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Wenn man erfährt, dass man schwer krank ist, türmen sich erst einmal all die drohenden Verluste vor einem auf: geliebte Menschen, enge Freunde, auch die eigene Lebenszeit. Dinge, die man noch erleben, Orte, die man noch sehen wollte. Wünsche und Lebensträume, die sich im Nichts verlieren. Das tut weh. Und es dauert, bis man die neue Realität akzeptieren kann. Dann verändert sich vieles: Jeder einzelne Moment gewinnt an Bedeutung. Und man bewertet neu, was wirklich wichtig ist.

Viele Menschen, die eine schwere Krankheit überstehen, nehmen diese
Erfahrung mit in ihr weiteres Leben, sie gehen bewusster durch den Tag. Sie wollen keine Zeit mehr vergeuden, weil sie erfahren haben, wie kostbar diese ist.

Doch es besteht ein großer Unterschied dazwischen, ob man selbst betroffen ist oder ein Mensch, den man liebt. Für den man Verantwortung trägt. Den man glücklich und unbeschwert sehen will.

H: Richtig schlimm war es für mich in den Stunden, in denen ich dachte, ich hätte Krebs. Danach war ich erst mal erleichtert. Es war ja alles nicht so schlimm.

D: Wie bitte? Nicht so schlimm? Du erfährst, dass deine Leber abstirbt, ein überlebenswichtiges Organ wohlgemerkt, und du sagst, alles ist halb so wild?

H: (lacht) Okay, okay. Was ich sagen wollte: Ich wusste, dass es Möglichkeiten gibt, meine Krankheit zu behandeln. Diese ganze Batterie an Tabletten, die ich nehmen musste, die war ja für irgendwas gut.

D: (guckt skeptisch) Und die Nebenwirkungen?

H: Ich habe mir nicht groß Gedanken um mögliche Nebenwirkungen gemacht. Oder besser gesagt: Klar wusste ich, dass es Nebenwirkungen geben könnte, aber die Wahrscheinlichkeit war eben äußerst gering. Und genauso habe ich das halt eingeschätzt. Ich habe nicht ständig die winzige Möglichkeit vor Augen gehabt, einer dieser höchst seltenen Fälle zu sein, die eine tödliche Nebenwirkung erleiden. Stattdessen habe ich mich auf die überwiegende Anzahl an Menschen konzentriert, die gut mit den Medikamenten zurechtkommen. Es ist doch bekannt aus der Placeboforschung, dass Menschen die verrücktesten Symptome spüren können, obwohl sie nur ein Scheinmedikament bekommen haben. Das geht so weit, dass Patienten, denen gesagt wird, sie wären am Knie operiert worden, wobei in Wirklichkeit nur ein Schnitt gesetzt wurde, die gleichen Beschwerden haben können wie solche, die wirklich operiert wurden. Neben den Wirkstoffen, die man bekommt, ist eben auch das Mindset von Bedeutung.

D: Typisch Hendrik. Auch nach der Diagnose hat er sich noch als unzerstörbar angesehen. Bisschen lädiert, „aber das wird schon“, wie er immer behauptet hat. Anfangs habe ich das gerne geglaubt. Aber seit er vor meinen Augen immer gelber geworden war, hatte ich halt Angst um ihn.

H: Und du bist vor meinen Augen fast innerlich verblutet.

D: Ja, ein super Beispiel für angeblich höchst seltene und megaunwahrscheinliche Komplikationen … Klar, das war gefährlich. Aber bei mir war durch die Operation nach der Geburt der Zwillinge alles wieder in Ordnung. Du hingegen bist schwer krank.

H: Aber mir ging es ja wieder besser, als ich Anfang 2016 aus dem Krankenhaus kam.

D: Besser, na ja. Die Ärzte selbst haben gesagt, dass die Medikamente den Verlauf der Leberzirrhose verlangsamen können, dass es in einigen Jahren aber auf eine Transplantation hinauslaufen würde.

H: In einigen Jahren … genau.

D: Das ist der Unterschied. Du bist von zehn Jahren plus ausgegangen. Ich habe ja auch gehofft, dass es so kommen würde. Aber es gab null Garantie. In Wahrheit hatte ich ständig Angst, dass es uns jederzeit eiskalt erwischen könnte.

H: Und das war und ist für mich das Schlimmste an der Krankheit. Dass sie dir so viel Angst macht.

Hendrik

Wenn man selbst krank wird, braucht man natürlich eine Weile, um die Diagnose zu akzeptieren. Der Schlüssel zum Glück ist, das zu ändern, was man ändern kann. Und was man nicht ändern kann, wie eben eine solche Erkrankung, muss man lernen anzunehmen. Als Betroffener durchläuft man diesen Prozess zwangsläufig. Auch wenn man damit hadert, will man letztlich keine kostbare Lebenszeit verlieren. Man entwickelt Bewältigungsstrategien. Das macht stark. Was wehtut, ist der Schmerz der anderen. Der Gedanke, die Familie allein zu lassen. Das war es, was mich zum Weinen gebracht hat, und nicht mein Schmerz.

Es war schlimm für mich, dass Denise Ängste entwickelte. Mir ging es anfangs ja nicht schlecht, und ich wollte nicht, dass sie sich unnötige Sorgen machte. Zugleich war klar, dass ich ihr nichts vormachen durfte. Sie musste wieder vertrauen lernen. In das Leben, in meinen Körper.

Ich konnte nicht mehr tun, als die Medikamente zu nehmen, ihr Zuversicht zu vermitteln und ihr immer wieder zu versichern, dass ich sofort zum Arzt gehen würde, wenn sich in mir etwas veränderte.

Und natürlich veränderte sich einiges. Nicht sofort, aber früher als gedacht.