Die Menscherkammer des aus
der Ukraine verschleppten
vierzehnjährigen Mädchens und das
Straßenschild »Boulevard Taras Schewtschenko« auf der Mauer der Kathedrale
des heiligen Volodymyr in Kiew

a zejlem, a naketer in mitn feld,

hot a schiksse doss ponem

mit di hent farschtelt,

dem schtern aropgebojgn.

un ire zep zwej,

di blonde, ojfgeflochtene,

schtarbn wi tojbn zwej,

geschochtene

durch sstachss zwej rojte hent.

Ein Kruzifix, nackt, mitten im Feld

Ein Christenmädchen hat ihr Gesicht

mit den Händen verdeckt

und die Stirn gebeugt.

Und ihre beiden Zöpfe,

die blonden, aufgeflochtenen,

sterben wie zwei Tauben,

hingeschlachtet

von Stachus’ roten Händen.

Da schickt der Herr den Henker aus, / Er soll den Schlächter hängen, / Der Henker hängt den Schlächter nicht, / Der Schlächter schlacht’ den Ochsen nicht, / Der Ochse säuft das Wasser nicht, / Das Wasser löscht das Feuer nicht, / Das Feuer brennt den Prügel nicht, / Der Prügel schlägt den Pudel nicht, / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.

bevor ich als sprachloses elendshäufchen zurückgekehrt bin zu dir, mein Tate, um also noch einmal in unserer inzwischen gemeinsamen Worttretmühle von vorne anzufangen, um bei dir Hilfe zu holen, um überhaupt noch weiterleben zu können, ich war nämlich nicht mehr lebensfähig, war zu einem Skelett abgemagert – Ich wollte tatsächlich nicht mehr in meiner Haut stecken! –, um also Schreibmaterial zu sammeln für eine Heimkehr des verlorenen Sohnes, habe ich im Bergdorf Mooswald bei Fresach gewohnt bei einer Bauernfamilie, von wo ich auf mein kreuzförmig gebautes Heimatdorf Kamering und auf die unheimlichen Sautratten hinunterschauen konnte. Die Bergbäuerin, Njetotschka Wassiljewna Iljaschenko, eine von Hitlers Schergen verschleppte Ukrainerin, erzählte mir über ein Jahr lang, besonders abends, wenn ich in die Bauernküche zur Speckjause kam, von ihrer ukrainischenKindheit und ihrer Verschleppung nach Kärnten. Im März des Jahre 1943 wurden die vierzehnjährige Njetotschka und ihre achtzehnjährige Schwester Lydia in ihrem Elternhaus in Dobenka, einem kleinen Dorf in der Ukraine, am Ufer des Dnjepr, in der Nähe von Tscherkassy gefangenengenommen. Um zwei Uhr morgens stieß ein Polizist mit seinem Gewehrlauf in den Brustkorb der schlafenden Njetotschka. Die Kinder wurden gefangengenommen und nach Tschornowai gebracht, wo die Gefangenen gesammelt wurden. Als sich der Viehwaggon am Bahnhof von Tschornowai mit den beiden Kindern und den anderen Gefangenen in Bewegung setzte, schrie ihre Mutter, die Hapka Davidowna Iljaschenko: »Kinder! Kinder! Meine Kinder! Wir sehen uns nie wieder!« In der polnischen Grenzstadt Przemyśl wurden sie eine Woche lang in ein Lager gesperrt und mußten sich nackt ausziehen. Wahllos schlugen Hitlers Schergen mit Lederpeitschen auf die schreienden, nackten Mädchen ein. Einen Monat nach ihrer Gefangennahme im Dorf Dobenka, das später vom Stausee von Krementschuk überflutet wurde, kamen sie mit dem Viehwaggon in Villach am Bahnhof an und wurden, wie mir Njetotschka immer wieder erzählte, wie eine Viehherde über die Draubrücke durch die Stadt zum Arbeitsamt getrieben, wo sie sich auf einem Platz in einer Reihe aufstellen mußten und von den dort bereits wartenden Bauern ausgesucht wurden. »Wie den Viechern haben sie uns ins Gesicht geschaut, ob wir als Arbeitskräfte brauchbar sind oder nicht!« Gemeinsam wurden die beiden Mädchen in das Kärntner Bergdorf Mooswald zu zwei verschiedenen Bauernhöfen gebracht, wo sie als Mägde arbeiten mußten. Vierzehn Tage war sie auf dem Kärntner Bergbauernhof, als sie neben zwei an einen Pflug gespannten Ochsen hergehen mußte: »Der einarmige Robert, der später SSler wurde, ging ebenfalls hinter dem Pflug her und kontrollierte die Erdschollen. Die Ochsen aber wollten einmal nicht mehr weitergehen, ich habe sie getrieben und mit der Rute schlagen müssen, aber sie sind starr stehengeblieben. Die Ochsen konnten deswegen nicht gehen, weil der Pflug verstellt und abgebremst war. Der Robert ist aber auf mich losgegangen und hat die Peitsche gegen mich erhoben. Ich wollte davonlaufen, bin ein Stück vorgerannt, der Robert mit der Peitsche hinterher …«

Zehn Jahre nach ihrer Verschleppung aus der Ukraine heiratete Njetotschka den Jungbauern auf diesem Bauernhof. Und knapp vier Jahrzehnte später zog ich mit meiner keilförmigen schwarzen, elektronischen Schreibmaschine in das Zimmer ein, das Njetotschka nach ihrer Verschleppung auf dem Bauernhof zugeteilt worden war. Es war die sogenannte »Menscherkammer«, in dieser Kammer, erzählte sie mir, haben immer die Mägde geschlafen. Von diesem meinem Schreib- und Menscherkammerzimmer aus schaute ich hinunter auf mein kreuzförmig gebautes Heimatdorf Kamering und konnte mit einem Feldstecher den Kameringer Friedhof mit all den von mir immer wieder durchleuchteten Toten, den Manig am Galgenhügel, die Sautratten und mein Elternhaus sehen, in dem du, mein Tate, mit meiner Mame auch noch als über Achtzigjähriger gearbeitet hast. Als ich dann einmal in die Ukraine, ans Ufer des Dnjeprs reisen und mir die Gegend anschauen wollte, wo die als vierzehnjähriges Kind von Hitlers Schergen verschleppte Njetotschka Wassiljewna Iljaschenko aufgewachsen war, sagte die verschreckte Mame, die im Zweiten Weltkrieg zwei Brüder in Rußland und einen in Jugoslawien verloren hatte: »Du kommst aus Rußland nicht mit heiler Haut zurück!« Hapka Davidovna Iljaschenko hat ihre Kinder Njetotschka und Lydia nie wiedergesehen. Dreizehn Jahre nach der Verschleppung schrieb Hapka Davidovna am 4. 1. 1957 auf ukrainisch einen Brief an ihre Kinder: »Ein Brief aus der Ukraine von Eurer Mutter. Lydia, Njetotschka, meine Kinder! Ich lebe noch, aber gesundheitlich geht es mir nicht gut. Ich bin vom Dachboden gestürzt und mußte einen Monat lang hinter dem Ofen liegen und konnte nichts machen. Die Nachbarn haben mir viel geholfen. Jetzt kann ich schon selbständig die Kuh melken, allmählich geht es mir wieder besser. Opa kann sich auch nicht bewegen. Es ist kalt im Haus, niemand kann Holz holen und den Ofen einheizen, niemand holt Wasser. Gott sei Dank helfen uns die Nachbarn überall. Und ich kann schon alleine einheizen. Aber es tut mir im Inneren weh, es ist so schwer, ohne seine Kinder leben zu müssen. Alle Mütter sehen ihre Kinder und haben ihre Freude mit ihnen. Und ich bin allein wie ein Waisenkind, habe keine Familie, keine Schwester, keinen Bruder. Nur das Haus blieb mir, und das muß ich bald verlassen. Wir werden umgesiedelt in verschiedene Dörfer, weil am Dnjepr der Stausee von Krementschuk angelegt wird. Man verspricht uns, Häuser für uns zu bauen. Grüße an Euch, meine Töchter Lydia und Njetotschka, und meinen Schwiegersohn Nikolaj und an meine Enkelkinder. Alles Gute! Eure Mutter.«

Immer wieder erzählte mir Njetotschka, besonders am Abend, wenn ich meine Schreib- und Menscherkammer verließ und zur Abendjause mit selbstgebackenem Brot, Speck und Wurst in ihre Küche kam, nicht nur von ihrer Kindheit in der Ukraine, wo sie in der Hungersnot gemeinsam mit ihrer Mutter im Winter mit einem Hackbeil zum Dnjepr gegangen sei, das Eis aufgehackt und Fische herausgeholt habe, sondern auch vom ukrainischen Dichter und Maler Taras Schewtschenko, von dem sie ein paar Gedichte kannte, die sie mir auf Ukrainisch und auf Deutsch auswendig aufsagen konnte. Später machte ich einen ganzen Band mit Gedichten von Taras Schewtschenko in der ehemaligen DDR ausfindig und brachte ihn ihr: »Der Dnepr stöhnt und brüllt, der breite, / Zornbebend heult der wilde Wind, / Beugt tief hinab die hohe Weide, / Wirft Wellen, die wie Berge sind. / Still kommt der bleiche Mond gezogen, / Lugt zaghaft hinter Wolken vor – / Gleich einem Kahn auf blauen Wogen, / Versinkt er bald, taucht bald empor.« (Als ich mich in Kiew aufhielt und in der Kathedrale des hl. Volodymyr während eines ukrainisch-orthodoxen Gottesdienstes in einem Nebenraum die Leute beobachtete, die sich von einer alten Frau Weihwasser ausschenken ließen, das Weihwasser in der Sakristei tranken oder es in Colaflaschen mit nach Hause nahmen, und dabei an meine Mame dachte, die vor ihrer Einnahme von Psychopharmaka ihr Glück im Weihwassertrinken suchte, sah ich das erste Mal an einer Kirchenmauer, auf der Kathedrale des hl. Volodymyr, einen Straßennamen und eine Hausnummer und las: »Boulevard Taras Schewtschenko, Nr. 20«. Lange blieb ich davor stehen, ich konnte es nicht glauben, daß an einer Kirchenmauer ein Straßename und eine Straßennummer stehen.) Njetotschka erzählte mir, daß ein paar Tage nach ihrer Geburt die Kirche in ihrem Heimatdorf Dobenka geschlossen wurde und ihr Vater, der später nach Sibirien ins Arbeitslager verschleppt wurde, noch am letzten Tag dafür sorgen konnte, daß sie das heilige Sakrament der Taufe empfing. In den darauffolgenden Tagen ließen nämlich die Kolchosführer von Dobenka, Holowa Kolhospu, der Vorsitzende der Kollektiv-Wirtschaft, und Holowa Silradi, der Dorfbürgermeister, alle Heiligtümer in der Kirche vernichten. Die Ikonen haben sie von der Wand gerissen und auf den Boden geworfen, Kruzifixe und Gemälde haben sie verbrannt, und aus der Kirche haben sie einen Viehstall und Getreidespeicher gemacht. In der strengen Hungersnot hatte die Mutter, die sie Mamuschka nannte, die ältere Schwester Lydia eine Woche vor Weihnachten zum Betteln in die anderen Dörfer geschickt. Tatsächlich ging am Heiligen Abend die Tür auf, Schnee wehte herein, die Mamuschka hatte, wie mir Njetotoschka erzählte, vor Freude aufgeschrien, als ihre über und über mit Schnee bedeckte Tochter, die einen knöchellangen Mantel trug, an dem schon die Eiszapfen hingen, mit einem Buckelsack voller Piroschki zurückkam. Einmal fing sie sogar einen Wildhasen, ein anderes Mal rupften sie gemeinsam einen Fasan, dem sie auf dem Feld eine Falle stellen konnte. Ein anderes Mal, so erzählte sie mir, war die Mamuschka gerade unterwegs, sie suchte im Wald und auf den Feldern Eßbares, Pilze, Sauerampfer, Schwarzbeeren und Himbeeren, und ließ ihre kleine Tochter Njetotschka alleine zurück. Unweit von ihrem Haus lag die fünfjährige Njetotschka unter einem Baum, sie war an der Ruhr erkrankt, ihr Mastdarm, auf dem sich die Fliegen niedersetzten, hing aus ihrem Körper. Leute gingen vorbei und sagten: »Dieses arme Kind wird bald sterben!« Und jetzt bin ich schon bald sechzig Jahre alt, sagte sie, und noch immer nicht gestorben. – Zwanzig Briefe schrieb Hapka Davidovna im Laufe von dreißig Jahren ihren Kindern. Am 9. 7. 1974 erreichte Njetotschka ein Brief von den Nachbarn: »Sehr geehrte Njetotschka und Ihre Familie! Ihre Mutter, die allseits geachtete Agafia, starb am 30. Juni im Kreiskrankenhaus in Tschernobaj, wohin sie die Nachbarn gebracht hatten. Im letzten Jahr ihres Lebens war Ihre Mutter sehr schwach geworden, ihre Nachbarn Stepan und Marfa, von denen sie Ihnen sicher schrieb, halfen ihr viel. Sie wurde auf dem Dorffriedhof von Schowtnewyj Prominj mit allen Ehren begraben, die einer Verstorbenen gebühren. Ihr größter Wunsch war, Sie, Njetotschka, und Lydia wiederzusehen, sie lebte von diesem Traum. Jeden Tag betete sie zu Gott und bat darum, so lange leben zu dürfen, bis sie wenigstens Lydia würde sehen können, die ihr versprochen hatte, sie in der Ukraine zu besuchen. Aber ihr war ein anderes Schicksal bestimmt. Dieser alten Frau mit ihrem so schweren Geschick galt unser ganzes Mitgefühl. Sie starb, ohne ihr Bewußtsein wiederzuerlangen (sie hatte es am zweiten Tag, nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war, verloren), ohne zu jemandem ein Wort zu sagen. In Ihren Herzen soll die Erinnerung an Ihre Mutter weiterleben. Wir werden ihr Grab besuchen und pflegen. Leben Sie wohl. Die Nachbarn.«

Nach einem einjährigen Aufenthalt auf dem Bauernhof von Njetotschka Iljaschenko, mein Tate, bin ich als nicht ganz Dreißigjähriger zurückgekehrt zu dir, weil ich bei dir Hilfe gesucht habe, weil ich nicht mehr schreiben und nicht mehr leben konnte ohne dich, denn ich hatte meine Sprache verloren und hoffte, bei dir meine Sprache wiederzufinden, und nach ein paar Jahren fand ich sie tatsächlich wieder. Später, da hatte ich dich längst wieder verlassen und reiste nach Italien und Indien, arbeitete Njetotschka Iljaschenko als Wirtin auf der Mösslacher Almhütte, hoch über dem Weißensee, wo wir einst auf dem Spiegeleis, unter dem wir die Skelette und Totenköpfe der abgestürzten Hirsche sahen, mit unseren Schlittschuhen die Todesspirale des russischen Eiskunstlaufehepaares Ludmilla Beloussowa und Oleg Protopopow simulierten und wo der Judenmassenmörder Odilo Globcocnik, der vorgab vor den italienischen Partisanen geflohen zu sein und sich mit einem gefälschten Ausweis als Kaufmann aus Klagenfurt mit dem Namen »König« ausgab, gefangenengenommen wurde. Dort servierte nun Sommer für Sommer Njetotschka Wassiljewna Iljaschenko als über siebzigjährige Frau den Bergsteigern, die von Wanderungen rund um den Weißensee auf die Mösslacher Hütte hochkamen und unter denen nicht wenige Kriegsnostalgiker waren, die die Räumlichkeiten inspizieren und im Plumpsklo, neben dem eine Holunderstaude stand, nach Spuren des Judenmassenmörders suchen wollten, den selbstgemachten Almkäse, frischen Speck, selbstgemachte Würste, selbstgebackenes Brot, Holundersaft, Most und Bier.

»Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte ich niemals Holland, England, Frankreich, Deutschland oder das Meer gesehen, gar nichts hätte ich von Europa gesehen, der Krieg war das einzige Erlebnis in meinem Leben!« Bei unseren gemeinsamen Arbeiten mit Gabel und Heurechen in der Hand hast du mir erzählt, daß du im französischen Calais mit deinen Kameraden hufeisenförmig von den Tommies eingeschlossen warst, daß du nur mehr das offene Meer als aussichtslose Fluchtmöglichkeit gesehen und einen Abschiedsbrief an deine Eltern nach Hause geschrieben hast: »Liebe Eltern! Das ist wahrscheinlich der letzte Brief, den ich Euch schreibe …!« Ausgehungert und verzweifelt hast du in deiner lumpigen Soldatenuniform am Meeresufer gestanden und hast dir das erste Mal in deinem Leben überlegt, ob du dir die Kugel geben solltest mit deinem Sturmgewehr. – »Meine Mutter hat mir, bevor ich in den Krieg gezogen bin, auf einem Zettel ein Gebet aufgeschrieben, mich beim Abschied bekreuzigt und mir das Papier in die Rocktasche gesteckt. Abends, wenn meine Kameraden in den Baracken besoffen waren, rauchten und Karten spielten, hockte ich auf meinem Bett, zog den Zettel heraus und sprach leise das Gebet. Meine Kameraden haben geglaubt, daß ich einen Brief aus meinem Elternhaus wiederlese, dabei habe ich gebetet, das Vaterunser und das Gegrüßetseistdumaria. Ich muß einen Schutzengel gehabt haben! Ohne Schutzengel hätte ich den Krieg nicht überlebt!« – Wie oft haben wir deine Worte nachgespottet und verhöhnt: »Ohne Schmutzengel hätte ich den Krieg nicht überlebt! …« Oder: »Im Krieg habe ich oft so einen Hunger gehabt, daß ich am liebsten dem Teufel die Ohren abgefressen hätte.« Im Lazarett, so hast du mir bei unseren gemeinsamen Feldarbeiten auf den Sautratten über dem Skelett des Naziverbrechers erzählt, hast du einmal eine Narkosespritze bekommen. »Wie ein Blitz ist es durch meinen Körper gefahren, aber ich bin nicht umgefallen, ich bin stehen geblieben!« Alle deine Kameraden seien bei der Injektion eingeschlafen, dich aber habe man bei vollem Bewußtsein am Hals operiert. »Wenn Sie von der Kugel nur einen Zentimeter weiter oben gestreift worden wären, hätte es Ihre Halsschlagader erwischt, dann stünden Sie jetzt nicht mehr da!« soll der Lazarettarzt dir beim Versorgen der Wunde gesagt haben. Während des Krieges bist du einmal mit einem »Urlauberzug« nach Hause gefahren und hast gesehen, wie auf den Kölner Dom Brandbomben geworfen wurden. Vom Fenster des Urlauberzuges aus hast du Leute auf der Straße gesehen, die fliehen wollten, die aber unweit vom Dom im heißen Asphalt steckenblieben und bei lebendigem Leib verbrannten.

Um den Vater zum Erzählen zu reizen, lief ich über die sechzehnstufige Stiege, ging in meine Schlafkammer und nahm ein Buch über die Kriege im 20. Jahrhundert aus dem geflochtenen Korb, in dem einst die Kleinkinder der Njetotschka Wassiljewna lagen. Sie gab ihn mir, als ich sie nach einem Jahr verließ, damit ich meine Manuskripte und Bücher vom Berg ins Tal transportieren konnte. Im Kriegsbuch zeigte ich dem Vater eine auf der Straße gehende Kolonne von Soldaten, die ihre Hände hinter dem Kopf verschränkt hielten. »Wir sind zehn Kilometer weit in einer Kolonne gegangen, links und rechts wurden wir von den englischen Soldaten, die uns gefangengenommen hatten, mit Gewehren bedroht!«, hast du gesagt, mein Tate. In derselben Haltung, die Handflächen auf seinen Hinterkopf pressend, die Finger wie zum Gebet verschränkt, lag er abends auf dem Diwan und kommentierte die Fernsehnachrichten vom Vietnamkrieg. Er schlug in dem Buch eine beliebige Seite auf und blickte gespannt auf die heraustretenden Eingeweide eines vietnamesischen Soldaten. »Wo sind die Bilder vom Zweiten Weltkrieg?« fragte er. Er setzte die Augengläser seines verstorbenen Bruders auf – früher trug er die Augengläser seines verstorbenen Vaters – und imitierte, während er herumblätterte, das Explodieren einer Handgranate, aber die grausamen Bilder brachten ihn schließlich zum Verstummen. Er blätterte lange, brachte aber kein Wort mehr über seine spröden rotblauen Lippen.

»Mir ist es oft dreckig ergangen«, hast du mir erzählt, mein Tate, »ob im Krieg oder hier auf dem Hof, aber ich habe immer durchgehalten! Schon als Jugendlicher bin ich um vier Uhr früh aufgestanden und mit zwei Rössern auf den beschneiten Berg zu einem Steinbruch gegangen. Unzählige Wagen wurden mit großen Steinen gefüllt und mit den Rössern ins Tal, ans Ufer der Drau gebracht, wo hinter dem Spitzanger und den Sautratten ein kilometerlanger Damm errichtet wurde, denn alle paar Jahre hat die Drau die Felder überschwemmt.« – »Jockele Fingerle weg!« hat dein auf dem Heustadelbalkon stehender Bruder zu deiner Mutter in den Hof hinuntergerufen, nachdem du dir als vierjähriges Kind im Heustadel bei der Arbeit an der Futterschneidemaschine deinen kleinen Finger abgeschnitten hast. Deine Mutter hat den nur mehr an einem Hautfetzen hängenden blutigen Finger mit der Schere abgetrennt und auf den Misthaufen zwischen die gackernden und sich sofort mit erhobenen Flügeln drauf stürzenden Hühner geworfen und eine entzündungshemmende schwarze, scharf riechende, aus Ölschiefer hergestellte Zugsalbe auf die Wunde geschmiert und deine Hand verbunden. »Vor dem Ersten Weltkrieg, während der Hungersnot«, hast du mir erzählt, »hatten wir vor den Pferde- und Rinderdieben Angst, deshalb hat immer jemand bei den Tieren im Stall übernachtet. Jahrelang habe ich als Kind neben meinem Bruder im Stall zwischen den Kälbern und Schafen geschlafen, auf einem Leinensack, der mit Türkenfedern ausgestopft war.« Als du vierzehn Jahre alt warst, bist du alleine mit dreißig Schafen zu Fuß von Kamering im Drautal in die siebzig Kilometer weit entfernte Innerkrems gegangen, auf die »Blutige Alm«, wo du über den ganzen Sommer die Schafe gehütet hast. Mit deiner Großmutter warst du alleine in einer kleinen Almhütte, durch die ein Bach rauschte, dort hast du tagsüber zwischen den Schafen, die du hüten solltest, »Tausendundeine Nacht«, das einzige Buch deines Lebens, gelesen. Wenige Tage vor Schulbeginn hast du deine dreißig Schafe unter den tausend Schafen aller anderen Bauern herausgefunden, die ebenfalls im Sommer ihre Schafe auf der Blutigen Alm weiden ließen, bist nach Kamering zurückgekehrt mit dem zerlesenen Buch im Rucksack, ohne auch nur ein einziges Schaf zu verlieren, weder auf der Alm noch auf der gefährlichen Rückwanderung. »Alle dreißig Schafe habe ich an den Gesichtern wiedererkannt und herausgeklaubt aus den Schafen der anderen Bauern!« Zweimal im Sommer ist dein Vater mit einem Pferd in die Innerkrems geritten und hat dich und deine Großmutter mit Proviant versorgt, mit frisch gebackenem Brot, mit Speck, Würsten und der gelben Polenta aus dem Maisacker der Sautratten. Während du mir beim Melken erzähltest, daß du noch keine fünfzehn Jahre alt warst, als zwei Stuten hintereinander Totgeburten auf die Welt brachten, daß du geweint hast und von deinem Vater getröstet wurdest, rannen dir, zwischen den beiden Kühen auf dem einbeinigen Melkerschemel sitzend, links und rechts die Tränen über deine lederne, über achtzig Jahre alte Gesichtshaut. »Mit zweihundert Schilling Bargeld, mit achtzehn Stück Vieh und zwei Zugpferden habe ich als Bauer angefangen. Und jetzt? Schau, was aus der Hube geworden ist!«

Einmal, als dein Vater noch lebte und du in Begleitung deines ältesten Sohnes und zukünftigen Hoferben, völlig übermüdet von der Arbeit auf dem Hof, mit dem Traktor in die Innerkrems zur Blutigen Alm gefahren bist, um Ausschau nach den Almtieren zu halten, die zu dieser Zeit schon vom Viehtransporter »Regensfeldner« in die Innerkrems transportiert wurden, und vor Müdigkeit fast einnicktest, rief dein aufmerksamer Sohn: »Tate! Tate! Du fährst in die Lieser!« Im letzten Moment hast du das Lenkrad herumgerissen, sonst wäre der Traktor mit dir und mit deinem ältesten Sohn in die Schlucht hinunter in den reißenden Fluß gefahren. Vor dem Almabtrieb, als die Stiere und Ochsen noch zu Fuß in die Innerkrems gebracht wurden, Ende September oder Anfang Oktober, als die Großeltern noch lebten, hockte die Ragatschnig Tresl mit meiner Mame in der Küche und band die Blumenkränze und Blumenkronen, mit denen die Tiere vor dem Almabtrieb geschmückt wurden. Ich erinnere mich noch, ich war ein Kind, als ich in der Küche auf dem Diwan hockte, aus dem Fenster schaute und eine Herde über und über mit Blumenkränzen geschmückter Stiere und Ochsen über den Dorfhügel herunterkommen sah, die in unseren Hof und in den Stall hineingetrieben wurden. Die Blumenkränze, die den Stieren und Ochsen abgenommen wurden, haben wir auf den Friedhof getragen, auf das Grab der drei im Krieg gefallenen Brüder der Mame gelegt und auf das Grab der früh verstorbenen Mutter der drei gefallenen Soldaten. Niemals habe ich vergessen, auch die verwahrlosten Gräber der verstorbenen Kinder, auf denen da und dort nur ein zerbrochener Porzellanengel lag, mit den Blumen zu schmücken, die wir den Almtieren von den Köpfen genommen haben. Nach dem Tod des Großvaters wurden die Tiere beim Almabtrieb nicht mehr geschmückt, man gab ihnen nicht mehr die Ehre, denn der unter der Erde vermodernde Großvater konnte sie nicht mehr sehen. Mit den Lastwagen des Transportunternehmens »Regensfeldner« wurden die Almtiere von der Innerkrems zurück nach Kamering gebracht, ohne Kopfschmuck mit Almrausch, ohne Latschenkiefer, Silberdisteln und Seidenblumen. Keine Kranzkuh mehr, die einen großen Kopfschmuck trug, der aus Zweigen, Blumen, Gräsern und Bändern in Form einer Krone geflochten wurde, auf deren Spitze ein Kreuz aus Blumen angebracht war, das den Himmel gefügig machen sollte, und der mit einem Spiegel und Glocken bestückt war, die die bösen Geister abwehren sollten, führte die Herde an auf dem Weg von der Innerkrems, entlang den reißenden Flüssen Lieser und Malta, über Spittal an der Drau, vorbei an Molzbichl, Rothenthurn, Mauthbrücken bis nach Kamering auf die Enznhube, in den väterlichen Stall.

Als einmal der Genossenschaftsmähdrescher – die Zeit war längst vorbei, in der wir mit Zugpferden und Schröckenfux-Sensen und Schröckenfux-Sicheln auf die Felder gingen – über die Getreidefelder fuhr, wollten wir, du erinnerst dich, mein Tate, die Straße überqueren, um zu den Sautratten zu gelangen. Von links und rechts flitzten ununterbrochen die Autos an uns vorbei. Als sich eine kleine Lücke auftat, wolltest du – du warst achtzig Jahre alt – über die Straße laufen, aber ich faßte dich am geflickten Ärmel deiner blauen Arbeiterjacke und riß dich an den Straßenrand zurück. Du hast mich böse angesehen, wolltest dich von mir losreißen und hast in herrischem Ton gerufen: »Ich laufe über die Straße, wenn es mir paßt, ich wäre leicht noch drübergekommen!« Vielleicht wärst du aber nicht mehr »drübergekommen«, und es hätte dich ein Auto tödlich überfahren vor den Sautratten, unweit von den Skelettresten des Judenmassenmörders. Als der Touristenstrom der Autos abbrach, überquerten wir die Straße, gingen über die Felder der Sautratten auf den Mähdrescher zu und hoben gemeinsam die Getreidesäcke auf einen Wagen. Auf den Jutesäcken, die bis zum Hals mit dem frisch geernteten Getreide gefüllt waren, stand in blauer und schwarzer Schrift: »Café do Brasil, Café do Guatemala«.

Es gab nach dem Tod des Großvaters, obwohl die Großmutter noch zwei Jahre lebte, auch keine ausgiebigen Geburtstagsfeste und Zusammenkünfte der Geschwister mit Kindern und Enkelkindern mehr mit Wein und Villacher Bier, Zigarren, Marzipantorten und mit Maiglöckchensträußen auf dem Tisch, Totenstille kehrte ins Haus ein, die Mame sprach weiterhin kein Wort, und auch du, mein Tate, bist immer stiller geworden. Die Besitzer der Konditorei Rabitsch am Neuen Platz, der Onkel Hans und seine Frau, die Tante Mitze, kamen nur mehr selten mit ihrem Mercedes aus Klagenfurt, um die Mutter des Onkels, meine Großmutter, zu besuchen. An einem Weihnachtsabend, du erinnerst dich, mein Tate, hatte man dich wegen eines Telefonanrufes ins Gasthaus gerufen, wir hatten noch kein eigenes Telefon. Du hast die Küchentür sperrangelweit geöffnet, bist an der Türschwelle stehengeblieben, hast die Hände hilflos in die Höhe geworfen und hast entsetzt gerufen: »Die Tant’ Mitze is gstorbn!« Die dicke Tant’ Mitze ist in ihrer Konditorei hinter der Verkaufstheke vor ihren Kuchen, Torten und Schaumrollen umgefallen und war sofort tot. Erst ein paar Tage zuvor hatten wir mit der Post von der Konditorei Rabitsch aus Klagenfurt ein Paket mit Süßigkeiten für den Christbaum, Schokoladerauchfangkehrer, Schokoladescheren, Schokoladefrösche und Schokoladepilze, bekommen. Wir begannen alle zu weinen, wir wußten, daß die Süßigkeitenlieferungen für den Weihnachtsbaum endgültig vorbei waren. Zum Begräbnis seiner Frau konnte der stockbetrunkene Onkel Hans auf den Annabichler Friedhof nicht mehr gehen. Nach dem Tod seiner Frau verfiel er vollkommen dem Alkohol. Während ich in Klagenfurt in die Abendhandelsakademie ging, sah ich ihn ab und zu während des Tages im Schlafanzug mit hochrotem Kopf an der Theke eines Gasthauses stehen bei einem Glas Wein. Er erkannte mich nicht mehr oder ignorierte mich, wenn ich an ihm vorbeischlich und ihn grüßte. Als die Großeltern noch lebten, bekamen wir von der Konditorei Rabitsch das erste Speiseeis unseres Lebens, in einer Thermoskanne, aus der wir das Vanilleis herauskratzten, auch kleine Dosen mit salzigen Sardellen bekamen wir und Heller-Zuckerln mit Himbeergeschmack in orangefarbenen Dosen. In die Dosen stopfte später die Mame das verschiedenfarbige Garn hinein, mit dem sie löchrige Socken, Wollhandschuhe und Pullover ihrer Kinder flickte.