ich ken dich nischt farhitn, majn kind,
fun schlechte chalojmess.
zi tor ich den farschteln dem weg
far dojress,
woss wejnen arajn in dajn cholem?
dajn betl – a hilzern schifl
ojf schwarze chwaljess fun hass –
ich rir on mit di lipn dajn kepl,
wert schtiler in drojssn di gass.
Ich kann dich nicht behüten, mein Kind,
vor schlechten Träumen.
Darf ich den Generationen
den Weg versperrn,
die in deinem Traum klagen?
Dein Bettchen – ein hölzernes Schiff
auf schwarzen Wogen von Haß.
Ich berühr deinen Kopf mit den Lippen –
schon wird draußen die Straße stiller.
Da schickt der Herr den Schlächter aus / Er soll den Ochsen schlachten, / Schlächter schlacht’ den Ochsen nicht, / Der Ochse säuft das Wasser nicht, / Das Wasser löscht das Feuer nicht, / Das Feuer brennt den Prügel nicht, / Der Prügel schlägt den Pudel nicht, / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.
warum hast du geschwiegen, tate – »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!« hat es oft geheißen in der Totenstille –, warum hast du diese schreckliche Leiche vor uns verleugnet, du mußt es gewußt haben, daß die Engländer den Kadaver von Odilo Globocnik auf den Sautratten verscharrt haben – »Zwei Millionen ham’ma erledigt!« –, du hast diese Geschichte immer ausgespart aus deinen Berichten, wenn du uns deine Kriegserlebnisse und Kriegsabenteuer erzählt hast bei der Arbeit im Stall und im Heustadel, auf dem Kirchenfeld, auf dem Spitzanger oder bei der Erdapfelernte auf den Sautratten, auch zu Ostern und Pfingsten, aber besonders zu Allerheiligen und Allerseelen, wenn der Onkel Franz, der bei der SS war und von dem wir bei jedem seiner Besuche gehört haben: »Ich war nur in Nürnberg am Schreibtisch, ich habe nichts getan!«, und der Hitlerbärtchen tragende Onkel Hermann, der ein halbes Jahrhundert lang bei jeder Gelegenheit die Russen, die Engländer und die Amerikaner verfluchte, wenn also der Onkel Franz und der Onkel Hermann zu Allerheiligen und Allerseelen nach der Gräberbesprengung mein Elternhaus betraten und in der Küche, während die Mame und die Schwester das Wiener Schnitzel zubereiteten, vom Krieg erzählten. Als die Schwester einmal anstatt mit ausgesiebtem weißem Mehl mit dem hellbraunen Vollkornmehl aus den Sautratten Vanillekipferln backte und man dir die noch warmen, in Vanillestaubzucker gewälzten Kipferln mit dem für dich ungewöhnlichen Geschmack des Vollkornmehls zum Kosten gab, hast du abschätzig geantwortet: »Laß dich heimgeigen!«, und ihr den Rest des Vanillekipferls zurückgegeben. Ich muß dir sagen, mein Tate, es hat mir für ein halbes Jahr den Appetit verschlagen, als ich vor zwei Jahren erfuhr, daß wir als Kinder auf den Sautratten über dem Skelett des Judenmassenmörders den Roggen für das tägliche Schwarz-Brot und den Weizen für das tägliche Weiß-Brot eingebracht haben. Vielleicht fuhr mir das Getreide aus den Sautratten, wo das Skelett vom Judenmassenmörder Odilo Globocnik ständig auf dem Sprung war, erst jetzt in die Knochen? Schleichend kam die Appetitlosigkeit daher, ich aß immer weniger, lebte über Wochen nur mehr von Wasser, Brot und Datteln, bis man auf meinem inzwischen über sechzig Jahre alten Brustkorb Klavier spielen konnte. »Auf deinem Brustkorb kann man Klavier spielen!« hat es in der Kindheit geheißen, wir waren unterernährt mit zuviel Zucker aus dem Fünfzigkilo-Zuckersack, der offen in der Speisekammer neben der Küche stand, wo wir, die Leichen, wie wir von der Cousine Herma genannt wurden, heimlich zugreifen konnten, wann immer wir wollten. »Wir müssen wieder eine Fassung Zucker beim Deutsch bestellen!« hat es öfter geheißen. Damit die hungrigen Leichen in den Zuckersack hineingreifen konnten.
Ich magerte ab, nachdem ich erfahren hatte, daß das Skelett des Massenmörders damals auf den Sautratten unter unseren nackten Kinderfüßen gelegen hatte, getraute mich oft nicht mehr aus dem Haus oder blieb hinter einer Fichte stehen, wenn mir im Wald jemand entgegenkam, ich ließ mich nicht mehr mit Badehose am See oder am Meer blicken und verbarrikadierte mich immer mehr. Obwohl ich immer mehr aus dieser Welt verschwand, wurde mein Körper Tag für Tag schwerer, besonders wenn ich am Morgen aus dem Bett steigen wollte, als trüge ich nicht nur mein Fleisch und Blut, sondern auch kiloweise Blei mit mir herum, das ich mit erhitztem Kopf am Silvesterabend vom Turm gießen und aus mir eine Schießbudenfigur machen würde, die sich während des Fluges in der Luft zerreißt und neu zusammenstellt. »Ich zerreiße dich in der Luft!« sagte der Lehrer, wenn ich wieder nichts konnte im Unterricht, oder: »Ich reiß dir den Arsch aus und schmeiß ihn dir ins Gesicht!« Erst seit ich dir diesen Brief schreibe und mit meinen Worten neuerlich an deinen Lippen hänge – bilde ich mir jedenfalls ein –, beginne ich wieder zu essen, habe ich den Appetit wiedergefunden. Vielleicht aber habe ich meinen Hunger nur simuliert und geheuchelt, um dich mit Worten wieder einmal aufzustöbern in deinem Grab, denn schon zu lange liegst du in Ruhe und Frieden und in Absterbens-Amen unter der Erde auf dem Friedhof im kreuzförmig gebauten Dorf Kamering, unserem gemeinsamen Heimatdorf, im Grab deiner Eltern, neben deiner Frau, meiner Mame, die wir vor ein paar Jahren beerdigen mußten, während du schon seit über zehn Jahre in deine Heimaterde eingebettet bist und dich ausruhst für die Ewigkeit, nur tausend Schritte von deinen geliebten und ergiebigen Sautratten entfernt.
In dem kleinen mexikanischen Dorf Xoxo, unweit vom Vulkan Popocatepetl, sah ich zu Allerheiligen beim »Día de los Muertos« auf einem über und über mit gelben und weißen Tagetesblumen geschmückten Friedhof, in dessen Mitte, gestützt von Holz- und Eisenbalken, die Ruinen einer Kirche standen, wie in der Finsternis die Friedhofsbesucher zwischen den langen, brennenden Kerzen mit Eisenstangen in den Gräbern der Verwandten stocherten, um die Geister ihrer Toten aufzustöbern und aufzuwecken für das Allerheiligen- und Allerseelenfest, während die Kinder keck an Schokoladeskeletten leckten und an den »Calaveras de dulce«, an den Zuckertotenköpfen, knabberten. Jetzt stochere ich mit Worten in deinem Grab auf dem Kameringer Friedhof in Kärnten, in deinem längst von der Verwesung zerbrochenen Calavera, um dich wieder aufzustöbern und zum Sprechen zu bringen auf einem deiner Felder und auf dem Papier. Tatsächlich brachte ich auch eine Schachtel voll Zuckertotenköpfe aus Mexiko mit, die ich, damit sie nicht zerfielen, mit Haarspray besprühte und in allen Ecken und Enden meiner Schreibkanzlei aufstellte, selbst im wandbreiten Regal zwischen den Büchern, vornehmlich bei den französischen Surrealisten und bei den Russen, bei Lew Tolstoi, bei Anna Achmatowa und bei Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Du wolltest unbedingt begraben werden und unter der Erde vermodern, es war nie die Rede davon, daß wir dich hätten einäschern sollen, du hättest eine Einäscherung, wie ich sie oft in Indien, in der heiligen Stadt der Hindus, in Varanasi, am Ufer der Ganga sah, als Leichenschändung empfunden, davor graute dir. Als einmal, vor über zwanzig Jahren, Rajiv Gandhi mit einer Fackel den Holzstoß entfachte, auf dem seine Mutter, die ermordete indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi, lag und wir beide bei dieser Einäscherungszeremonie gemeinsam in meinem Elternhaus in Kamering vor dem Fernseher saßen, bist du vom grünen Diwan aufgesprungen, den einst deine dicke Mutter eingesessen und mit ihrem Urin verseucht hat, hast mich entsetzt angestarrt und gerufen: »Stell dir vor! Der eigene Sohn hat seine eigene Mutter aufgeheizt!« Es lag mir auf den Lippen, aber ich habe es nicht ausgesprochen: »Auch wir werden dich aufheizen!« Wenn es soweit ist! Aber ich war in Tokio, als du gestorben bist, ich bin auch nicht zu deinem Begräbnis nach Hause gekommen, es war ein großes Glück, nicht bei deiner Verabschiedung dabeisein zu müssen, denn einmal hast du mir empört ausrichten lassen, daß ich nicht zu deinem Begräbnis kommen solle, nachdem ich geschrieben hatte, daß eine Bäuerin aus dem Dorf ihren versoffenen Bauern in ein Schweineglitsch gesteckt hatte und dem in der Nacht die Schweine die Hoden abgefressen hätten, du hattest angeblich Angst, daß man mir in meinem Heimatdorf bei deinem Begräbnis etwas antut und mich in dein Grab hineinstößt, sodaß ich auf deinen Sarg falle und mit meinem Lebend- oder Totgewicht nicht nur das Blumenbukett mit den vielen roten Rosen zerquetsche, vielleicht auch noch deinen Sargdeckel eindrücke und meinen Lebendkopf an deinen Totenkopf schlage und mein und dein Haupt ineinander zerbröseln.
Nach meiner Rückkehr zu dir, nachdem ich über dich und mich und über dieses vergiftete Dorf das dritte Buch geschrieben, danach die Sprache verloren und mich auf die Suche nach neuem Schreibstoff für die Rückkehr des verlorenen Sohnes begeben hatte – ich kannte die Parabel von der »Heimkehr des verlorenen Sohnes« von André Gide und das berühmte Gemälde von Rembrandt –, wagte ich es nicht, tagsüber alleine über die Dorfstraße zu gehen, zum Friedhof, in die Kirche oder gar ans Ufer der Drau, ins Dickicht der Auen bei den Sautratten, ich hatte tatsächlich Angst und schämte mich, ich hatte auch ein schlechtes röm.-kath. Gewissen, und ich verstand die unausgesprochenen, hinter jeder Hausfassade und hinter jedem nachbarlichen Küchenfensterkreuz lauernden Worte: »Wenn Blicke töten könnten!« Erst in der Finsternis schlich ich mich dann und wann zum Friedhof hinunter, zu den herzensguten Toten, wie ich sie nannte, zu den früh verstorbenen und verunglückten Kindern, zu den jugendlichen Selbstmördern, zu Jakob, der sich gemeinsam mit seinem Freund Robert mit einem drei Meter langen Kalbstrick im Kopf des kreuzförmig gebauten Dorfes, im Heustadel des Pfarrhofs, erhängt hatte. Am 29. September 1976, habe ich einmal geschrieben, stiegen in meinem Heimatdort Kamering bei Paternion, Kärnten, der siebzehnjährige Mechanikerlehrling Jakob Pichler und sein gleichaltriger Freund, der Maurerlehrling Robert Ladinig, mit einem drei Meter langen Strick über eine Holzleiter des Pfarrhofstadels zu einem Trambaum hinauf. Sie schlangen das Seil um ihn und verknoteten die beiden Seilenden an ihrem Halswirbel. Der Nerv des Stricks zuckte. Ihre Hände flochten sich zu einem Zopf ineinander, immer schneller im Kreis sich drehend wirbelten sie wieder auseinander und kamen vor ihren blutunterlaufenen Augen zum Stehen. Keine zwei Monate später erhängte sich Roberts Bruder in einem Fichtenwald, und wiederum ein paar Jahre später nahm sich ihre gemeinsame Schwester das Leben, drei Geschwister starben durch Selbstmord. Nach dem Tod von Jakob und Robert war ich abgrundtief zerstört, sie hatten mir meinen eigenen Freitod vorweggenommen, aber mich auch gleichzeitig beglückt, weiterleben und über sie schreiben zu können, denn ich konnte damals nur über die Toten und nicht über die Lebenden schreiben und konnte mich nur mehr mit Lesen und Schreiben über Wasser halten, bis ich schrie und schließlich schrieb: Ich bin dabei, meine Kindheit, die sich zwischen zuckenden, blutigen Hahnenköpfen, trottenden Pferden, tänzelnden Kalbstricken bewegte, zu ermorden. Ich werde das Kind, das ich war, umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt! Damals hatte ich noch die Hoffnung, daß meine Kinderseele auf meinem zukünftigen Totenbett zur Ruhe kommen wird, heute habe ich diese Hoffnung nicht mehr, ich habe sie aufgegeben, ich werde weiter darüber schreiben müssen, ob im Inland oder im Ausland, in Mexiko zu Allerheiligen bei dem »Día de los Muertos« oder in der heiligen Stadt der Hindus, im indischen Varanasi, am Ufer der Ganga, am Harishandra Ghat bei den Einäscherungen der Toten.
Immer wieder stand der Vater des Selbstmörders Jakob im ersten Stock seines Hauses vor dem Fenster und schaute auf den katholischen nahe gelegenen Friedhof hinaus – »Ein Leben mit Aussicht auf den Friedhof!« sagte die Prostituierte Anna Magnani, am Fenster stehend und auf den Friedhof hinunterschauend, im Film »Mamma Roma« von Pier Paolo Pasolini –, wo sein siebzehnjähriger Sohn begraben worden war. Sein Freund Robert wurde auf dem evangelischen Friedhof in Feistritz an der Drau am selben Tag begraben. Jeder fremde Friedhofsbesucher kam dem Vater vom erhängten Jakob verdächtig vor, jeden fragte er, was er denn da suche und wolle, warum er denn aus dem Ausland kommen müsse, um das Grab seines Sohnes, eines einfachen Bauernsohnes und Mechanikerlehrlings, zu besuchen: »Mit dem Winkler wird es noch einmal schlimm enden!« sagte der Vater des Selbstmörders Jakob zu einem Friedhofsbesucher aus der Schweiz. »Das ist kein Mensch! Der hat das Dorf kaputtgeschrieben! Wir im Dorf sind anständige Leut’! Aber die Geschichte ist noch nicht ausgestanden!« Als ich, ein gebrochener Mensch, nur mehr ein Schatten meiner selbst, mit dem Scherenschnitt eines durchsichtigen Menschenkopfes, einem »papel picado« vom »Día de los Muertos« in Mexiko, dann tatsächlich einmal den verlorenen Sohn spielen wollte und vom elterlichen Bauernhof über den lotrechten Balken des kreuzförmig gebauten Dorfes zu dir, mein Tate, zur Feldarbeit auf die Sautratten ging, begegnete ich dem Vater des Selbstmörders Jakob. Er hatte einen hochroten Kopf, verwirrt hochstehende weiße Haare und trug eine Schröckenfux-Sense auf seiner Schulter. »Schämst du dich nicht, über die Dorfstraße zu gehen?« sagte er erregt und mit zitternder Stimme. »Meine Kinder läßt du in Frieden! Schau gescheiter auf dich und auf deine Eltern!« Ich hatte Angst, daß ihm in seiner Erregung die Schröckenfux-Sense, an der frisches Gras klebte, von seiner Schulter rutschen könnte. Du warst schon über 75 Jahre alt, ich sollte auf dich und auf die fast zwanzig Jahre jüngere Mame »schauen«, wie der Vater vom jugendlichen Selbstmörder Jakob meinte, es war noch kein Hofnachfolger bei uns in Sicht oder, besser gesagt, warst du noch nicht bereit deinen Traktorsessel zu verlassen, Sense und Sichel aus der Hand zu geben. Und als der Vater des Erhängten später im Traum mit einem Messer auf mich losging, sagte ich: »Aber mach’s gut! Mach’s sauber!« Ein paar Nächte darauf, als ich wieder davon träumte, von ihm bedroht zu werden, schlugen wir uns auf dem Kirchenfeld die Köpfe blutig, gingen mit blutverschmierten Schröckenfux-Sicheln aufeinander los zwischen den Maulwurfshügeln.
Als ich an einem Krampustag abends zu Fuß nach Paternion in die Dorfdisco gehen wollte, am sumpfigen Manig am Galgenbichl und an den mit Reif überzuckerten Sautratten vorbei, um die als Krampusse verkleideten jugendlichen Dorfbewohner zu sehen, hast du im Stall, zwischen den Kühen stehend, den Hut nach hinten geschoben, die Stirn gerunzelt und ängstlich deinen Zeigefinger erhoben: »Das sehe ich nicht gern, wenn du in der Finsternis am Waldrand entlanggehst! Es kann sein, daß ein paar Männer mit einer Teufelsfratze auf dem Gesicht aus dem Auto springen und dich abschädeln! Dann weißt du nicht einmal, wer es war. Du kennst deinen Ruf im Dorf, du weißt, was du mit deinen Büchern angerichtet hast!« Denn solange Blicke nicht töten können, ist die Geschichte noch nicht ausgestanden. Die Geschichte hat sich noch nicht vor dem Abschädeln, am Manig auf dem Galgenbichl oder auf den daneben liegenden Sautratten. Als ich nach dem Erscheinen meines ersten Buches, habe ich einmal geschrieben, im Jahre 1979 nach längerer, schamvoller Abwesenheit mit schlechtem Gewissen und Angstgefühlen wieder in meinem Elternhaus auftauchte, standest du zahnlos – deine Zahnprothese war in Reparatur –, schmallippig, mit eingefallenem Mund, eine kotbehangene Mistgabel hast du in deinen Händen gehalten, auf dem Misthaufen, hast die Misthügel zerstreut, die abgeschlagenen Hühnerköpfe mit den geschlossenen Augenlidern und leicht geöffneten Schnäbeln und die gelben, von den Krähen angeknabberten, lose herumliegenden Hühnerbeine im Mist begraben und sagtest, nachdem dich ein Film über deinen bösartigen Sohn im Fernsehen überrascht hatte und du in diesem Bericht das erste Mal in deinem Leben von meinen gegen dich gerichteten Haß- und Verzweiflungsgefühlen erfahren hattest: »Du kannst über mich schreiben, was du willst, wenn es nur dir hilft, aber laß die beiden erhängten Buben im Dorf in Ruh! Schreib nichts mehr über die beiden Selbstmörder!« Vor dem Misthaufen, vor den abgeschlagenen Köpfen von Hühnern und Hähnen stehend, hatte ich dir kleinlaut versprochen, nichts mehr über die Selbstmörder zu schreiben, aber sie geisterten auch in den folgenden Jahrzehnten durch meinen Kopf und tauchten, ob ich es wollte oder nicht, als schwarze Totenkopfscherenschnitte auf meinem Papier auf. Ich muß aber auch sagen, daß ich stolz auf dich und auf deine Worte war: »Du kannst über mich schreiben, was du willst, wenn es nur dir hilft …« Es hat mir geholfen, mein Tate, und es hilft mir wieder und immer wieder, also schreibe ich, und deshalb bin ich nach wie vor dein Sohn und du mein Vater, wenn ich es so sage, bis mich meine eigenen Worte erwürgen und mir mit dem neuerlichen Verstummen den geglückten Garaus machen.
Die Bürger Herma, meine weitgereiste Cousine, die Tochter vom Hitlerbärtchen tragenden Onkel Hermann, die mit ihrer Familie neben den Abertausenden im Sumpf des Manig am Galgenbichl blühenden Schneeglöckchen und neben dem Sautrattenskelett wohnte, wurde von ihrem Vater gezwungen, tagelang vor dem Haus mit einem langstieligen Schöpfer die stinkende Gülle aus der Grube zu schöpfen und ins Jauchefaß zu leeren, bis ihre Handflächen bluteten und sich das Blut an den Händen mit dem menschlichen Kot und Urin aus der Jauchegrube vermischte. »An meine Mutter werde ich wohl denken, wenn es soweit ist!« beklagte sie sich einmal weinend in meinem Elternhaus, »aber an meinen Vater …?« Der Hitlerbärtchen tragende Hermann, der sich einen Sohn erhofft hatte, nannte die Erstgeborene, aus der nur eine Tochter geworden war, schlicht und einfach und in Anlehnung an seinen eigenen Namen und an sein Kriegsverbrechervorbild Hermann Göring: »Herma«! »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein …«, sang Hermann Göring mit seiner Ehegattin Emmy Sonnemann. »… in den siebenten Himmel der Liebe. Die Erde versinkt und wir zwei sind allein …« Erinnere dich, mein Tate, einmal hast du deinen Schwager, meinen Onkel Hermann, gefragt, was denn wäre, wenn mich die Dorfleute von Kamering wegen meiner unverschämten Bücher im sumpfigen Manig aufhängen würden. »Dann würde ich noch am Strick ziehen und ihn ins Jenseits befördern helfen!« hat er geantwortet. Einmal kam der Onkel Hermann, Hermas Vater, in seiner von Kalkflecken verzierten Arbeitsuniform nach Hause, nahm ein Beil und zerhackte den Bazooka-Lederball vor den Augen seiner beiden im Garten sich vergnügenden und Fußball spielenden Söhne Walter und Valentin. Oftmals flüchteten der Walter und der Valentin, wenn ihr Vater von der Maurerarbeit nach Hause kam und neben den Sautratten aus einem Auto stieg, an der Stelle, wo einst die auf einem Fahrrad sitzende Nachbarsfrau von einem Lastwagen niedergefahren worden war, wozu ihr Mann, der vom Unglück übers Telefon erfahren hatte und der später ebenfalls bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte, wörtlich zum Polizeibeamten, von dem er vom Unglück seiner Frau erfahren hatte, in die Telefonmuschel gesagt haben soll: »Leck Arsch! Zusammenpacken und in die Leichenhalle damit!« – flüchteten also der Walter und der Valentin, wenn ihr Vater in der Arbeitsuniform, die Sautratten mit dem Globocnikskelett vor Augen, über den Hügel herunter auf sein Haus zuging, in den ersten Stock ihres Elternhauses zum Ragatschnig Motl und zur Ragatschnig Tresl.
Der Ragatschnig Motl, mein Taufpate, mein Göte, wie wir ihn nannten, der einen leicht aufgezwirbelten, buschigen Oberlippenbart trug, Arbeiter im Heraklithwerk in Ferndorf und Gärtner war, hatte einmal für mich, und nur für mich allein, an der Pferdestallwand, wo man hinter den zerbrochenen Fensterscheiben den Kopf vom alten schwarzen Zugpferd Onga und den Kopf vom braunen Fuchs sah, einen Marillenbaum gepflanzt, der Jahr für Jahr voller orangegelber Früchte hing, es war das schönste Orange, das schönste Gelb, für mich nur vergleichbar mit den leuchtend orangefarbenen Tagetesblüten im Garten meiner Mutter neben der Friedhofsmauer, »Flor de Muertos«, den Blumen der Toten, wie sie beim »Día de los Muertos« in Mexiko genannt werden. Heute weiß ich, daß man mir, bevor man mich einäschert, einen blühenden Marillenzweig oder ein paar Aprikosen in den Sarg legen soll, keinen Kranz mit lächerlichen roten Rosen. Ich war unendlich stolz drauf, meiner Mame die eigenen Marillen ernten zu können für die Marillenknödel, für Marmelade und für das Kompott zum Einrexen. Diesen Marillenbaum hast du, mein Vater, mit deinem ältesten Sohn und Hoferben, ohne mich zu fragen, zu meinem Entsetzen mit dem Hackbeil zu Kleinholz gemacht. Ich erinnere mich, ich kam gerade von der Handelsschule in Villach nach Hause, war aus dem Omnibus gestiegen, ging den linken waagrechten Balken des kreuzförmig gebauten Dorfes entlang, vorbei an den die Heustadelbretter zusammenhaltenden Blechwerbetafeln der »Bunten Illustrierten«, und sah an der Wand des Pferdestalls den Trümmerhaufen des zerhackten Baumes, der bald darauf in die Holzhütte transportiert wurde. (Warum, fällt mir ein, hast du dem schwarzen Zugpferd den Namen »Onga« gegeben, Dialektausdruck für einen grasbewachsenen »Anger«, einen Gemeindebesitz wie die Sautratten?) Das Abholzen dieses von meinem Göte für mich gepflanzten Marillenbaumes an der Pferdestallwand empfand ich als ein Komplott, als einen Mordanschlag zweier verwandter Bauersleute auf mich, denn mir gehörte auf dem Hof, außer diesem Marillenbaum, gar nichts, keine Gladiole und keine Fleischblume, keine Petersilie, kein Blatt Rhabarber und kein Maggikraut, keine Katze und kein Hund. Kaum ein Jahr später, nachdem das kleingemachte Holz in der Holzhütte getrocknet war, durfte ich das zerstückelte Marillenbaumholz auch noch zum Aufheizen mit eigenen Händen in die Küche tragen, zum Sparherd, auf dem die Samstagskrapfen im Schweinefett brutzelten und die Kärntner Nudeln gekocht wurden, Tag für Tag.
Außerdem brachte für uns fünf Kinder der Ragatschnig Motl die aus Weidenkätzchen und aus Kranewitt zusammengestellten und an einer Stange angebrachten Palmbesen, geschmückt mit aufgesteckten Gravensteineräpfeln, in farbiges Seidenpapier eingewickelte Moro-Blutorangen und gezuckerten Brezeln, mit denen wir am Palmsonntag in die Kirche zum Gottesdienst gingen, für jedes Kind einen. Nach christlichem Aberglauben sollen diese Palmbesen vor Blitz und Unwetter schützen. Die geweihten Zweige wurden, nachdem wir die Orangen und Äpfel gegessen hatten, dem Küchenkruzifix hinters Ohr und im Stall neben den Schwalbennestern hinter eine Lampe gesteckt. Einen Palmbesen hast du, mein Tate, in den Acker des Kirchenfeldes, den anderen in den Spitzanger und den dritten in die Sautratten gesteckt, zum Skelett vom Odilo Globocnik. Der alte Ragatschnig Motl, der mit der Tresl im ersten Stock des Hauses vom Onkel Hermann wohnte – nur unter dieser Voraussetzung hatte mein Großvater väterlicherseits seiner Tochter, meiner Tant’ Fine, und dem Onkel Hermann den Bauplatz überlassen, sie mußten die Tresl und den Motl in ihrem Haus aufnehmen –, besaß einen weißen, gepflegten, nach Lavendeltalk riechenden, eitlen Spitz, den er »Prinzi« nannte und der ihm auf Schritt und Tritt im Garten und Haus folgte. War der Hund einmal irgendwo abseits, rief der Ragatschnig Motl mit hoher Lockvögelchenstimme: »Prinzi! Prinzi!«, bis das Tierchen durchs hochgewachsene Gras raschelte, sich zu seinen Füßen hinlegte und mit seinen Schuhbändern zu spielen begann.
Auf einem steilen, sonnenbeschienenen Hügel, unmittelbar vor dem Wohnhaus, neben den Sautratten mit dem lauernden Skelett, bewirtschaftete der Ragatschnig Motl den üppigsten Garten im Dorf, der voll war mit Blumen, Obst und Gemüse und in dem sich Eidechsen und Schlangen tummelten. Nicht selten lagen die Schlangen in den warmen, vom Ragatschnig Motl gezimmerten Kästen der Salatbeete, die mit ausrangierten Fensterflügeln abgedeckt waren. Manchmal waren die Fensterflügel so dunstig, daß man die grünen Blattsalate nicht sehen konnte. Einmal, so erzählte der Ragatschnig Motl, sei ihm, als er einen Fensterflügel hob, um mit einem Küchenmesser einen Salatkopf abzuschneiden, eine sich von Schnecken im Salatbrutkasten ernährende Schlange regelrecht entgegengeflogen und habe ihm in den rechten Daumen gebissen. Man wußte nicht, ob die Schlange giftig oder harmlos war. Innerhalb von einer halben Stunde sei der Dr. Plank, der in Ferndorf, am anderen Ufer der Drau, auf der Sonnseite – Kamering, der Schneeglöckchen-Galgenbichl und die Sautratten liegen auf der Schattseite im Drautal – auf dem Gelände des Heraklithwerkes seine Ordination hatte, mit seinem weißen Volkswagen zum Göte gekommen, habe die blutende Bißwunde des Reptils versorgt und die Verletzung eine Zeitlang beobachtet bei frischem Kräutertee aus dem Garten, bei Bischofsbrot und Vanillekipferln, die ihm die Tresl servierte. Die kinderlose Ragatschnig Tresl, »Die Gute Haut«, wie sie genannt wurde, war die beste Mehlspeisköchin im Dorf, die bei jedem Fest, bei jeder Hochzeit, bei Taufen und Begräbnissen die Verwandten mit Kuchen, Torten und in der Adventszeit mit einer Vielfalt von Keksen versorgte, Lebkuchen, Zimtsterne, Kokosmakronen, Vanillekipferln und Bischofsbrot. Im Hochsommer hockte ich neben den Sautratten im Garten meines Göte vor den Stachelbeerstauden und zerquetschte die grünen und weinroten, kugelrunden pelzigen Früchte in meinem Mund, saugte mit der Zunge das von der Sonne gewärmte Fruchtfleisch heraus und spuckte die dicke, leicht säuerliche und schwer verdauliche Haut der Stachelbeere neben den vor mir im hohen Gras hockenden und mit einer plattgedrückten, vertrockneten Feldmaus spielenden Prinzi auf den Boden.
Eines Morgens, als der Ragatschnig Motl, der im Heraklithwerk in Ferndorf gearbeitet hatte, schon in Rente war, taumelte er mit heruntergelassener Hose aus dem Klo, rief: »Resi! Resi! Hilf mir!« und brach tot zusammen. Lungenkrebs, hat es geheißen, es war die Todeskrankheit, die er sich in der Fabrik geholt hatte. Der Bürger Walter, mein Cousin und Bruder der Bürger Herma, der einmal beinahe einen Verkehrsunfall verursachte, indem er auf der Straße einen Holzstab durch die Gegend schleuderte und einen Autofahrer irritierte, vor dem empörten, aus dem Auto springenden Fahrer flüchtete, sich über dem Pferdestall und dem Früchte tragenden Marillenbaum im Heustadel meines Vaters stundenlang versteckte – Herzklopfen an der Heustadelinnenwand, auf der, an der Außenwand die Werbeblechtafeln von der »Bunten Illustrierten« aufgenagelt waren – und von seinem Vater, dem Hitlerbärtchen tragenden Onkel Hermann, für diese Schandtat halb totgeschlagen wurde mit einem Lederriemen, sodaß man das klatschende Züchtigungsgeräusch auch auf den Sautratten hören konnte und das Skelett von Odilo Globocnik aufhorchte, tauchte an diesem frühen Morgen in unserem Schlafzimmer auf, in dem bereits unter lautem Geschrei und Gekicher die noch warmen Kopfpolster durch den Raum flogen, und rief: »Buamen, seid’s leise, der Göte is gstorbn!« Langsam senkten sich die Daunenfedern auf die Bettwäsche und auf die Köpfe der von der Todesnachricht erschrockenen Kinder. Wir gaben keinen Mucks mehr von uns, wir waren alle augenblicklich auf dem Schlafzimmerholzboden zerstört. Den Totenschein stellte der Dr. Sepp Plank vom anderen Ufer der Drau aus. Gleichzeitig kam der zweite Totenbeschauer, der Dr. Erich Fürnschuß, aus Paternion, der auch Zahnarzt war und, wie im ganzen Drautal bekannt wurde, als erster einen »Wasserbohrer« hatte, mit dem man keine Schmerzen mehr spürte beim Bohren, bei der Zahnreparatur. »Zum Fürnschuß mußt du gehen!« hat es geheißen, »er hat einen Wasserbohrer, da spürst du nichts mehr beim Bohren!« (Vor einiger Zeit habe ich in der Zeitung gelesen, daß der Dr. Fürnschuß im Alter von fast hundert Jahren in Klagenfurt gestorben ist, und wenige Monate später las ich vom Ableben seiner fast gleichaltrigen Frau.) Der Bestatter Stimniker aus Feistritz an der Drau parkte seinen langen schwarzen Mercedes mit den hinten abgedunkelten Fenstern unweit vom Sautrattenskelett vor dem Sterbehaus und trug zuerst das Unterteil des Sarges in den ersten Stock hinauf, dann das Oberteil, mit einer Zigarre im Maul, an der er paffte, und mit ständig vom ätzenden Rauch blinzelnden Augenlidern. Drei Generationen war die Bestattung Stimniker für die Bevölkerung der Gemeinde Paternion »Ansprechpartner bei einem Trauerfall«, wie es hieß auf ihrem Werbeprospekt, dort konnte man auch den Fingerabdruck des Toten als Schmuckstück, eingraviert auf ein Amulett, bestellen. Die Amulette, die man um den Hals hängen konnte, waren auch in Engelsform, Herz- und Kreuzform erhältlich. Selbst Ringe mit dem eingravierten Fingerabdruck der Toten wurden für die »Hinterbliebenen«, wie sie der Pfarrer Franz Reinthaler vornehm nannte, hergestellt. Drei Tage lang wurde der Ragatschnig Motl in seinem Schlafzimmer offen aufgebahrt. Das Fenster des Aufbahrungszimmers mit Blick auf die Sautratten und auf seinen Blumen- und Gemüsegarten wurde mit einem schwarzen Tuch verhängt. Der Sargdeckel lehnte im Aufbahrungszimmer hinter der Eingangstür an der Wand. Die gebrochene Tresl verließ nur selten das Aufbahrungszimmer, stand immer wieder, zwischen zwei schwarzgekleideten und Rosenkranz betenden, aufkreischenden und sich mit Bohnenkaffee aufputschenden Klageweibern sitzend, vom Sessel auf und legte ihre Hand auf die zum Gebet geschlossenen und mit einem Rosenkranz umwickelten, kalten Hände des Verstorbenen und rief klagend: »Motl! Motl! Warum bist du denn so früh gegangen?« – »Warum hast du mir das nur angetan? Motl! Motl!« Als ich ins Aufbahrungszimmer trat und zu Füßen des Sarges einen Fichtenzweig in eine mit Weihwasser gefüllte Kaffeetasse tauchte und ein Gebet murmelnd damit den Verstorbenen bespritzte, bemerkte ich, daß die Haare seines buschigen Oberlippenbartes weit voneinander ab- und seine buschigen Augenbrauen senkrecht in die Höhe standen.
Nach dem Tod ihres Mannes Motl verwahrloste die Gute Haut vollkommen, sie backte keine Torten, Kuchen und keine Kekse mehr, die Gute Haut zog sich aus der Dorföffentlichkeit zurück und war bald nicht mehr ansprechbar. »Seppl! Wirst du wohl hinter meinem Sarg hergehen, wenn es soweit ist!« sagte sie einmal, auf dem Diwan sitzend, ausgehungert und mit eingefallenen Wangen, mit auf die Fußknöchel heruntergerollten, nach Urin und Schmutz riechenden, fleckigen braunen Nylonstrümpfen. Ich antwortete verlegen mit »Ja!« und nickte mit hochrotem Kopf. Ich mußte mich zurückhalten, damit ich nicht einen Lachanfall kriegte. Ich hoffte, daß bald alles vorbei sein würde, sie gab nur mehr ein Jammerbild von sich ab mit den ihr ins Gesicht hängenden weißen Haaren und den eingefallenen Wangen. Wenige Wochen später starb sie dann auch im Villacher Krankenhaus. Ich war gerade von der Handelsschule aus Villach gekommen, als uns die schweigsame Mame, die es nicht mehr gewöhnt war, ihre Lippen zu bewegen, in der Küche über den Tod der Tresl informierte. Sie saß am Tisch, schaute uns neugierig an, wir hatten das Gefühl, daß sie irgend etwas sagen wollte, aber nicht konnte, bis sie dann verlegen die Worte herausbrachte aus ihrem Mund, ihren bläulichen Lippen: »Leich gehn! Die Tresl is gstorbn!« Wir sollten uns also auf ein Begräbnis vorbereiten, die Tresl war gestorben! Nicht sofort mußten wir uns umziehen und »Leich gehen!«, zuerst mußte die Verstorbene nämlich aufgebahrt werden. Deine Schwester Tresl, sagtest du, mein Tate, habe im Tod schlecht ausgesehen, deshalb wurde sie nicht mehr offen aufgebahrt in ihrem Schlafzimmer, der Sarg wurde nach der Leichenbeschau des Arztes im Krankenhaus sofort zugeschraubt, keiner konnte mehr ihre mit einem Rosenkranz umschlungenen und zum Gebet gefalteten knöchrigen Hände mit den hervorstehenden blauen Adern sehen, keiner konnte ihr mehr ins verfallene Totenantlitz schauen. Schließlich gingen die Tant’ Fine, die Ehegattin vom Hitlerbärtchen tragenden Onkel Hermann, und ich als besondere Trauergäste direkt hinter dem Sarg her, den rechten Arm des kreuzförmig gebauten Dorfes am Waldrand entlang und über die Dorfstraße hinunter zum Friedhof. Die Tant’ Fine war zufrieden, endlich konnte sie hinter dem Sarg ihrer Schwester hergehen, sie hatte keine Scherereien mehr mit der verwahrlosten, kranken und wahnsinnig gewordenen Tresl im eigenen Haus.
Nach dem Tod vom Ragatschnig Motl war auch der Garten neben den Sautratten verwahrlost, keine hochgewachsenen verschiedenfarbigen Gladiolen sah man mehr auf dem Hang, keine Paprika und Tomaten, keine Salate, kein Maggikraut, keine Petersilie, keinen Rhabarber, keine Schlangen, Frösche, keine Zitronenschmetterlinge, kein Pfauenauge, keine Totenkopffalter und keine schillernden braunen und grünen Eidechsen mehr, die auf den heißen Steinen hockten und blitzartig verschwanden, wenn man sich ihnen näherte, nur die robuste Stachelbeerstaude, vor der ich oft hockte, um eine kugelige und behaarte rote, säuerlich schmeckende Beere mit dicker Schale nach der anderen zwischen Zunge und Gaumen zu zerdrücken, trug noch eine Zeitlang die pelzigen grünen und weinroten Früchte, bis vom Hitlerbärtchen tragenden Onkel Hermann alles gerodet wurde und der Blick endgültig frei war auf die Sautratten, in denen das hellhörige Skelett des Judenmassenmörders Odilo Globocnik schlummerte – »Zwei Millionen ham’ma erledigt!« –, und er von dem verwaisten Zimmer aus, wo der Ragatschnig Motl und die Ragatschnig Tresl aufgebahrt gewesen waren, Ausschau halten und »Komm mit! Komm mit!« rufen konnte zu seinem verblichenen Kameraden, der sich mit einer Zyankalikapsel den Garaus gemacht hatte. Wenige Jahrzehnte später ließen die Nachkommen vom Onkel Hermann und von der Tant’ Fine den Grabstein von der Tresl und vom Motl auf dem Friedhof in Kamering verschwinden, keine Spur mehr gibt es von den beiden Gutmütigen und Großherzigen, zu denen der Valentin und der Werner in den ersten Stock flüchten konnten, wenn abends der Onkel Hermann blindwütig von der Maurerarbeit nach Hause kam, die Kinder beschimpfte oder schlug und mit einem Hackbeil den Bazooka-Lederball zerfleischte.
Der Ragatschnig Motl war im Zweiten Weltkrieg als Gefangener in einem Kohlebergwerk in Sibirien und durfte mit seinen Kameraden, so hast du es mir erzählt, mein Tate, bei unserer gemeinsamen Stallarbeit, während wir das Heu aus den Sautratten in die Futterbarren der Stiere und Ochsen warfen, die zu Tode geschundenen Gefangenen erst nach der Arbeit aus den Kohlegruben tragen. Neben den ausgemergelten Leichen mußten sie weiterarbeiten und mit Schaufel und Karren über die an Erschöpfung gestorbenen Kameraden hinwegsteigen. Die steifgefrorenen Toten konnten nicht beerdigt werden, weil es tiefer Winter und auch die Erde gefroren war, denn es herrschte sibirische Kälte mit vierzig Grad minus, sodaß man die Toten unweit vom Arbeitslager in einer Hütte übereinanderstapeln mußte und erst im Frühjahr, wenn es wieder warm wurde, ein Massengrab ausheben und die von Mäusen und Ratten an Fingern, Zehen und an den Nasenspitzen angefressenen Toten begraben konnte. Monatelang mußten die überlebenden Kameraden an den aufgestapelten und gefrorenen Leichen ihrer Kameraden vorbei ins Kohlebergwerk und nach der Arbeit wieder in ihre Quartiere gehen. Sie bekreuzigten sich, manche knieten vor ihren toten, steifgefrorenen Kameraden nieder und sprachen ein Vaterunser. Mit hocherhobener Hand hast du, am Abend zwischen den melkenden Kühen sitzend, mit der anderen Hand die kotbehangenen, hin- und herpendelnden Schwänze der Kühe vor deinem Gesicht abwehrend, immer wieder empört gerufen: »Stell dir vor! Wie die Holzscheiter haben sie die steifgefrorenen Soldaten in einer Hütte übereinandergeschlichtet! Wie die Holzscheiter!«
Aufhetzen hast du dich lassen, mein Tate, vor allem von deinem Bruder, unserem Onkel Franz, der bei der SS war – »Ich habe nichts getan, ich war nur in Nürnberg am Schreibtisch!« – und von deinem verbohrten Schwager, dem Hitlerbärtchen tragenden Onkel Hermann, der oft gejammert hat: »Wir haben den Krieg verloren! Die Schwein-Engländer! Die Schwein-Russen! Die Schwein-Amerikaner!« Der Onkel Franz, der Volksschullehrer in Oberdrauburg und als Zuckerbrot-und-Peitschenmensch bei den Schülern beliebt und gefürchtet war, brachte uns bei seinen Besuchen, vor allem zu Allerheiligen und Allerseelen, eine kleine Tafel Schokolade, nie eine große, immer die »Suchard« und nie die »Bensdorp«. Einmal, und das ist eine andere Geschichte, schickte ich an die Schokoladefabrik hundert blaue Bensdorphülsen, die ich beim Kirchenblätteraustragen im ganzen Dorf gesammelt hatte, und bekam tatsächlich ein paar Wochen später eine Schachtel voll mit kleinen Bensdorp-Schokoladen, die ich unter den Ministranten verteilte. Wenn wir, und ich komme zum Onkel Franz zurück, unseren verwandten Gast begrüßt, ihm die rechte und also Schöne Hand, wie es hieß, entgegengestreckt hatten – »Wirst du wohl die Schöne Hand geben!« –, griff er in seine Manteltasche und streckte uns mit strengem und aufforderndem Blick die Suchard-Schokolade entgegen, zog die von uns ersehnte Süßigkeit kokett zurück, und mit hochgezogenen Augenbrauen und Schmollmund rief er: »Wie sagt man denn?« – »Danke, Onkel Franz!« – Warst du es, mein Tate, der auf einigen der idyllischen Fotos, die den Onkel Franz in Uniform zeigen, das SS-Zeichen von seiner Jacke und den Totenkopf von der Mütze gekratzt hat, um deinen eigenen Bruder vor der englischen Besatzung zu schützen, wie du auch die Hakenkreuzfahne vom Bild deines Elternhauses mit deinem Fingernagel entfernt hast? Den damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky hast du einen »Saujuden« genannt. Später, als Kreisky schon todkrank war und man Bilder aus seinem Wohnsitz in Mallorca sah, sagtest du: »Der schaut aus wie der Fuchs im Eisen!« Du hast den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler, der im Zweiten Weltkrieg als Jude nach Schweden flüchten mußte, mit einem halbverhungerten, struppigen Fuchs verglichen, der im Wald in die Eisenfalle geraten ist und sich tagelang nicht mehr hat rühren können. Über den nachfolgenden österreichischen Bundeskanzler Fred Sinowatz hast du, auf seine nach unten gebogene Nase deutend, spöttisch gesagt: »Schau ihn dir einmal ins Gesicht! Ist das vielleicht kein Jud! Ha!«
Als ich dir einmal auf dem Titelblatt einer Illustrierten den lebensgroß abgebildeten Schädel von Hitler gezeigt habe – selbstverständlich, um dich zum Erzählen zu reizen, ich brauchte Stoff, Schreibstoff für meine Heimkehr des verlorenen Sohnes, koste es dir oder mir das Leben, denn ich mußte den Tod auskosten, wenn schon nicht mit Taten, so mit Worten –, hast du gelacht und hast zärtlich gerufen: »Der Adolf!« Hättest du mich einmal so zärtlich gerufen, aber wie oft habe ich nur den strengen Ruf gehört: »Sepp!« Ansonsten, muß ich sagen, hast du uns immerhin das ganze Jahr über mehr oder weniger verschont mit deinen Kriegsgeschichten, Kriegstreibereien und auch Hetzereien, denn du hattest keine aufmerksamen Zuhörer, deine verstummte Frau nicht, die an ihren drei gefallenen Brüdern zu kauen hatte, die Kinder nicht, die sich höchstens über deine Gebärden und Gesten lustig machten, wenn du dich wieder einmal auf den Boden gelegt und demonstriert hast, wie haarscharf die Kugel an deinem Kopf vorbeigegangen ist. Die Magd, die eine alte, runzlige und eine jugendliche Gesichtshälfte hatte, war taubstumm, und der versoffene und Dreierzigaretten rauchende Knecht hatte ebenfalls kein Interesse an deinen Ausführungen. Nur wenn der Onkel Hermann und der Onkel Franz zu Besuch kamen, dann ging es wieder los mit den Kriegsgeschichten und Hetzereien, zweimal, dreimal im Jahr. Ab und zu habe ich von dir gehört, daß die Schwulen geschnitten gehören, daß diesen Wichsern, wie du es nanntest, der Schwanz abgeschnitten werden solle und man die Schwerverbrecher, für die nicht mehr der Staat aufzukommen habe, auf dem elektrischen Stuhl zappeln lassen solle, die billigste Methode, wie du den staatlichen Mord genannt hast. Hätte sie nur eingeschlagen, die Kugel, die haarscharf an deinem Kopf vorbeigeflogen ist, dann wäre mir viel erspart geblieben, habe ich als Kind oft gedacht. Andererseits konnte ich mir auch nicht vorstellen, nicht auf der Welt zu sein und nicht genau diesen Vater und genau diese Mutter und ebenfalls genau diese Großeltern zu haben mit all ihren Geschichten, mütterlicher- und väterlicherseits. Die verstummte Mame mokierte sich besonders zu Ostern und Allerheiligen, wenn sich wieder das Trio der Kriegsveteranen in der Bauernküche traf und im Dampf des kochenden Szegediner Gulaschs oder der im Schweinefett brutzelnden Wiener Schnitzel ihre Kriegserlebnisse nicht als Grauen, sondern nostalgisch, als immer wiederkehrendes Abenteuer aufleben ließ, weil der Krieg das einzige Erlebnis ihres Lebens war: »Diese Kriegsgeschichten! Immer diese Kriegsgeschichten! Im Krieg ist es denen wohl zu gut gegangen, sonst würden sie nicht dauernd davon erzählen!« Ja, ich kann auch sagen, daß dich der Krieg, deine Kriegserlebnisse bei deiner immer selben, langweiligen Arbeit im Stall und beim immer selben Trott in den Wald, aufs Kirchenfeld, auf den Spitzanger und auf die Sautratten zum Skelett des Judenmassenmörders am Leben erhalten haben.
Nachdem ich im Alter von fast dreißig Jahren als gebrochener Mensch, der die Sprache verloren hatte – mehrfach hast du mich mit den Worten bedauert: »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken!« –, abgemagert und mit zerlumpter Seele und einer schwarzen elektronischen Schreibmaschine als »papel picado«, als Scherenschnitt mit durchsichtigem Totenantlitz, zurückgekehrt war zu dir, in der Hoffnung, bei dir und in meinem Elternhaus den Schreibstoff und die Sprache wiederzufinden, und ich mir wohl auch eine Kindheit und Jugend zurückholen wollte, die du mir nicht vergönnt hast oder nicht hattest vergönnen können, und wir längst wieder gemeinsam im Stall, auf dem Kirchenfeld, auf dem Spitzanger und mit der Schröckenfux-Sense in allen von den Maschinen nicht erreichbaren Ecken und Enden auf den Sautratten gearbeitet haben, wurde einmal im Fernsehen eine Dokumentation über die Schlacht um Stalingrad angekündigt. Nach der gemeinsamen abendlichen Stallarbeit und nachdem du dich auf dem grünen Diwan, auf dem deine immer tiefer in die Stahlfedern der Sitzfläche absackende Mutter vor ihrem Sterben jahrelang die Daumen gedreht hatte, erwartungsvoll ausgestreckt hattest, hast du fiebernd und mit zappelnden Beinen gerufen: »Noch eine Viertelstunde müssen wir warten, und dann geht’s los!« Als schließlich die Kriegsbilder über die Mattscheibe flimmerten, bist du vom Diwan mit dem grünen Blumenmuster aufgesprungen, in den einst deine dicke Mutter in ihrem Sterbezimmer an einer bestimmten Stelle eine Mulde eingesessen hatte und den wir nach ihrem Tod vom Uringestank freiputzen mußten mit Bürste und der Kernseife mit dem eingeprägten Hirschkopf, hast deine Hände mit den krallenartigen Fingern und den langen Fingernägeln geballt, hinter denen noch die Ackererde aus den Sautratten mitsamt dem Ungeziefer auf die kommenden Geschehnisse deiner Kriegserinnerungen lauerte, und hast mit kindlich leuchtenden und abenteuerlustigen Augen immer wieder »Wumm! Wumm!« gerufen, hast das Rattern der Maschinengewehre nachgeahmt, hast dich auf den Küchenboden gelegt, um mir und dem Dreierzigaretten rauchenden und Schnaps aus der Flasche mit dem aufgedruckten roten Almrausch und blauen Enzian trinkenden Knecht zu zeigen, in welcher Stellung du im Schützengraben gehockt hast, und hast empört aufgeschrien, wenn auf dem Bildschirm wieder ein deutscher Soldat gefallen war: »Die Russen, diese Schweine! Sie haben sogar auf die deutschen Sanitätswagen geschossen!« Um dann grinsend zu ergänzen, daß die Deutschen in ihren Rotkreuzwagen nicht nur Verwundete und Sterbende ins Lazarett, sondern auch Waffen zu ihren Stützpunkten transportierten. Und im Eifer des Gefechts auf der farbigen Mattscheibe hast du erzählt, daß du einen Streifschuß abbekommen und den achtzehnjährigen Sanitäter darauf aufmerksam gemacht hast, daß er dich nicht stehend im Schützengraben verarzten solle. »Bück dich! Bück dich!« hast du gerufen. Im selben Augenblick aber sei ein Schuß gefallen, die Kugel habe den mit einer Rotkreuzbinde umwickelten Stahlhelm durchschlagen. Mit der Mullbinde in der Hand sei der junge Sanitäter im Schützengraben tot in deine Arme gefallen, eine Pietà im Schützengraben als vorweihnachtliche Kriegsbescherung, Vater und Sohn, denn du warst schon fast vierzig Jahre alt, als du in den Krieg gezogen bist, er hätte dein Sohn sein können, der Jüngling mit dem von einem Schuß durchschlagenen Helm, dem das Blut über die Wange rann, mit dem auch du beschmutzt worden bist.
In der Gefangenschaft, im Lazarett, hast du dich einmal nackt ausziehen müssen und man hat deine Hosen- und Rocktaschen nach Wertgegenständen durchsucht. Im letzten Moment, so hast du mir vor der flimmernden Fernsehkiste mit den Kriegsbildern erzählt, hast du ein Bündel Papiergeld verstecken wollen und zwischen deine Arschbacken geklemmt. Als der mit einer Taschenlampe hinter deinem Rücken stehende Oberarzt mehrmals »Bücken! Bücken!« schrie und du dich schließlich, nach mehrmaliger Aufforderung, widerwillig vorgebeugt hast, sind die Geldscheine auf den Boden gefallen. »Das ist ja ein Geldscheißer!« soll der Oberarzt frohlockend gerufen und die Banknoten eingesteckt haben. Auch während der Zeit des Vietnamkrieges hast du dich immer auf die Kriegsberichterstattung im österreichischen Fernsehen gefreut, hast eifrig die Stallarbeit erledigt, die Stiere, Kälber und Ochsen mit dem verseuchten Heu aus den Sautratten gefüttert, die Kühe gemolken, den Mist mit einem Wagen aus dem Stall geradelt und zwischen den aufgackernden und mit hocherhobenen Flügeln davonlaufenden Hühnern auf den Misthaufen gekippt, um rechtzeitig zu den Fernsehnachrichten zu kommen, pünktlich um halb acht Uhr abends. Statt »Vietnam« hast du immer »Fitnam« gesagt. »Paß auf, gleich geht es in Fitnam wieder los, du wirst sehen, paß auf …«, hast du im Stall erregt und in Erwartung einer aktuell bebilderten Berichterstattung gerufen, die uns Tag für Tag über die Mattscheibe geliefert wurde. Es war also wieder Krieg irgendwo auf der Welt, und du warst wieder fit und flott in irgendeinem mit Blut verschmierten Schützengraben, Abend für Abend, nachdem du die Kühe gemolken und ihnen das Heu in den Futtertrog geworfen hattest. Fitnam! Fitnam! haben mein Bruder und ich während des Vietnamkrieges gerufen, wenn wir mit bloßen Kinderfüßen über die Stoppelfelder der Sautratten liefen – »Siegesgewiß klappert sein Gebiß!« – mit Lust und Freude am stechenden Schmerz des tiefgeschnittenen Getreides. Fitnam! Fitnam! klingt mir noch heute im Ohr. Fit und Flot hießen die Haarpflegemittel aus unserer Jugend, die wir aus einer blauen und rosa Tube drückten und ins Haar schmierten, denn Flot machte, wie es im Werbeprospekt hieß, gewaschenes Haar gefügig bis in die Spitzen und leichter kämmbar und erhöhte die Spannkraft der Haarkrause.