hendrik
Die IT-Firma, für die ich nun schon einige Jahre arbeitete, hatte im Frühjahr 2020 mit einem großen Konzern fusioniert. Dadurch war es einfacher, die Verantwortung für Projekte, an denen ich saß, auch mal abzugeben.
Als Carlies Geburt näher rückte, war das Beantragen der Elternzeit nur eine Formalität. Dieses Mal gönnte ich mir den Luxus und war ganz euphorisch bei dem Gedanken, so richtig Zeit für Denise und die Kinder zu haben, ohne dass eine Deadline im Hintergrund drängelte. Im August bereitete ich mich darauf vor, meine Projekte zu übergeben. Dann rückte der Geburtstermin auch schon näher. Ich hoffte inständig, dass es dieses Mal nicht zu Komplikationen kommen und Denise die Geburt gut verkraften würde. Und so war es dann auch.
Dieses Gefühl, das neugeborene Kind in den Arm zu nehmen, kann ich nicht in Worte fassen. Es ist Liebe pur. Wir lebten wie in einer Blase in unserem Familienzimmer auf der Entbindungsstation, völlig losgelöst vom Alltag. Sorgen und Ängste, die seit meiner Diagnose unterschwellig an uns nagten, hatten in diesen Tagen keine Bedeutung. Und wenn, dann nur in der Form, dass wir gelernt hatten, noch viel mehr zu schätzen, was wir aneinander hatten.
DENISE
Eine große Familie ist auch deshalb so schön, weil die Kinder viele Geschwister haben. Und mit ihnen enge Bindungen zu Menschen, die Teil ihrer eigenen Geschichte sind. Als wir mit Carlie zu Hause eintrafen, kamen mir die Tränen, doch diesmal vor lauter Glück. Es ging mitten ins Herz zu sehen, wie die Kinder sie bestaunten, mit ihr kuschelten und ganz in ihrer Geschwisterrolle aufgingen. Auch Ella, die als Einzige während der Schwangerschaft gefremdelt hatte und meinen wachsenden Bauch nicht hatte anfassen wollen, sah ihre winzige Schwester und war sofort schockverliebt.
Carlie war ein unglaublich entspanntes Baby. Kaum legten wir sie ins Babynest, schlief sie auch schon. Wir alle genossen es, dass Hendrik zu Hause war. So war für jedes Kind eine Hand frei, während Carlie in der Babytrage schlief und wir durch die Gegend streiften, um die restlichen Sommertage zu genießen.
Zu der Zeit wohnten wir in Mülheim, es war nicht die schönste aller Wohngegenden, aber in der Nähe war ein kleiner Wald mit einem Bach. Dort gingen wir fast täglich mit den Kindern hin, um zu spielen. Wir stauten den Bach, sprangen drüber, ließen Stöckchen schwimmen, planschten, und Carlie war immer dabei.
Manchmal fragte ich mich, ob ich diese Zeit wirklich so bewusst wahrgenommen hätte, wenn Hendrik nicht krank geworden wäre. Ja, da waren Ängste in mir, immer noch und vor allem nachts. Aber da war auch dieses intensive Glücksgefühl in den vielen guten Momenten. Und die quetschten wir förmlich aus, genossen sie mit all unseren Fasern. Natürlich gab es auch mal Konflikte, das bleibt nicht aus, schon gar nicht, wenn man zu siebt ist. Doch wenn die Kinder mal zickten, dann war es eben so. Das war nichts, was uns groß aufregte. Hendrik hatte unglaublich viel Geduld, erklärte alles hundertfach und ging auf jedes einzelne Kind ein. Ich wurde auch mal laut, wenn es sein musste, und dann war schnell alles wieder gut.
Wäre es nach mir gegangen, hätte es auf ewig so weitergehen können.
hendrik
Unsere Anfangszeit mit Carlie war unglaublich harmonisch. Schon während der letzten Schuljahre hatte ich immer gearbeitet und an der wachsenden beruflichen Herausforderung zwar Spaß gehabt, aber auch permanenten Druck gespürt. Mit einem Mal fiel das weg, und alles drehte sich um die Kinder. Zeit zu haben, war ein Geschenk, und ich machte mir keine großen Gedanken um mich. Ab und an verschwand ich im Homeoffice, um all den Schreibkram zu erledigen, der so anfiel. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich von der Lungenentzündung erholt, vertrug die Medikamente und verschwendete keine Zeit mit negativen Gedanken. Körperlich hatte ich vielleicht ein klein wenig abgebaut, aber das war wohl der Lauf der Dinge, bis ich eine neue Leber bekäme.
Carlie war so ein zufriedenes Baby. Wir machten ein Fotoshooting zu ihrer Geburt, die Kinder standen um ihr Nestchen und strahlten. Da war nichts Gestelltes in den Bildern, die Harmonie hüllte uns alle ein. Auf einem Bild hielt ich Carlie, Denise schmiegte sich an mich. Es war so ein schönes Foto, eine Momentaufnahme unserer Gefühle. Als ich es genauer betrachtete, regte sich irgendein vages Gefühl in mir. Etwas war anders. Ich sah genauer hin. Da bemerkte ich, dass mein Hals dünner geworden war und auch der Arm, auf dem Carlie lag. Ich musste wirklich wieder mehr Sport machen.
Ende Oktober streikte unser Kaffeevollautomat mal wieder. Ein No-Go, wenn man einen Kaffee-Junkie wie Denise zu Hause hat. Ich beschloss, ihr eine Freude zu machen und endlich eine Siebträgermaschine zu kaufen, die wünschte sie sich schon lange.
Als wir zusammen mit Carlie im Geschäft ankamen, spürte ich, dass mir schummrig war. Es gibt halt Tage, an denen man sich nicht hundertprozentig fit fühlt, und ich wollte keine große Sache daraus machen. Wir bekamen einen Kaffee zum Probieren, während wir auf einen Verkäufer warteten. Im nächsten Moment fühlte ich, wie eine Gänsehaut über meinen Körper lief. Ich fröstelte, hatte aber nicht das Gefühl, dass eine Erkältung im Anzug war. Einen Infekt konnte ich auch wirklich nicht gebrauchen. Inzwischen war ein Verkäufer dabei, uns seine Modelle anzupreisen. Ich hörte nicht wirklich zu, denn ich fror jetzt richtig. „Ist dir auch so kalt?“, fragte ich Denise leise, doch sie schüttelte den Kopf. Die Kälte schien von innen zu kommen, und ich merkte, wie Nervosität in mir aufstieg. Denise hatte sich schnell für ein Modell entschieden, zum Glück. Als ich mich ans Bezahlen machte, fing meine Hand an zu zittern. Ich musste mich mit aller Kraft darauf konzen-trieren, die Karte an das Lesegerät zu halten.
Bis wir zu Hause waren, hatte das Zittern meinen ganzen Körper erfasst. Das war kein einfacher Schüttelfrost. Das war ernst, das spürte ich. Mir war klar, ich musste dringend ins Krankenhaus.
Meine größte Angst: dass ich innerlich verblutete. Ich war zwar erst vor Kurzem bei einer Kontrolle gewesen wegen der Ösophagusvarizen. Aber was, wenn der Arzt etwas übersehen hatte? Wenn sich in der Zwischenzeit neue gebildet hatten, die jetzt geplatzt waren?
Dann lief mir die Zeit davon!
Geplatzte Krampfadern können zu einem erheblichen Blutverlust führen. Binnen weniger Minuten würde ich in einen Schockzustand geraten, und dann könnte es übel ausgehen. Dieses Zittern, war das schon der drohende Schock?
Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf, während wir auf den Krankenwagen warteten. Denise, die Kinder. Das Zittern verstärkte sich, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Endlich fuhr der Krankenwagen vor. Ich informierte die Sanitäter, wo das Problem lag, und bat sie, mich nach Essen zu bringen und dort schon mal anzurufen. In der Uniklinik kannte man meine Vorgeschichte.
Der Sanitäter suchte nach einer Vene, um eine Kochsalzinfusion anzuhängen. Er fand keine, legte mir den Zugang in die Hand, was gemein wehtat. Aber Jammern brachte jetzt nichts, das brachte eigentlich nie etwas.
Zehn Minuten später erreichten wir die Klinik. Im nächsten Moment
erbrach ich mich. Kein Blut, dachte ich noch, da wurde ich auf einer Trage
in die Notaufnahme geschoben und auf eine Untersuchungsliege verfrachtet. Jemand befestigte Elektroden an meinem Körper für ein EKG. Blut wurde abgenommen und sofort ins Labor gebracht. Minuten später wurde ich ins CT geschoben. Irgendwelche Medikamente hatte ich auch bekommen und das Zittern legte sich. Ansonsten wären die Bilder wohl ziemlich verwackelt gewesen.
Nichts deutete auf eine innere Blutung hin, das war die gute Nachricht. Leider die einzige an diesem Tag. Meine Blutwerte zeigten, dass die Leber gereizt war. Ein Arzt machte einen Ultraschall, zog die Stirn in Falten und murmelte vor sich hin.
„Wir machen noch ein CT mit Kontrastmittel“, meinte er dann. Also ging es zurück in die Röhre, mir blieb noch nicht mal Zeit, Denise Bescheid zu geben, dass es mir etwas besser ging.
Der Arzt kehrte zurück und zog eine Kollegin hinzu. Irgendwann scharten sich sieben Ärztinnen und Ärzte um mich. Die Stethoskope in der Hand, horchten sie meinen Bauch ab. Es mutete seltsam an, all die moderne Technik um mich herum, der Ultraschall mit seinem hochauflösenden Bildschirm, das CT, das MRT, lauter Geräte, die an einen Science-Fiction-Film der 1960er-Jahre erinnerten. Doch die Ärzte standen ratlos um mich he-rum mit ihren Instrumenten, die im 19. Jahrhundert erfunden worden waren. Schließlich ergriff einer der Oberärzte das Wort.
„Wir können keine Darmgeräusche feststellen“, erklärte er. „Wir werden jetzt die Befunde im Gremium besprechen und entscheiden, wie wir am besten vorgehen.“ Mit einem Nicken verließ er das Zimmer, gefolgt von den anderen sechs Ärztinnen und Ärzten.
Mein Darm? Ich wusste wirklich nicht, was ich davon halten sollte. Erst mal hieß es warten.
Die Zeit zog sich dahin, zwischendurch war ich mir nicht sicher, ob sie mich nicht vergessen hatten in dem Behandlungsraum. Ich streckte die Hand aus, um nach meinem Telefon zu suchen. Ein Fehler, der Zugang tat wirklich weh. Doch ich musste dringend Denise schreiben, sicher war sie in heller Aufregung. Wegen Corona hätte sie nicht mit ins Krankenhaus gedurft, die Regeln waren streng. Und überhaupt waren ja die Kinder zu Hause.
Mein Blick fiel auf das Display, auf dem sich ihre Nachrichten stapelten.
Bevor ich Denise weiter beruhigen konnte, öffnete sich die Tür, und das Ärztegremium trat ein. Endlich!
Noch einmal wurde mein Bauch abgehört. Dann erklärte der Oberarzt: „Wir gehen davon aus, dass Sie einen Darminfarkt haben. Ihr Darm weist keinerlei Peristaltik auf. Was bedeutet, dass er sich im Absterben befindet.“
Das klang gar nicht gut!
„Wir müssen eine explorative Laparotomie durchführen, um einen Blick auf Ihre Organe werfen zu können. Der Eingriff ist nicht ohne Risiko, weil Sie eine schlechte Blutgerinnung haben. Aber uns bleibt keine andere Möglichkeit. Wenn der Darm abstirbt, müssen wir ihn chirurgisch entfernen, und zwar schnellstmöglich.“
Es war nicht das, was ich hatte hören wollen. Ich fühlte mich doch besser … Offenbar war das eine Illusion.
Das Problem mit der Blutgerinnung kannte ich bereits. Überhaupt hatte ich schlechte Blutwerte, das lag höchstwahrscheinlich an meiner Milz. Sie war um ein Vielfaches größer als ein normales Organ.
Eine gesunde Milz filtert das Blut, dient als Blutspeicher, übernimmt Immunfunktionen und ist beim Abbau von Blutbestandteilen beteiligt. Durch die Vernarbung meiner Leber und den damit erhöhten Druck in der Pfortader versuchte meine Milz offenbar, mehr Blut aufzunehmen, um den Blutfluss auszugleichen. Eigentlich war das eine faszinierende Sache, zeigte es doch, wie einfallsreich der Körper reagiert, wenn eines der lebenswichtigen Organe nicht richtig funktioniert. Das Ganze brachte jedoch auch Nachteile mit sich. Weil mein Knochenmark sich ja als völlig gesund erwiesen hatte, vermuteten die Ärzte, dass im Milzgewebe vermehrt Blutplättchen abgelagert wurden, die für die Blutgerinnung eine erhebliche Rolle spielen.
Zur OP-Vorbereitung wurden mir über eine Infusion Gerinnungsfaktoren zugeführt. Die Werte besserten sich nicht wesentlich, was kein Wunder war, wenn meine Milz sie herausfilterte. Ich konnte bloß hoffen, dass ich nicht auf dem Tisch verblutete.
Während die Infusion lief, trat eine junge Ärztin zu mir, um mich über die OP und ihre Risiken zu informieren. Sie erklärte mir, dass der Chirurg einen Schnitt vom Brustbein abwärts setzen würden, um den Bauchraum zu eröffnen. Anschließend würden die Organe einzeln herausgenommen und untersucht werden. Der abgestorbene Teil des Darms würde chirurgisch entfernt werden.
„Die CT-Bilder allein sind leider nicht aufschlussreich. Das Kontrastmittel hat sich nicht so verteilt, wie wir erwartet hatten. Das liegt an dem gestörten Blutfluss infolge der Leberzirrhose und natürlich an der großen Milz, die darüber hinaus auch Teile des Darms verdeckt. Eine diagnostische Laparotomie ist der Eingriff der Wahl.“
„Gut, und das heißt, wenn der Darm tatsächlich abstirbt, entfernen Sie den Teil?“, vergewisserte ich mich.
Sie nickte. „Genau. Je nachdem, wie groß dieser Darmabschnitt ist, könnte es passieren, dass Sie einen künstlichen Darmausgang benötigen. Wenn das der Fall sein sollte, könnte ein solcher Ausgang nach einer gewissen Zeit unter Umständen wieder zurückverlegt werden.“
Ein künstlicher Ausgang … Sie muss mich ja über mögliche negative Folgen der OP aufklären, dachte ich. Aber da waren einige „Könnte“ im Satz gewesen, sicher war das also nicht. Andererseits lag es im Bereich des Möglichen.
Ich musste mit Denise sprechen.
Doch die Ärztin war noch nicht fertig. „Die Operation stellt auch für Ihre Leber eine Belastung dar.“
Noch so eine Sache, die mir gar nicht gefiel. Wie es aussah, würde ich meine Zelte hier nicht so schnell abbrechen können.
Kaum ließ mich die Ärztin allein, rief ich Denise an. Ich erzählte ihr von der Möglichkeit eines künstlichen Ausgangs.
„Besser, wir bereiten uns innerlich darauf vor“, sagte ich.
„Dann lerne ich, den Beutel zu wechseln“, sagte sie ganz pragmatisch.
Ihre Reaktion überraschte mich nicht. Denn so war sie, so ist sie. Die beste Partnerin, die ich mir nur wünschen kann. Der Mensch in meinem Leben, auf den ich mich immer, in jeder noch so vertrackten Situation meines Lebens verlassen kann.
An diesem Tag waren wir uns einig: Was immer auf uns zukam, wir würden es gemeinsam meistern. Was zählte, war, dass ich überlebte.
Natürlich rotierten die Gedanken in meinem Kopf. Einen Teil meines Darms zu verlieren, war ein großer Einschnitt, das brauchte ich nicht schönzureden. Meine Lebensqualität würde eingeschränkt sein, mein Fitnessprogramm und die Ernährung – Themen, die mich nach meiner Familie am meisten interessierten – würden sich massiv verändern. Aber so ist das Leben: Einschneidende Veränderungen können in jedem Moment passieren, dann ist nichts mehr, wie es war. Man hat einen Unfall und sitzt vielleicht im Rollstuhl. Oder man hat halt einen künstlichen Darmausgang. Damit kann man umgehen lernen, auch wenn es hart ist und ganz gewiss nicht so, wie man sich das Leben vorgestellt hat.
Meine Gedanken wanderten zu Carlie. Die gemeinsame Zeit mit ihr war so kurz gewesen. Ich wollte Erinnerungen für sie erschaffen, für all meine Kinder. Das war die Hauptsache: diese OP hinter mich zu bringen, schnell wieder zu Kräften zu kommen und weiter für alle da zu sein.
Und vielleicht, ganz vielleicht, würde ja alles viel besser laufen als gedacht. Vielleicht würde ich doch keinen künstlichen Ausgang brauchen.
Keine dreißig Minuten später schaute der Chefchirurg vorbei und machte mir diese kleine Hoffnung zunichte.
„Wenn ich von den CT-Bildern und Ihren Blutwerten ausgehe, werden wir ganz sicher einen künstlichen Ausgang legen müssen“, sagte er.
Diesmal schrieb ich Denise.
DENISE
Am Abend, nachdem alle Freunde gegangen waren, die mich während Hendriks OP unterstützt hatten, suchte ich mir Videos über Stomabeutel raus und sah sie an. Ich wollte alles darüber wissen. Wie man sie verlegt, wie oft man das tut. Was dabei wichtig ist. Welche Sorten es gibt.
Das Thema ängstigte mich nicht. Was mich ängstigte, war der Gedanke, ohne Hendrik zu sein. Alles, was dort im OP passierte, entzog sich vollkommen meiner Kontrolle. Ich konnte nur warten. Und Videos schauen, zwanghaft fast. Sie gaben mir das Gefühl, mir ein Stück Kontrolle zurückzuholen. Etwas Sinnvolles zu tun, mich vorzubereiten. Wenn Hendrik überlebte.
Später, während ich meine Kreise auf dem Badteppich zog und die Panik in meinen Nacken kroch, war Randa die Einzige, mit der ich sprechen konnte. Mitternacht war längst vorbei und noch immer war sie für mich erreichbar. Sie spürte die Angst hinter meinen Worten, erinnerte mich immer wieder daran, wie stark Hendrik war und dass er alle Kraft der Welt aufbringen
würde, um bei mir und den Kindern zu bleiben. Der Klang ihrer Stimme
beruhigte mich.
Ich weinte noch viel in dieser Nacht. Doch es gab Menschen wie Randa, die mich verstanden und für mich da waren. Und so erlebte ich, wie inmitten von Tränen und Angst unsere Nähe wuchs. Randa war längst nicht mehr nur meine beste Freundin, sie war Familie. Und Familie bedeutet mir alles.
hendrik
Es dauerte, bis ich nach der langen Narkose wieder zu mir kam. Das erste Aufwachen war der reinste Horror, denn ich war noch intubiert. Stunden später, als ich erneut wach wurde, war der Tubus entfernt worden. An meinem Bauch war nur die lange Narbe von der Laparotomie, kein künstlicher Ausgang. Zu sagen, dass ich heilfroh darüber war, wäre untertrieben. Es war ja nicht nur der Beutel. Es war die Einschränkung im täglichen Leben, beim Spielen mit den Kindern, beim Essen, beim Sport.
Durch die starken Medikamente spürte ich kaum Schmerzen, solange ich ruhig dalag. Was eher störte, war, dass ich so schlecht sah. Alles verschwamm vor meinen Augen, ich hatte Mühe, Denise Nachrichten auf dem Display zu entziffern. Es waren wohl die Nachwirkungen der Narkose und die Nebenwirkungen der Medikamente, die sich auf mein Sehvermögen auswirkten. Aber das würde sich bestimmt wieder bessern.
Bei der Visite erzählte der Arzt, dass die OP eine knappe Geschichte gewesen war. Ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, keinerlei Ängste, keine Albträume. Es war surreal, fast so, als wäre nicht ich, sondern jemand anders fast auf dem OP-Tisch gestorben.
Der Arzt sprach auch über die OP selbst. Die riesige Milz hatte anscheinend nicht nur das CT-Bild sabotiert, sondern auch meinen Darm beim Abhorchen verdeckt, sodass keine Geräusche hörbar gewesen waren. Im Grunde war der Darminfarkt eine Fehldiagnose gewesen. Dennoch hätten die Ärzte nicht anders reagieren können. Ein Darminfarkt bedeutete Lebensgefahr. Nur ein Drittel der Patienten überlebt, und das auch nur dann, wenn in den ersten Stunden operiert wird.
Dennoch, meine Leber hatte einen ziemlichen Schlag abbekommen und war in ihren Funktionen stark eingeschränkt. Es lief auf eine Transplantation hinaus: jedoch nicht erst in zehn Jahren, sondern bald. Sehr bald, wenn ich Glück hatte.
Das war eine Menge an Informationen, und sie klangen gar nicht gut. Mir war klar, ich konnte hier nicht liegen und abwarten, sondern musste mir mein Leben zurückholen. Stephan, der Pfleger auf der Intensivstation, war etwa gleichaltrig, ein gut gelaunter Bär von einem Mann, der gern Späßchen machte und für Unterhaltung sorgte. Er half mir, mich zu mobilisieren. Das erste Ziel war, zu sitzen. Ich versuchte mich aufzurichten, indem ich mich seitlich aufstemmte. Leicht war das nicht. Irgendwann wurde ich schlauer und fuhr das Bett so weit hoch, dass ich fast schon saß. Dann robbte ich bis dicht an den Rand, verteilte mein Gewicht auf die Arme und schob die Beine langsam in Richtung Boden, sodass ich auf der Bettkante zum Sitzen kam. Mehr ging erst mal nicht, der Raum drehte sich um mich, mir wurde übel, und ich schloss schnell die Augen.
Das Sitzen brachte mir schon mal einen großen Bonus ein: Jetzt war ich in der Lage, mich zu waschen. Stephan brachte mir eine Schüssel Wasser, einen Waschlappen und eine Zahnbürste. „Guck mal, was du alleine schaffst, und beim Rest helf ich dir“, meinte er.
Der nasse Waschlappen war eine Wohltat, ich fühlte mich langsam wieder wie ein normaler Mensch. Wobei normal relativ war, so verkabelt, wie ich war. An meinem Hals hing ein Zentralkatheter mit gefühlt hundert bunten Schläuchen; die Kinder hätte ihre helle Freunde daran gehabt.
Der Arzt hatte mir prophezeit, dass es mir in den nächsten Tagen schlechter gehen würde. Und genauso kam es dann auch. Ich hatte keinen Appetit, musste mich zwingen, auch nur einen Bissen herunterzubekommen. Mehr ging nicht.
Die Leber war überfordert, verbrauchte mehr Energie als ein gesundes Organ, verlor jedoch nach und nach ihre Funktionen. Das betraf auch die Eiweißsynthese, ein Proteinmangel war die Folge. Und weil ich nicht ausreichend Nährstoffe zu mir nehmen konnte, baute ich Muskelmasse ab. Alles geriet durcheinander. Der Körper musste sich irgendwoher nehmen, was er brauchte. Ich verlor schnell extrem viel Gewicht. Mein Körper zehrte sich quasi von innen auf.
Als ich es das allererste Mal schaffte, eigenständig ins Bad zu gehen, war ich stolz auf mich. Bis ich mich im Spiegel sah. Das war ein Schock. Meine Haut war fahl, die Schädelknochen traten hervor, meine Augen lagen tief in dunklen Höhlen und wirkten riesig. Dann war da die Narbe, die sich über meinen Bauch zog.
Was würde Denise sagen?
Ich schrieb ihr:
Es war ein ziemlicher Kraftakt, doch ich wollte unbedingt wieder mobiler werden. Mit dem Physiotherapeuten steuerte ich den Gang an. Nach der Hälfte der Strecke meinte er, es sei genug, doch ich widersprach: „Ich tu das für meine Frau, ich muss wieder fit werden.“ Tatsächlich schaffte ich es bis zum Ende des Gangs. Am Tag darauf nahm ich die ersten Treppenstufen.
Es lief so gut, dass ich nach vier Tagen von der Intensiv- auf die Vorintensivstation verlegt werden konnte. Dort kam ich in ein Doppelzimmer. Im anderen Bett lag ein kleiner Mann mit Kugelbauch, Horst. Er war sozusagen schon Profi: Er hatte eine Kühltasche neben dem Bett stehen, in der er Wurst und Joghurt bunkerte.
Es tat gut, sich etwas ablenken zu können, Horst war ein angenehmer Zimmergenosse. Es sind ganz spezielle Seilschaften, die sich in Krankenzimmern bilden. Man teilt schwere und zugleich sehr private Momente, wird Zeuge, wie der andere sich langsam zurück ins Leben kämpft. Man feuert einander an und lobt sich für jeden noch so kleinen Fortschritt.
Denise schickte ich hin und wieder ein Foto von mir. Es waren Aufnahmen, für die ich bewusst den besten Winkel aussuchte, damit sie nicht erschrak.
Dann hieß es, dass sie vorbeikommen durfte. Wir würden uns wegen Corona in einem eigens eingerichteten Wartebereich vor den Aufzügen treffen.
Meine Gedanken fuhren Karussell. Ich freute mich auf sie, aber mir war auch mulmig zumute. Ich musste dringend aufhören mit den geschönten Fotos und sie ein Stück weit auf die Realität vorbereiten. Eine Woche nach der OP hatte ich extrem an Gewicht verloren, ich konnte meiner Muskulatur quasi dabei zusehen, wie sie immer weniger wurde. Die Knochen waren spitz, und der ganze Körper zeigte deutlich, wie krank ich war. Das Problem: Ich bekam noch immer nichts herunter. Mal einen gut und lange gekauten Bissen, aber der reichte natürlich nicht, um dem gesteigerten Energieverbrauch gerecht zu werden. Je näher der Besuch rückte, desto klarer war, dass ich Denise auf meinen Anblick vorbereiten musste. Ich schrieb ihr, dass ich ein paar Kilo verloren hätte.
„Was sind schon ein paar Kilo gegen ein Leben mit dir“, schrieb sie zurück.
„Ich sehe noch nicht wieder fit aus“, versuchte ich es erneut.
„Für mich bist du der schönste Mann der Welt. Innerlich und äußerlich.“
Ich musste es wohl darauf ankommen lassen.
Dann war es so weit.
Einigermaßen stolz lief ich ganz allein bis zum Aufzug. Ich war erschöpft, aber ich hielt mich aufrecht. Endlich öffnete sich die Tür. Denise. Ich sah sie an und konnte nicht anders, als über das ganze Gesicht zu strahlen. Sie sah mich an – und in ihren Augen stand pures Entsetzen. Sie fing an zu weinen.
„Hey“, sagte ich betroffen. „Das wird schon wieder.“
Doch Denise schüttelte den Kopf, sie sah aus, als würde sie am liebsten gar nicht aus dem Aufzug aussteigen.
Ich bemühte mich, die ganze Zeit zu lächeln, zu strahlen, positive Vibes auszusenden.
„Hey, guck mal, mir geht es doch gut“, setzte ich an.
„Gut?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich weiß, ich sehe schlimm aus, aber das kriegen wir wieder hin. Mir geht es jeden Tag etwas besser, das dauert einfach noch ein bisschen … aber das wird, ganz bestimmt“, redete ich auf sie ein, um sie zu beruhigen. Inzwischen war sie doch aus dem Aufzug ausgestiegen, und wir saßen zusammen auf einer der Bänke. Wegen Corona mussten wir Abstand halten, doch schließlich konnte ich nicht anders und rückte ein kleines Stück näher. Meine Hand fand ihre und drückte sie, um ihr Kraft zu geben.
DENISE
Ich starrte wie paralysiert auf Hendriks Hand. Die Haut war so durchscheinend, die Knochen so spitz, ich musste an die Hand meiner Oma denken. Kurz bevor sie gestorben war. Schnell sah ich weg. Guckte wieder hin. Die gleichen Hände. Ich schloss die Augen, die Berührung war fast nicht auszuhalten. Weil sie mir vor Augen führte, wie krank er war. Versuchte er etwa gerade, meine Hand zu drücken? Er hatte ja kaum noch Kraft!
Das Schlimmste war: Als er die Hand wieder wegzog, spürte ich einen Funken Erleichterung. Im nächsten Moment schon verging das Gefühl, und ich vermisste seine Berührung, vermisste seine Haut dicht an meiner.
hendrik
Das ist ja mal so was von schiefgegangen, dachte ich, als Denise wieder im Aufzug verschwand.
Wenn überhaupt möglich, dann hatte sie noch mehr Angst als zuvor.
Die Panik in ihren Augen war schlimm gewesen. Für mich war sie viel schlimmer als das, was ich selbst in den vergangenen Tagen hier durchgemacht hatte. Ich musste wirklich alles tun, um wieder fit zu werden. Mich noch mehr anstrengen, essen, vor allem essen. Ich hatte Denise ein Versprechen gegeben, und das musste ich halten. Und auch wenn alles danach aussah und ich wirklich massiv abgebaut hatte, war ich mir sicher: Ich würde nicht sterben! Nicht jetzt. Einmal, weil es nicht sein durfte. Und dann, weil ich daran glaubte, dass sich eine Leber finden würde. Noch war ich nicht für eine Transplantation gelistet. Aber es war tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit.
Um die Transplantation zu überstehen, musste ich zu Kräften kommen. Also: essen.
Wenn mir das bloß nicht so schwergefallen wäre. Der Arzt hatte recht behalten, meine angegriffene Leber sorgte dafür, dass es mir noch schlechter ging. Die Appetitlosigkeit war das eine. Das andere war die Ansammlung von Flüssigkeit in meinem Bauchraum. Das lag an dem erhöhten Druck in den Blutgefäßen. Er sorgte dafür, dass Blutplasma austrat, auch Blutzellen, Elektrolyte. Proteine. Noch war es nicht dramatisch, doch weil ich so abgemagert war, fiel es mir auf, als ich vor dem Spiegel stand. Es sah grotesk aus: der immer hagerer werdende Körper und dazu der wachsende Bauch, über den mittig die Narbe verlief.
Doch das war nur temporär, sagte ich mir. Ich würde das schaffen.
DENISE
Hendriks Anblick ließ mich nicht los. Ständig kreiste ein und derselbe Gedanke in meinem Kopf: So sehen Menschen aus, die sterben.
Ich wurde den Gedanken nicht los, ich wurde das Bild nicht los. Wie Hendrik da am Aufzug gestanden und auf mich gewartet hatte. So abgemagert, so ausgezehrt. Er hatte sich solche Mühe gemacht, mir Zuversicht zu geben. Hatte mich angestrahlt, mich zu beruhigen versucht und mir immer wieder versichert: Das wird!
Den Kindern erzählte ich, dass es ihrem Papa schon besser ginge und er bald wieder nach Hause käme. Sie wussten, dass er im Krankenhaus operiert worden war, denn es war ja klar, dass sie irgendwann die Narbe auf seinem Bauch entdecken würden. Ich sprach so positiv wie nur möglich darüber, denn ich wollte nicht, dass sie Angst vorm Krankenhaus bekamen. Natürlich vermissten sie ihn. Und sicher spürten sie auch, dass ich ihn vermisste.
Am schlimmsten war die Vorstellung, ihnen sagen zu müssen: Papa kommt nicht mehr, er ist tot. Der Gedanke war zersetzend, er packte mich jedes Mal wieder und trieb mir aufs Neue die Tränen in die Augen. Nachts war es am schlimmsten, da war ich nicht abgelenkt. Dann hielt ich die Sorge um ihn nicht mehr aus, brach in Tränen aus und weinte mein Kissen nass. Oder ich rief Randa an, sog die Wärme ihrer Stimme in mich auf.
Nachdem ich Hendrik gesehen hatte, konnte ich nicht anders, als ihr jede Einzelheit zu schildern. Die Haut, die so blass und durchsichtig war, dass man die Adern darunter sah. Der knochige Schädel. Die Ohren, die Zähne, die viel zu groß wirkten. Die Augen, die tief in den Höhlen lagen …
„Das ist doch nur eine Momentaufnahme“, unterbrach mich Randa. „Er hat eine schwere Operation hinter sich. Mit jedem Tag wird es ihm besser gehen. Das wird wieder.“
„Das hat er auch gesagt“, schluchzte ich. „Aber du hast ihn nicht gesehen.“
„Es braucht Zeit. Er wird bestimmt wieder so aussehen wie früher …“
„Aber es geht mir doch nicht ums Aussehen“, erwiderte ich. „Randa, er besteht fast nur noch aus Haut und Knochen. Er stirbt!“
„Du kennst Hendrik. Er ist stark, er wird sich mit jedem Tag etwas mehr erholen. Und dann wird er auch wieder zunehmen.“
Je mehr Randa mir versicherte, dass Hendrik es schaffen würde, desto mehr meldeten sich meine Zweifel zu Wort, als wollten sie sie vom Gegenteil überzeugen. Ich weinte, ich haderte, sagte immer wieder diesen einen Satz: „Randa, er stirbt.“
Irgendwann reichte es ihr.
„Hier stirbt niemand! Er hat es dir versprochen, und wenn er es dir versprochen hat, dann hält er das auch. Du kennst ihn doch!“
Es war das erste und einzige Mal, dass sie zickte. Und es half. Es half mir, mich wieder auf Hendriks Versprechen zu konzentrieren: Ich werde nicht sterben. Und daran hielt ich mich fest.