DENISE
Immer schon hatte ich mich nach der Geborgenheit einer Familie gesehnt. Nach einem Ort, wo ich so sein darf, wie ich bin, mit all meinen Stärken und auch mit meinen Schwächen. Wo ehrliche, aufrichtige Liebe gelebt wird. Wo jeder für den anderen da ist, egal, was passiert. Das war mein größter Wunsch ans Leben. Mein Vater hatte sich das Leben genommen, als ich sechs gewesen war. Ich war sehr früh von zu Hause ausgezogen und auf mich gestellt. Neben meiner Tätigkeit als Verkäuferin im Einzelhandel hatte ich zwei Jobs, um finanziell über die Runden zu kommen. Bald verliebte ich mich Hals über Kopf in meinen ersten Freund. Wir waren beide so jung, so unerfahren. Wir stolperten ins Leben, in unsere Beziehung … und kamen gar nicht auf den Gedanken, innezuhalten und zu hinterfragen, ob wir wirklich die Richtigen füreinander waren. Stattdessen heirateten wir, bekamen ein Kind – meine Tochter Tylor, auch Tylie genannt.
Wenn man sich fest nach etwas sehnt, neigt man dazu, Scheuklappen aufzusetzen und stur einem Weg zu folgen, der einen ans vermeintliche Ziel führt. Ich hatte nicht zurückgeblickt und war vorwärts gehastet, immer weiter, weil ich dachte, irgendwo in naher Zukunft das Glück zu finden. Manchmal ist ein solcher Wunsch so groß, so übermächtig. Man blendet die Realität aus, färbt die Welt um sich herum rosarot, webt Illusionen – und wacht eines Tages auf, um zu erkennen, dass die Wirklichkeit völlig anders aussieht. Und dass die Unterschiede zwischen zwei Menschen, die man in seiner Verliebtheit weggewischt hat, zu unüberwindlichen Barrieren geworden sind. Meine Tochter war vier Jahre alt, als ihr Vater und ich uns trennten. Mein Traum von einer großen, harmonischen Familie war fürs Erste geplatzt. Doch er lebte weiter in mir, auch wenn ich einmal mehr erfahren hatte, dass man ihn nicht
erzwingen kann.
All diese Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum, als ich mit einer heftigen Grippe in unserer dunklen Altbauwohnung lag. Wir hatten sie selbst saniert; ich hatte den Boden verlegt, der sich an einigen Stellen wölbte, sodass ich ihn kurzerhand angenagelt hatte. Die einfachen Möbel waren in Mahagoni-Optik, die Bettwäsche orange, und alles kam mir schief vor: die Wände, der Schrank, mein Leben. Wegen der immensen Heizkosten hielt ich nur noch das Kinderzimmer warm und war ständig krank. Diesmal hatte es mich so richtig erwischt. Die Glieder schmerzten, und das Fieber kletterte immer höher. Tylie war bei ihrer Oma, da ich zu schwach war, sie zu versorgen.
Irgendwann in diesen Tagen packte mich die Langeweile, und ich ließ mich von MTV berieseln. In den Pausen wurde ständig Werbung für eine Dating-Webseite gemacht, auf der ich eine Weile zuvor ein Profil erstellt hatte. Um mich abzulenken, zog ich den Laptop heran und loggte mich auf der Seite ein. Eines der ersten Bilder, die in meinem Feed erschienen, zeigte einen jüngeren Mann mit Pilotenbrille, der hinter dem Steuerrad eines Bootes stand. Hendrik hieß er. Seine Augen konnte ich nur erahnen, doch ich bemerkte das leichte Lächeln um seine Lippen. Es war so ehrlich, so unheimlich nett. Ich klickte auf Hendriks Profil und las die wenigen Zeilen, mit denen er sich der Online-Welt präsentierte. Er war aktiv, sportlich, reiste gern, war abenteuerlustig, kommunikativ … Wieder rief ich sein Foto auf. Wie er da stand, wirkte er so natürlich. Er protzte nicht, dann hätte ich ihn gar nicht angeklickt. Im Gegenteil, ich meinte, etwas Liebes, auch Verletzliches, vor allem aber Einfühlsames in seinem Wesen zu erkennen. Soweit das anhand eines Bildes möglich war.
Ich konnte mir selbst nicht erklären, woher das Gefühl kam, das mich nicht losließ. Warum ich plötzlich so aufgeregt war. Ich wusste nur eines: Ich musste dem auf den Grund gehen. Kurz entschlossen hinterließ ich ihm eine Nachricht: „Hi.“
Hendrik
Kindheitserinnerungen … sie können so unbeschwert sein, so voller Magie. Auch in mir wohnen sie: Bilder von Familienurlauben im Münsterland, mit Rad und Zelt unterwegs. Von Sommerabenden, die nicht zu enden schienen, der Kopf in den Wolken, der Duft gemähter Wiesen in der Nase, die Knie aufgeschürft. Und immer spielt Anna darin eine Rolle, meine älteste Schwester.
Wir heckten eine Menge Verrücktheiten aus. Manchmal waren wir auch leise, versteckten uns in selbst gebauten Höhlen, und ich lauschte den Geschichten, die sie für mich erfand. Anna …
Es ist mein sechster Geburtstag. Viele Leute kommen vorbei, doch nicht zum Feiern. Sie alle weinen … und ich weine auch. Auf dem Sofa liegt Anna. Neun ist sie. Früher hatte sie ganz seidige braune Haare, die mich kitzelten, wenn wir uns auf das Sofa kuschelten und Anna mir vorlas. Jetzt hat sie gar keine Haare mehr. Das kommt von der scharfen Medizin, die sie nehmen musste. Und diesem Gerät, in das die Leute im Krankenhaus Anna geschoben haben, um sie zu bestrahlen. Seitdem ist Anna ganz schwach. Aber jetzt muss sie keine Medizin mehr nehmen. Denn sie hilft ihr nicht mehr.
Ich stehe bei ihr, streichle sie. Warte, ob sie die Augen öffnet. Bald wird sie die Lider für immer schließen. Aber das verstehe ich noch nicht …
Drei Tage nach meinem sechsten Geburtstag starb Anna am Krebs. Ihr Tod sollte vieles bei uns zu Hause verändern. Meine Eltern lebten sich ausei-nander, der Schmerz war zu groß. Ich spürte zum ersten Mal, was Einsamkeit bedeutet. Und dass Glück und Unbeschwertheit kein Geburtsrecht sind, sondern ein Geschenk.
Wir sprachen nicht viel über Annas Sterben und den Tod, das tat zu weh. Stattdessen versuchten wir, weiterzumachen.
Mein Vater war Lagerleiter, meine Mutter beschloss nach Annas Tod, sich zur Altenpflegerin ausbilden zu lassen, um etwas Sinnvolles zu tun und die Leere in sich zu füllen. Große finanzielle Sprünge konnten wir uns nicht erlauben, und das war auch gar nicht wichtig. Stattdessen improvisierten wir. Ich spielte viel Fußball, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, weil ständig die Schuhe kaputtgingen. Mein Vater hatte irgendwann die Nase voll und kaufte mir Arbeitsschuhe mit Sicherheitskappe: Die hielten dem Kicken stand. Ich fand sie klasse. Und die Blicke meiner Klassenkameraden, die Nike-Sneakers zu ihren Helly-Hansen-Jacken trugen, kümmerten mich nicht. Schuhe waren für mich nichts, das irgendeine Bedeutung hatte, die über ihren Zweck hinausging. Und so war es mit allem Materiellen.
Computer hatten schon früh mein Interesse geweckt, ich arbeitete bereits während der letzten Schuljahre im IT-Bereich. Von dem Geld, das ich verdiente, finanzierte ich später meine Reisen. Ich wollte die Welt sehen, die Natur erleben, wo sie noch ursprünglich und wild war. Mit Freunden reiste ich durch die grüne Hölle Guatemalas und las mitten im Regenwald eine Tarantel auf. In Belize ging ich vom Schlauchboot aus mit zweifelhaften Guides mitten in der Nacht tauchen; sie sahen nicht mal den Hai, wir schon. Angst? Hatte ich keine. Ich nahm an Abenteuern mit, was ich kriegen konnte, und dachte nicht groß über mögliche Gefahren nach. Etwas trieb mich dazu, das Leben zu packen, seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Dabei war mir bewusst, dass dies nur eine Phase war. Etwas, was ich sozusagen erledigte, bevor „das richtige Leben“ begann. Bevor ich meine eigene Familie haben würde. Einen Ort der Geborgenheit, an dem man gemeinsam etwas schuf, das größer war als die Summe seiner Einzelteile.
Vorerst aber waren Freunde wichtiger. Der Spaß, den wir hatten, vor allem aber auch die Einsätze des Technischen Hilfswerks, wo ich Mitglied war. Das Gefühl, gemeinsam etwas zu schaffen, Menschen in Not zu helfen. Synergie war das Zauberwort, jeder trug seinen Teil dazu bei, und so wuchsen wir manches Mal über uns hinaus.
Familie, so dachte ich mir, war die Steigerung dieses Gefühls. Ich stellte mir vor, eine Partnerin an meiner Seite zu haben, die ich lieben, beschützen, unterstützen konnte … mit der ich eines Tages Kinder haben und ihnen all die Werte mitgeben würde, die mir im Leben wichtig waren und sind: Ehrlichkeit. Hundertprozentige Verlässlichkeit. Gelebte Liebe.
Aber dafür war ja noch Zeit, ich war gerade mal Mitte zwanzig, und das ganze Leben lag vor mir. Dachte ich.
Damals hörte ich MTV rauf und runter. Und wer MTV sah, kam um die Werbung nicht herum. Im Herbst 2010 wurde ständig eine Seite fürs Onlinedating eingeblendet.
Warum nicht, dachte ich mir. Mehr aus Spaß erstellte ich ein Profil, lud ein paar Bilder hoch, die während meiner Reisen entstanden waren. Natürlich wollte ich cool rüberkommen. Alles in allem wünschte ich mir, neue Leute kennenzulernen. Eine Partnerin? Vielleicht. Wobei das ja wie gesagt noch Zeit hatte. Und überhaupt, meine Traumfrau, die würde mir eines Tages irgendwo über den Weg laufen, doch kaum auf einer Dating-Plattform.
Über meiner Arbeit vergaß ich die Webseite, bis mich MTV hartnäckig daran erinnerte. Ich loggte mich ein und sah, dass ich eine Nachricht bekommen hatte. Ich klickte das Profil an, hielt inne. Denise. Ein seltsames Gefühl erfasste mich. Mein Herz schlug spürbar, war ich nervös? Ich sammelte meinen Mut.
„Hi“, schrieb ich zurück.
DENISE
Aufgeregt umklammerte ich das Steuer meines kleinen Autos und fuhr zu einer Bar, in der wir etwas trinken gehen wollten. Neben mir: Hendrik. Ich traute mich kaum, den Blick von der Straße abzuwenden, um ihn anzusehen. Und als ich es tat, spürte ich ein Flattern in der Magengegend. Ein Blick, und schon verliebt? Offenbar ja!
Aus unseren einsilbigen Online-Kontaktversuchen zu Beginn hatte sich schnell ein lebendiger Austausch an Nachrichten ergeben. Wir hatten beide gespürt, dass wir einander nicht nur über Chats, sondern richtig kennenlernen wollten. Ein Bild, das einen anspricht, Worte, die hin- und herfliegen, all das kann besondere Vibes haben … Doch was die Stimme eines Menschen in einem auslöst, sein Geruch, die Feinheiten der Mimik … das wollte, das musste ich spüren. Ich wollte mich schließlich nicht schon wieder in eine Illusion von einem Menschen verlieben, sondern diesmal richtig.
In der Bar saßen wir einander gegenüber, redeten und redeten. Anfangs war Hendrik eher sparsam mit persönlichen Informationen. Ich fragte ihn nach seinem Nachnamen, er druckste herum. „Ich bin doch keine verrückte Serienkillerin“, empörte ich mich und musste lachen, als er endlich nachgab und „Verst“ sagte. Nach und nach taute er auf. Als der Kellner uns diskret zu verstehen gab, dass sie schließen wollten, fuhren wir zum nächsten McDonald’s. Die Hände um die Kaffeebecher gelegt, nahmen wir unser Gespräch wieder auf.
Irgendwann erzählte Hendrik mir von Bernhard, seinem Stiefopa, den er nach einem Schlaganfall gepflegt und dessen Windeln er jeden Morgen vor der Schule gewechselt hatte. Er sprach so selbstverständlich darüber und merkte gar nicht, wie mir das Herz aufging. Ich sog die Worte förmlich in mich auf, nährten sie doch das Vertrauen, das ich in ihn fasste. So ein Mann, dachte ich, ist auch für dich da, wenn es dir mal nicht gut geht, wenn du auch mal jemanden brauchst.
Längst war die Nacht angebrochen. Die Plastiktische wurden abgewischt, und wir redeten weiter. Wir redeten immer noch, als die Stühle zusammengeschoben wurden, der Boden gewischt wurde und man uns inzwischen ziemlich direkt aufforderte, doch bitte endlich zu gehen. Es war kühl draußen, wir setzten uns in mein Auto. Und redeten weiter, auf dem Parkplatz. Die Scheiben beschlugen, die Welt draußen verschwamm, wir sperrten sie aus.
Irgendwann dämmerte es, der Morgen brach an. Und in mir war das Gefühl, ewig dort mit Hendrik sitzen und reden zu können. Vielleicht ist es so, wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind. Man redet und redet, um die Lebensströme ineinanderfließen zu lassen. Und um aus zwei Leben eines
zu machen.
Ich war mir längst sicher, dass Hendrik der Mensch war, mit dem ich mein Leben teilen wollte. Doch da war eine Sache, die mir nicht aus dem Kopf ging: das Bild mit dem Motorrad.
Auf seinem Profil hatte er weitere Fotos gepostet, eines davon zeigte ihn in voller Montur neben einer riesigen Maschine.
Motorräder beschworen Angst in mir herauf, richtig tiefe Angst. Ob im hektischen Verkehr der Großstädte, in vollem Tempo über Landstraßen oder auf der Autobahn … was anderen vielleicht einen Nervenkitzel und das Gefühl von grenzenloser Freiheit schenkte, empfand ich als unglaubliche Gefahr. Ich wollte nicht, dass der Mensch, den ich liebte, sich solch einem Risiko aussetzte. Und überhaupt … wenn mein Traum wahr werden sollte und ich irgendwann eine richtig große Familie haben würde: Wie sollte das gehen, wenn der Vater meiner Kinder, nur durch eine lächerliche Lederkluft geschützt, mit zweihundert Stundenkilometern durch die Gegend brauste? Dass die Kinder am Ende ohne Vater wären? Niemals!
In dieser Nacht musste ich mich vergewissern: „Und das Motorrad auf deinem Profilbild? Fährst du wirklich damit?“
„Ich habe es verkauft. Ich fahre schon seit Jahren nicht mehr“, sagte er nur, und ich spürte, dass ich ihm vertrauen konnte.
Aus einem Süßstoffpapierchen faltete ich ein Herz und drückte es ihm in die Hand. Dass das Schicksal später auf eine völlig andere Art zum Schlag ausholen sollte, ahnte ich in dem Moment nicht.
Hendrik
Wieder kam eine Erinnerung in mir auf. Auch diese Bilder hatte ich lange nicht zugelassen.
Es ist Nachmittag, ich komme nach der Arbeit nach Hause. Meine Mutter hat sich schick gemacht, sie will mit Alfons, ihrem neuen Partner, zu einem Konzert. Doch er verspätet sich.
Alfons ist mein großes Vorbild und mein bester Freund. Wir machen eine Menge zusammen, unternehmen Motorradtouren, trinken abends was zusammen, schauen sonntags Formel 1, arbeiten in derselben Firma, bauen am Haus herum …
„Ich fahr ihm entgegen und ruf dich von unterwegs an“, sage ich und steige ins Auto. Das habe ich schon öfter getan, damit meine Mutter sich nicht unnötig aufregt. Sicher wird er mir jeden Moment entgegenkommen.
Einige Hundert Meter weiter biege ich um eine Kurve und sehe eine Straßensperrung. Unvermittelt bremse ich und steige aus. Ich wende mich an den Polizisten.
„Ich bin auf der Suche nach meinem Stiefvater, er ist mit dem Motorrad unterwegs“, sage ich. Er nickt. „Fahren Sie vor, wir folgen Ihnen nach Hause.“
Ich schlucke, meine Kehle wird eng. Was ist hier passiert?
Ich fahre los. Als wir vorm Haus parken, öffnet meine Mutter die Tür. Sie starrt den Polizisten an, wird ganz weiß im Gesicht. Noch bevor ich es realisiere, weiß sie Bescheid. Alfons ist tot.
„Ich habe mein Motorrad verkauft. Ich fahre schon seit Jahren nicht mehr“, antwortete ich Denise. Mehr brachte ich nicht heraus.
Ich sah sie von der Seite her an. In den vergangenen Stunden war sie mir nähergekommen. Nah genug, um den Wunsch in mir zu wecken, sie vor allem Schmerz in dieser Welt zu beschützen. Dabei wirkte sie selbst so stark, so mutig, couragiert, ehrlich.
Um mich herum war viel Tod gewesen. Anna. Alfons. Danach hatte ich das Leben gesucht. Vielleicht war jetzt ja Zeit für die Liebe?
DENISE
Kaum dass wir uns verabschiedet hatten, schrieb ich Hendrik: Danke für den schönen Abend. Ich wollte ihm einfach sagen, wie besonders das Treffen für mich gewesen war. Ich war aufgeregt, aufgewühlt. Ich suchte kein Abenteuer, so war ich nicht. Ich suchte einen Menschen an meiner Seite, den ich liebte. Der mich liebte. Und ich war mir so sicher, dass er der Richtige war.
Doch es gab ein Problem. Hendrik meldete sich nicht zurück.
Immer wieder schaute ich auf mein Handy, online in den Messenger-Dienst, den wir damals nutzten – nichts. Mit jeder Stunde, die verging, wurde ich unruhiger. Hatte ich mich am Ende in ihm getäuscht?
Ich ließ die Gespräche der Nacht Revue passieren. Anfangs war Hendrik zurückhaltender gewesen, während ich nach Tiefgang gesucht hatte. Er hatte viel und lebendig erzählt, doch mit persönlichen Dingen rückte er nicht so leicht heraus. Ich war überzeugt, dass er Zeit brauchte, um zu vertrauen. Und anhand kleiner Bemerkungen ahnte ich, dass das Leben auch bei ihm schon einige Wunden geschlagen hatte.
Natürlich hatte ich ihm gleich erzählen müssen, dass ich mir eine große Familie wünschte, mit vielen Kindern. „Was meinst du mit viele?“, hatte er wissen wollen und eine Augenbraue hochgezogen.
„Drei oder vier“, hatte ich gesagt. Einen Moment lang hatte er leicht überfordert gewirkt, dann aber gemeint: „Na, gucken wir mal.“
Hatte ich ihn damit am Ende verschreckt? Immerhin war es unser erstes Date gewesen. Wer redet da schon von einem Haus voller Kinder? Aber nein, überlegte ich, er hatte etwas überrascht, aber nicht abweisend reagiert.
Oder bildete ich mir das alles nur ein?
Meine Freundinnen brauchte ich erst gar nicht zu fragen, so viel war klar. Die hätten mich nur dezent darauf hingewiesen, dass ich schon einmal
felsenfest überzeugt gewesen war, den Mann fürs Leben getroffen zu haben.
Doch die romantischen Vibes, die in der Luft gelegen hatten, dort
auf dem Parkplatz vor dem McDonald’s, die waren eindeutig gewesen.
Aber warum rief er dann nicht an, schickte nicht mal eine kurze Antwort? So ging das nicht!
Hendrik
Das gefaltete Herz aus Süßstoffpapier zwischen den Fingern, stieg ich in meinen Wagen. Im Rückspiegel sah ich Denise davonfahren. Ich legte das Herz ins Handschuhfach, damit es ja nicht verloren ging, und machte mich auf den Weg nach Hause. Dunst hing über den Feldern, doch am Horizont tauchte die Sonne auf, die Straße führte direkt darauf zu. Ein perfektes Bild für das, was gerade geschehen war. Ich hatte nach Bekanntschaften gesucht, nach Freundschaft, vielleicht etwas mehr – und die Frau fürs Leben gefunden.
Die unterschiedlichsten Gefühle stürmten auf mich ein. Respekt, ja, Bewunderung für diese starke Frau, die so früh im Leben schon so viel auf die Beine gestellt hatte. Die Mutter war. Ihr Kind über alles liebte.
Ob Tylor mich mögen, mich akzeptieren würde? Ob ich meiner Verantwortung gerecht werden könnte? Was brauchte ein kleines Kind überhaupt?
Eines war klar: Das mit Denise durfte ich auf keinen Fall vermasseln! Ich musste ihr zeigen, wie viel sie mir bedeutete. Wie wichtig, ja, groß sich alles anfühlte. Aber wie sollte ich das anstellen?
Als Denise Nachricht mich erreichte, hätte ich am liebsten sofort zurückgeschrieben. Doch ein guter Freund hatte mich gewarnt: „Bedräng sie nicht. Mach dich interessant. Schreib nicht gleich zurück, sondern warte mal ab …“
Ich war jung und, was ernsthafte Beziehungen anging, ziemlich unerfahren. Vielleicht hätte ich die weisen Ratschläge meines Kumpels kritischer betrachten sollen, immerhin war er seit Jahren unfreiwilliger Single. Aber so weit dachte ich nicht. Ich rang mich dazu durch, Denise Raum zu geben, um ihr zu zeigen, wie viel sie mir bedeutete. Und vielleicht auch, um ein bisschen cool zu tun.
Bis mich eine richtig wütende Nachricht erreichte. Also, so läuft das nicht, schrieb Denise. Wenn du kein Interesse hast, dann sag es. Wenn aber doch, denn melde dich, und zwar sofort!
Ups, das saß. Ich schrieb so hastig zurück, dass meine Finger übereinanderstolperten. Taktieren, das begriff ich, war nicht der richtige Weg, ihr Vertrauen zu gewinnen. Also war ich ehrlich, hielt mich nicht länger zurück. Überwand in den folgenden Wochen meine Ängste, auch die vor Verlust, die mich seit der Kindheit geprägt hatten. Ich hörte auf mein Herz, ließ mich fallen in das größte Abenteuer meines Lebens. Und fand mein tiefstes Glück.
* * *
Wir
Was waren wir verliebt! Freunde schüttelten den Kopf, als wir schon bald beschlossen, zusammenzuziehen. Wir hatten nur wenig Geld, aber das war uns egal. Unsere erste Küche kostete gerade mal hundertfünfzig Euro, die Fronten beklebten wir mit schwarzer Folie. Ein Zimmer strichen wir knallpink, denn auch unser Leben war voller Farbe, Kraft und Energie.
Seit unserem ersten Kennenlernen war uns beiden klar, dass wir zusammengehörten, für immer. Wir wollten eine Familie gründen, wollten Verantwortung übernehmen für uns und unsere Kinder, und wir wollten miteinander alt werden. Wollten später auf einer Bank sitzen, Hand in Hand, unseren Enkelkindern beim Spielen zusehen und zurückblicken auf ein erfülltes Leben voller Liebe.
Natürlich lag ein Haufen Arbeit vor uns. Die Punkte, an denen wir in unserem Leben standen, waren völlig unterschiedlich. Denise hatte bereits eine gescheiterte Beziehung hinter sich, war Mutter. Hendrik hatte gerade steigenden beruflichen Erfolg als Software-Entwickler, bekam seinen ersten Dienstwagen. Und auch sonst waren – und sind – wir voller Unterschiede:
Die Liste der Punkte, in denen wir uns unterscheiden, könnten wir endlos fortführen. Immer schon half uns unsere Verliebtheit, sie mit einem Lachen zu akzeptieren. Vor allem aber ist klar, dass wir letzten Endes dasselbe wollen, nur manchmal andere Wege gehen, um es zu erreichen. Und was wollen wir? Aufrichtigkeit. Verlässlichkeit. Geborgenheit. So sein dürfen, wie wir sind.
H: Sport ist für mich essenziell. Klar muss auch ich mich dazu aufraffen. Und die immer gleichen Übungen können ganz schön stupide sein. Aber dabei kann ich so richtig entspannen. Und ich weiß, ich tue meinem Körper etwas Gutes.
D: Ich hasse Sport!
H: Zur Fitness gehört auch bewusste Ernährung, das ist mir wichtig.
D: (kichert) Ich liebe Süßigkeiten! Ich könnte auf alles verzichten, nur nicht auf Schokolade.
H: Ich liebe Katzen. Als ich Denise kennenlernte, hatte ich eine …
D: Die mich gleich in den Finger gebissen hat!
H: Das war taktisch unklug von ihr. Aber immerhin hast du gesehen, dass ich bereit war, für ein Wesen Verantwortung zu übernehmen. So ganz unvorbereitet bin ich also nicht in unsere Patchwork-Familie geschlittert.
D: Du vergleichst jetzt aber nicht eine Katze mit einem Kind … Wobei du dich von Anfang an wirklich toll und aus ganzem Herzen um Tylie gekümmert hast.
H: Ich sag ja, ich war bereit, Verantwortung zu übernehmen.
D: Hat die Katze nicht draußen gelebt? Sich selbst versorgt?
H: Ups. Dafür habe ich andere Vorteile. Ich bin ich ein gelassener Mensch, die Ruhe selbst.
D: Hendrik hat definitiv mehr Geduld als ich, ich raste auch mal aus. Aber ich entschuldige mich dann immer. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten … (zwinkert)
H: (lacht) Du hast ja auch immer recht.
D: Natürlich!
Oft hört man, dass Menschen nur das leben und auch geben können, was sie selbst erfahren haben. Doch wir sind überzeugt, dass wir alle in uns die Fähigkeit tragen, zu lieben. Einander wertzuschätzen. Füreinander da zu sein.
Unsere Gesellschaft ist so angelegt, dass man als Paar seine zwei Kinder bekommt und ständig gezwungen ist, sie wegzuorganisieren, um arbeiten zu können. Menschen definieren sich hierzulande häufig mehr über die Arbeit und die Karriere als über die Familie. Eine gesunde Work-Life-Balance müssen viele überhaupt erst wieder erlernen. In unserer schnelllebigen Welt zählen der äußere Schein und die Besitztümer häufig mehr als innere Werte. Doch mit dem Konsum ist es so eine Sache: Hat man das eine, will man schon das Nächste. So ist unser System ausgelegt. Natürlich freuen auch wir uns über schöne Dinge. Doch sie alle erhalten ihren Wert eigentlich erst dadurch, dass unsere Kinder sie mit Leben erfüllen. Das breite Bett, in das Nacht für Nacht ein Kind nach dem anderen zum Kuscheln krabbelt. Der lange Tisch, an dem gegessen, geredet, auch mal gestritten, aber noch viel mehr gelacht wird … Nie käme uns in den Sinn, Besitztümer über unsere Kinder zu stellen. Gesunde Kinder zu haben, ist ein Privileg, das ist uns bewusst. Mehr noch: ein Geschenk, das nicht selbstverständlich ist.
Das heißt nicht, dass ein Leben nur dann erfüllt wäre, wenn man Kinder hat. Für uns aber fühlt es sich so an. Und was sie uns mit jedem Tag aufs Neue zeigen, ist diese bedingungslose Liebe, die ihr Wesen erfüllt und uns an das Gute in uns Menschen glauben lässt.
Als wir damals zusammenzogen, erlebten wir, wie sich unsere Wünsche an das Leben nach und nach erfüllten. Wir hatten beide Kummer im Leben erlebt. Wir wussten, dass die Zukunft viele Variablen hat und nichts im Leben sicher ist, außer, dass es sich wandelt.
Glück heißt vielleicht aber auch, so zu tun, als ob – als ob man es festhalten, als ob man planen, als ob man ewig leben könnte.
Und so lebten und träumten wir damals … und vergaßen ein Stück weit, dass das Leben das ist, was passiert, während man eifrig dabei ist, andere Pläne zu schmieden.