sautratten, in denen das Skelett des Judenmassenmörders schlummerte, vorsichtig vorangetastet hast. Den Tannenbaum durfte ich alleine als Weihnachtsgeschenk zum Oberlehrer Franz Berghuber bringen, der mich in den beiden ersten Klassen der Volksschule unterrichtete, der später Hauptschullehrer in Villach wurde, in den Ferien ständig auf Weltreise war und sich, nachdem er von seiner Todeskrankheit erfahren hatte – »Krebs!« hat es geheißen –, mit einer Pistole aus dem Zweiten Weltkrieg erschoß. (»Das ist vielleicht der Krebs!« sagte auch die Pfarrermarie zu mir als Ministrant, wenn zwei-, dreimal im Jahr an meiner linken Wange ein eitriger Hautausschlag auftauchte.) Einen Säbel, einen Dolch und ein Maschinengewehr mit Munition, das du, mein Vater, aus dem Zweiten Weltkrieg mitgebracht hast, haben wir in einer Kiste auf dem Dachboden gefunden, gleich neben dem Getreidespeicher, wo wir mit deinem Kriegssäbel die sich auf dem Getreide aus den Sautratten herumtummelnden Mäuse aufgespießt und den hungrigen Katzen vor die Füße geworfen haben. Warum hast du nicht daran gedacht, daß eines deiner Kinder – und das hätte wiederum nur ich gewesen sein können! – die Munition ins Maschinengewehr steckten und mit der Waffe blindwütig durch Haus und Hof hätte gehen können? Oder wie der Nachbarssohn, der mit einem Gewehr in den eigenen Stall ging und eine Kuh niederstreckte? Kleine, mit silbernem Lametta geschmückte Fichtenbäumchen, die wir auch mitgenommen haben aus dem Wald, wurden aufs Grab der Großeltern und der drei im Krieg im jugendlichen Alter gefallenen Brüder gesteckt, der eine, der in Jugoslawien gefallen war, fand tatsächlich sein Grab auf dem Friedhof seines Heimatdorfes Kamering, die anderen wurden in Rußland verscharrt, unweit der Schützengräben, wo ihre Kameraden noch um Leib und Leben kämpften. Am Weihnachtsabend, während wir in der eiskalten Kirche bei der Christmette saßen, brannten knisternd auf den in den Gräbern steckenden, mit silbernem Lametta geschmückten Fichtenbäumchen verschiedenfarbige Wachskerzen.

Warum, mein Tate, hast du eines Tages nicht mehr mich, sondern meine Brüder vor einer Schweinsschlachtung beauftragt, beim Straßenmeister Tone den Buffer, den Schlachtschußapparat, auszuborgen, der in einer hölzernen Schachtel lag und mit dem ich nur ein einziges Mal durchs Dorf hatte gehen dürfen? Hattest du Angst, daß ich mir oder jemand anderem etwas antun hätte können? Von den Erwachsenen hörten wir öfter, besonders zu Allerheiligen und Allerseelen: »Der gehört an die Wand gestellt!« Wir Kinder verwendeten dann und wann den Ausdruck: »Der gehört niedergemäht!« Am besten auf den Sautratten, mit den Schröckenfux-Sensen, über dem dahinmodernden Skelett vom Odilo Globocnik, von dem wir nichts wußten! Den Schlachtschußapparat trug ich ehrfürchtig, aber auch mit Gänsehaut in doppelter Ausfertigung durch das Dorf, einmal war dieser Bolzenschußapparat, der den Namen »Blitz« trug, auf dem Deckel der Holzschachtel abgebildet und wurde dort als »Viehbetäubungsapparat zum Schlachten« beschrieben, zum anderen wurde das Mordwerkzeug mit Namen »Blitz« von der Holzschachtel verdeckt, ich hatte also einen möglichen Mord in doppelter Ausfertigung in der Hand, den bildlichen und den tatsächlichen. Ich wußte, man konnte von diesem »Blitz« blitzschnell tot sein. Bevor ein Schwein geschlachtet wurde, lag der Schlachtschußapparat mehrere Stunden lang in der Küche auf dem Fensterbrett. Die Schlachtung wurde schon am Vorabend vorbereitet. Die Küche roch nach Knoblauch, Pfeffer und Kolophonium. Ich hockte auf dem Diwan, schaute aus dem Fenster zum Pfarrhügel hinauf, senkte meinen Blick auf den mich gruselnden, unheimlichen Schlachtschußapparat, nahm mehrere Bolzen aus der Schatulle, begutachtete sie eine Zeitlang und legte sie wieder sorgfältig hinein. Als es dann am nächsten Vormittag soweit war, ging ich in unser Schlafzimmer, legte mich unters Bett, lauschte auf das laut zwillende, sich widersetzende, seinen Tod längst ahnende Schwein, das von zwei Männern mit einem Strick, der am Oberkiefer befestigt war, aus dem Stall gezogen und, wenn es sein mußte, von der Magd mit dem Kalbstrick oder mit einer Trauerweidenrute aus dem Sumpfgebiet der Sautratten vorwärts geschlagen wurde. Wenn dann der Vater zwei Finger breit über den Augen der Sau an der Stirn den Buffer ansetzte, die nach Enzianschnaps riechenden Sauschlachter bereits angespannt auf das Tier starrten, dem der Garaus gemacht werden sollte, und ich schließlich den gedämpften Schuß hörte und das Zwillen des Schweins beendet war, zuckte ich unter dem Bett zusammen, strampelte kichernd mit meinen Beinen, wälzte mich unter dem Bett hervor in die Zimmermitte und ging, mit Staubflocken auf meinen Kleidern, neugierig auf den Balkon hinaus. Die Pine, unsere taubstumme Magd, hielt eine Wasserschüssel unter die Wunde am Hals, die der Tate gestochen hatte, und rührte, damit das Blut nicht stockte, mit einem Kochlöffel in der Schüssel, mit dem einen Tag zuvor die Mutter das kochende Szegediner Gulasch umgerührt hatte, oder man rief mich und gab mir den Auftrag, das Blut zu rühren, lange, eine halbe Stunde lang, während der Tate dem Schwein die Ohren abschnitt, mit einer Beißzange die Fußnägel abzog, das tote Schwein mit dem pulverisierten Kolophonium, mit dem »Saupech«, einstäubte und es mit heißem Wasser überbrühte, denn mit dem Harz ließen sich die Borsten des Schweins leichter abschaben. Die Blutlache vor dem Misthaufen vermischte sich mit der Jauchelache. Zwischen den Sauborsten lagen die abgezogenen, blutigen Zehennägel. Mit einem schon am Vortag gewetzten, großen Schlachtmesser schnitt der Tate, das Messer mit beiden Händen festhaltend und dabei in die Knie gehend, dem auf einem Gerüst aufgehängten Schwein senkrecht den fetten Bauch auf. Die Magd fing in einem Blechbottich die warmen, stinkenden Eingeweide auf. Mit einem Beil hackte er den Schädel des aus der Schnauze blutenden Schweins auseinander und bedeckte den Körper zum Schutz vor den buckelig herumschleichenden, hungrig schnurrenden Katzen mit einem groben weißen Leintuch, das schnell die Blutflecken aufsaugte.

In den dreißig Jahren nach dem Krieg, die der Eichholzeropa noch erlebte, verstummte er vollkommen, arbeitete, solange er konnte, im Stall, im Heustadel oder auf den Sautratten über dem Skelett des Judenmassenmörders. Ohne ein Wort zu sagen, führte er den Heurechen und die Schröckenfux-Sense, schnitt mit der Schröckenfux-Sichel den Roggen für das Schwarzbrot, den Weizen für das Weißbrot, den Hafer für die Zugpferde und bündelte das Getreide zu Garben. In seinem breiten Hof, auf dem Holzblock sitzend, wetzte er stumm die Sense, auf der ein Etikett mit dem österreichischen Bundeswappen und mit dem Adler abgebildet war, unter dem stand: »Mähfertig, handgedengelt«. Der Pfau stand, hin und her tänzelnd, mit ausgebreiteten Federn neben dem Großvater. Manchmal griff der Eichholzeropa in seine Hosentasche und warf dem erschrocken nach hinten trippelnden Pfau eine Faustvoll Getreidekörner vor die Füße. Ich sah ihn in den anderthalb Jahrzehnten, in denen ich ihn noch erlebte, nur ganz selten lachen, einmal, als meine Schwester als Gratulantin zu seinem Geburtstag auftauchte und heimlich ein Scherzzuckerstück in seinen Kaffee warf. Als sich das Zuckerstück im Linde-Kaffee auflöste und eine Plastikfliege an die Oberfläche kam, begann der überraschte Großvater, seine angerauchte Smart Export ausdrückend, herzlich zu lachen. Oder auch bei einem der schönsten Augenblicke in meinem Kinderleben, als der Großvater – wiederum zu seinem Ehrentag als Molkereivorstand – vom strengen Molkereidirektor Dr. Michael Hecher, mit dem er sich, was nur ein paar Mal im Jahr vorkam, angeregt unterhalten und dann und wann auch lachen konnte und der immer mit einem weißen Arbeitsmantel bekleidet in seinem weißen Mercedes auf den Hof fuhr, eine große Holzkiste mit kleinen runden Löchern geschenkt bekam, aus der wir ein mysteriöses Kratzen hörten. Als der Großvater im Zimmer unter den großen, eingerahmten schwarzweißen Brustbildern seiner drei im Krieg gefallenen Söhne mit einer Beißzange die Nägel aus der Kiste zog, sprang ein männlicher Pfau mit seiner Federpracht aus der Kiste, der zuerst im breiten Flur des Bauernhauses hin und her irrte, ehe das den Schrei des Teufels ausstoßende Tier von den Kindern in den breiten Hof hinausgetrieben wurde. Von nun an wurden immer wieder Pfaufedern hinter die an der Wand hängenden Porträts der drei im Krieg gefallenen Soldaten gesteckt. Manchmal schoben wir noch warme, blutige Federn mit dem Augenfleck, die wir dem Pfau ausgerissen hatten, hinter die Bilderrahmen der Gefallenen. Der eine fiel am Ladogasee in Rußland, der andere in der Stadt Newel in Rußland, der dritte in Jugoslawien. Immer entstand eine Begräbnisstimmung im Haus oder auf dem Feld bei der Arbeit, ob auf dem Kirchenfeld, auf dem Spitzanger oder über dem Skelett des Judenmassenmörders, wenn vom Ladogasee, von der Stadt Newel oder von Jugoslawien die Rede war. »Dort sind sie geblieben!« hat es oft geheißen. Bevor wir in der Volksschule in Erdkunde unterrichtet wurden, wußte ich schon, wo sich der Ladogasee und die Stadt Newel befinden. Allein bei den Wörtern Jugoslawien oder Tito bekamen wir Gänsehaut, der Tito war ein Kommunist, ein Verbrecher und Massenmörder, aber Hitler wurde nie mit diesem Vokabular in Zusammenhang gebracht, einmal war er der Adolf, ein strenger Onkel aus der Welt der Schützengräben, ein anderes Mal war davon die Rede, daß wir in unserer verlotterten Gesellschaft wieder einen kleinen Hitler bräuchten. Erinnere dich, mein Vater, öfter habe ich von dir wörtlich gehört, daß wir keinen großen, aber einen kleinen Hitler bräuchten. Der große Hitler hat mit seinem Rußlandfeldzug die Weltmacht Deutschland vermasselt, aber ein kleiner Hitler … Wenn von Verbrechern die Rede war, hörten wir von dir: »Mein Lieber! Der Hitler wäre mit denen abgefahren!« Also abgefahren! Immer wieder begannen diese und ähnliche Sätze mit den Worten: »Mein Lieber!« Dann hast du wieder losgelegt, mit Blick auf das Sautrattenfeld, in dem der Kadaver des Massenmörders lag.

Wenn meine Mame tagelang kein Wort sprach, fiel es niemandem auf, man hatte sich mit ihrem Schweigen und ihrer Sprachlosigkeit längst abgefunden, man hatte seine Ruhe, wurde nicht mit Geschwätz und sinnlosem Gerede genervt, aber die Trauertotenglocke schwebte ständig über dem Enz-Hof, über dem ganzen Dorf, über dem Spitzanger und über dem Kirchenfeld, wenn geschwiegen wurde bei der Arbeit, und auch wenn erzählt wurde, läutete stumm die Trauertotenglocke, und wurde erzählt, dann wurden vor allem Sterbearten im Krieg und Tote aus der Verwandtschaft aufgezählt. Selbst wenn ich mit dem Tate ein paar Tage vor Weihnachten durch den Schnee des Waldes stapfte und wir einen Christbaum, immer einen Fichtenbaum, für uns nie einen Tannenbaum, holten – nur einmal für den Lehrer Franz Berghuber einen –, freute ich mich zwar auf Weihnachten, aber gleichzeitig wußte ich, daß es wieder ein Trauertag sein würde, ein Gebetsabend mit kleinen Geschenken, notwendigen Kleidern, Flanellhemden und langen Flanellunterhosen, mit Engelshaar und silbernem Lametta, mit verschiedenfarbigen Kerzen und mit den funkelnden Sternspritzern, die den Bach hinunterrauschten unter dem Eis, denn so hörte es sich an, wenn der Christbaum erleuchtet und die langen Stäbe ihre Funken in der Gestalt von winzigen und schnell wieder verglühenden Sternen zwischen den Fichtenästen versprühten, ein Gebetsabend für die verstorbenen Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits und für die drei im Krieg gefallenen Brüder meiner Mame, mit denen mein Tate einen Teil seiner Jugend verbracht hatte, er war der väterliche Freund der drei jungen Männer gewesen. Alle paar Jahre, besonders vor Weihnachten, sagte die Mame zu mir: »Seppl! Bei jedem Fest drehst du durch!« Also bin ich auch zu Ostern, zu Mariä Himmelfahrt, zu Pfingsten, zu Fronleichnam, zu Allerheiligen und Allerseelen immer wieder durchgedreht und bin quergestanden und quergelegen vor jeder Festlichkeit als Störenfried, der die heiligen Rituale durcheinanderbrachte, so gut es ging. Wenn ich ihr als Kind eine Frage stellte, wußte die sprachlose Mame meistens nur zu sagen: »Ich kann’s nicht sagen! Ich kann’s nicht sagen!« oder »Kindele! Ich kann dir nicht helfen!« Und als ich die damals ihre »Nerventabletten«, wie sie die Psychopharmaka nannte, schluckende Mame fragte, was denn eigentlich die »Nerven« sind – nachdem ich aus der »Bunten Illustrierten« erfahren hatte, daß das russische Eiskunstläuferehepaar Ludmilla Beloussowa und Oleg Protopopow mit ihrer aufsehenerregenden Todesspirale Olympiasieger wurden, bei der Ludmilla Beloussowa auf einem Bein, horizontal über das Eis gleitend, von der ausgestreckten Hand von Oleg Protopopow gehalten und mehrfach um dessen Körperachse gezogen wurde – und warum das Olympiasiegerpaar keine Nerven hat, seufzte sie nur mehrmals beim Essenkochen am Herd, rührte weiter den Kochlöffel im Szegediner Gulasch oder drehte weiter die schwimmenden Kärntner Nudeln im Kochwasser im Kreis, damit sie sich nicht senkten und am Boden der Schüssel nicht anpicken konnten, und sagte kein Wort. Manchmal, zwischendurch oder im Gespräch mit ihren Schwestern, klagte sie nur: »Es sind halt die Nerven! Die Nerven! Die Nerven sind halt ein Teufel!« Halt! Ein Teufel! Der nie schläft und der die Nerven mit einem violetten Tintenbleistift an die Wand malt, auch hinter ihrem über dem Ehebett angebrachten großen, schweren Heiligenbild mit der Madonna della Seggiola von Raffael, nicht nur hinter dem Schutzengelbild im Kinderschlafzimmer. Besonders beim Zwiebelschneiden weinte sie oft, manchmal zart, manchmal bitterlich, und zertrat mit den nägelbeschlagenen Schuhen ihre auf dem Küchenboden tropfenden Tränen.

Die jüngste Tochter meines Großvaters mütterlicherseits, die Tant’ Nane, wie wir sie nannten, die Schwester meiner Mame, die immer wieder erzählte, daß sie mich bereits als einjähriges Kind mit einem Bleistift in der Hand gesehen habe, flüchtete als Jugendliche abends aus ihrem sprachlosen Elternhaus, in das die drei Soldaten, ihre Brüder, nicht mehr lebend zurückkehrten, ins gegenüberliegende Schulhaus, wo der Lehrer Franz Berghuber mit seiner Familie wohnte und wo das große, überdachte Dorfkruzifix stand, das besonders zu Fronleichnam und Pfingsten über und über mit Blumen, mit roten und cremefarbigen Purpurglöckchen und buschigen weinroten und weißen Pfingstrosen, geschmückt wurde, um in ihrer Vereinsamung überhaupt mit jemandem reden und der Sprachlosigkeit entfliehen zu können. Während der Fronleichnamsprozession trug der Pfarrer eine von der Pfarrermarie mit Blumen geschmückte Monstranz mit einer konsekrierten Hostie, beschützt unter einem mit Heiligenmotiven bemalten Stoffbaldachin, der »Himmel« genannt wurde und den an einer der vier Stangen dann und wann auch der Tate mittrug. Meistens aber trug der Tate während des Fronleichnamsfestes eine blaugetönte Laterne, in der eine Kerze schummerte. Wenn er aus dem Radio von Lale Andersen das Lied »Lili Marleen« hörte, hob er, während Tränen über seine Wangen rannen, ehrfürchtig den Kopf – »Vor der Kaserne, vor dem großen Tor …« –, lauschte und erzählte schließlich, daß er im Schützengraben das Lied öfter gehört und daß in diesen Minuten auf beiden Seiten Schießpause gegolten habe. »… Stand eine Laterne / Und steht sie noch davor / So woll’n wir uns da wiederseh’n / Bei der Laterne woll’n wir steh’n / Wie einst Lili Marleen«.

»Uns’re beiden Schatten / Sah’n wie einer aus / Daß wir so lieb uns hatten / Das sah gleich man daraus / Und alle Leute soll’n es seh’n / Wenn wir bei der Laterne steh’n / Wie einst Lili Marleen.« Der Lehrer Berghuber, zu dem die junge Tant’ Nane abendlich flüchtete, ließ mich in der ersten und zweiten Volksschulklasse, wenn ich wieder nichts wußte und konnte oder wenn ich vorlaut war im Unterricht, so lange auf einem Holzscheit knien, bis ich mich nicht mehr erheben und nur mehr auf Knien rutschend, weinend und mit zusammengebissenen Zähnen in die mit Tinte bekleckste Schulbank zurückkehren konnte. Wenn er zu mir sagte: »Du wirst gleich einen Karzer kriegen!«, bekam ich Todesangst, ich wußte, daß man mich tagelang einsperren würde in einen Kerker, wo ich die Karzerstrafe absitzen, womöglich eine körperliche oder seelische Folterung durchstehen müßte, und überlegte mir, ob ich mich nicht lieber vorher wegräumen sollte mit einem kot- und blutbeschmierten Kalbstrick, der im Stall auf einem Haken hing, knapp unter einem Schwalbennest, aus dem die junge Brut zwitscherte, wenn die Schwalbenmutter wieder und wieder als Schwarzer Blitz, wie wir sie nannten, aus- und einflog. »Wenn das Wetter schön ist«, hast du gesagt, Tate, »dann fliegen die Schwalben hoch, wird es schlecht, fliegen sie niedrig«, und hast dir überlegt, ob du das Heu einbringen oder noch warten solltest, bis es ganz trocken ist. Und als wir einmal mit einer Garbe Getreide in der Hand zwischen den tieffliegenden Schwalben auf den Sautratten über dem Skelett von Odilo Globocnik standen und auf die schwarzen Wolken schauten, hast du mit deinem Kopf nach Süden, nach Italien, gedeutet und gemeint, daß vom Süden, von dort unten, von den »Katzelmachern«, wie du sie genannt hast, sowieso nichts Gutes, nur Schlechtes kommt, also konnte auch nur schlechtes Wetter kommen – wo der immer wieder Greueltaten erzählende Onkel Hermann mit dem Hitlerbärtchen in Kriegsgefangenschaft war, aus der er sich durch einen mehrere Wochen dauernden Gewaltmarsch, wie er es nannte, genau wie sein Nachbar, der auf den Sautratten endete, in sein Heimatland nach Kärnten retten konnte. Mehrmals sagte er bei seiner Kriegsberichterstattung, besonders zu Allerheiligen und Allerseelen, wenn wieder von seiner schrecklichen Kriegsgefangenschaft in Italien die Rede war: »Die Italiener gehören alle mit einer Schubraupe bis zum Stiefel hinuntergeschoben!« Als der Lehrer Berghuber eines Tages die Diagnose Krebs bekam, schrieb er kurzerhand einen Abschiedsbrief an meine ebenfalls weitgereiste Cousine Herma, in dem wörtlich stand, daß er nun Abschied nehmen müsse und seine allerletzte Reise antreten werde. Unmittelbar danach erfuhren wir, daß er sich erschossen hatte. »Der Herr Oberlehrer hat sich die Kugel gegeben!« hat es im Dorf geheißen. »Schon rief der Posten / Sie bliesen Zapfenstreich / Es kann drei Tage kosten / Kam’rad, ich komm ja gleich / Da sagten wir auf Wiedersehn / Wie gerne würd’ ich mit dir geh’n / Mit dir Lili Marleen!«

»Deine Schritte kennt sie, / Deinen zieren Gang / Alle Abend brennt sie, / Mich vergaß sie lang / Und sollte mir ein Leids gescheh’n / Wer wird bei der Laterne steh’n / Mit dir Lili Marleen.« Hängte sich jemand auf, dann war in der dörflichen Umgangssprache davon die Rede, daß er sich weggeräumt hatte. Meistens verrichteten die Mägde noch ordentlich ihre Stallarbeit, fütterten die Tiere, melkten die Küche, kehrten den Stall sauber, damit es keine üble Nachrede gab, danach hängten sie sich mit einem Kalbstrick auf, mit dem sie sonst geholfen hatten, die Kälber auf die Welt zu ziehen. Niemand im Dorf vergiftete sich mit Tabletten oder mit einem Fliegen- oder Knollenblätterpilz, alle hängten sich auf oder gaben sich die Kugel mit Pistolen und Gewehren aus dem Zweiten Weltkrieg, die sie mitgenommen hatten von den Schlachtfeldern. Und wenn es sein mußte, brachten sie sich mit dem Schlachtschußapparat um. Ein Knecht – aber das blieb eine Ausnahme – stürzte sich in einem Wald über dem Dorf von einem hohen Felsen in einen Karpfenteich hinunter. Sein Leichnam mußte von der Feuerwehr zwischen ein paar toten, mit weißem Bauch auf dem Rücken treibenden Karpfen herausgefischt werden. Da wir, mein älterer Bruder und ich, immer kreideweiß im Gesicht waren und tiefe schwarze Ringe unter den Augen hatten, wohl unterernährt vom Getreide aus den Sautratten und vom Zuckeressen, wenn wir des selbstgemachten Specks und des Brots von der Feistritzer Mühle, die von mehreren Bauern mit dem Getreide aus den Sautratten beliefert wurde, überdrüssig wurden, nannte uns die Cousine Herma, die direkt neben den Sautratten aufgewachsen war: »Die Leichen!« Sie öffnete die Küchentür meines Elternhauses, schaute meinem bleichen Bruder und mir ins Gesicht und rief entzückt: »Die Leichen!« Öfter sagte die weitgereiste, im Laufe ihres Lebens von Kontinent zu Kontinent taumelnde Herma: »Meine Weltreisen kann mir niemand mehr nehmen!« Sehnsuchtsvoll fuhren wir im Atlas mit dem Finger auf der Landkarte vom Ladogasee zur Stadt Newel und von dort bis nach Jugoslawien. Auch Klagenfurt gab es für uns noch als bekannten Ort, wo am Neuen Platz Onkel und Tante die Konditorei Rabitsch hatten, und Lech am Arlberg, wo die Tant’ Nane wohnte, die erzählte, daß sie mich schon als einjähriges Kind immer wieder mit einem Bleistift in der Hand angetroffen habe. Und in Feistritz an der Drau – ebenfalls ein bekannter Ort – holten wir alle paar Wochen das frische, noch warme Sautrattenbrot mit dem Globocnik-Roggen ab, das in einen Jutesack eingepackt wurde, auf dem »Café do Brasil« stand und den wir mit dem Omnibus nach Kamering in mein Elternhaus brachten. »Aus dem stillen Raume, / Aus der Erde Grund / Hebt mich wie im Traume / Dein verliebter Mund / Wenn sich die späten Nebel drehn / Werd’ ich bei der Laterne steh’n / Wie einst Lili Marleen.«