KAPITEL SECHSUNDSIEBZIG

Midge hielt ihr Kenneth gegebenes Versprechen. Sie bezahlte ihre Vermieterin bis zum Ende des Monats, zog aber bereits am nächsten Tag nach Dulwich. Obwohl Midge skeptisch war, ob es gut gehen würde, war sie von ihrer Mutter mit offenen Armen empfangen worden – vielleicht freute sie sich sogar, dass ihre Tochter sich in ihrem Elend doch noch an sie gewandt hatte. Zwei Wochen waren seitdem vergangen.

Rose Fawcett stellte während der ersten Tage keine Fragen und enthielt sich auch jeglichen Kommentars über die nun sichtbare Schwangerschaft von Midge, fragte nur, ob sie einen Arzt aufsuchen wolle. Es wurde überhaupt wenig gesprochen, was dem zarten Frieden zwischen den beiden genauso förderlich war wie kleine gemeinsame Rituale: Crumpets im Salon an trüben Abenden, morgendliche Gänge durch die Straßen – früh am Morgen, wenn alles ruhig war, Lesenachmittage, Seite an Seite. Midge hatte sich nicht vorstellen können, bei ihrer Mutter einen Zufluchtsort zu finden.

Aber in einem Punkt hatte sie recht behalten. Kenneth in Reading zu begegnen hatte alles schlimmer gemacht. Ihr ganzes Verlangen war dadurch wieder an die Oberfläche gespült, Erinnerungen an ihn aufgefrischt worden. Und es hatte widrige Hoffnung geweckt. Denn obwohl sie ihn angewiesen hatte, sich von ihr fernzuhalten, machte ihr Herz nun bei jedem Klopfen an der Tür einen Satz, und wenn sie das Haus verließ, dachte sie ständig daran, dass er ihr auf der Straße entgegenkommen könnte. Was er natürlich nicht tun würde, sagte sie sich. Dafür hatte sie gesorgt. Sie hatte ihn weggeschickt.

Einmal rief er an und sprach mit Rose, die ihm versicherte, dass Midge nun bei ihr war. Er habe erleichtert geklungen, wie Rose berichtete. Er habe Rose auch gebeten, Midge auszurichten, dass Foley tot und Delphine in Sicherheit war. Die Umstände, die dazu geführt hatten, erzählte er nicht, aber es waren großartige Neuigkeiten. Er hatte nicht gefragt, ob er Midge sprechen könne. Offenbar hatte er sie beim Wort genommen – oder beschlossen, dass er am Ende doch ohne sie besser dran war. Sie sollte eigentlich erleichtert sein, dass keine weiteren Gefühlsstürme mehr folgen würden.

Aber dann kam er doch. Rose führte ihn in den Salon und ließ die beiden allein. So viel Diskretion hätte Midge ihrer Mutter nicht zugetraut.

Als er ihren gewölbten Leib sah, der den Stoff ihres Kleids spannte, sah er sie voller Rührung an. »Oh, mein Liebling«, sagte er und eilte auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Sie erlaubte es sich, sich an ihn zu klammern, ihn mit jeder Pore ihres Körpers zu spüren. Helfen würde ihr das nicht, aber ihre Kraft, dem zu widerstehen, wonach sie sich so sehr sehnte, reichte nicht aus.

»Wann …?«, fragte er und zeigte darauf.

»In etwa einer Woche.«

»Es könnte den gleichen Geburtstag haben wie Blue.«

»Vielleicht.«

»Möchtest du nicht Platz nehmen, Midge, Liebste? Ich würde gern noch einmal mit dir sprechen und das besser hinbekommen als beim letzten Mal.«

Midge seufzte. »Na gut.«

»Als Erstes möchte ich etwas von dir hören. Ein paar Antworten. Als wir uns das letzte Mal trafen, hatte ich solche Angst, dich nicht zu finden, dass mir gar nicht in den Sinn kam, du könntest, wenn ich dich denn fände, nicht mit zurück nach Hause kommen. Die Erleichterung, dich zu sehen, dann der Schock, dass nichts dadurch gelöst war … nun, ich habe es nicht gut gehandhabt, und das Gespräch verlief … wie du selbst weißt.« Sein reuiges, jungenhaftes Lächeln brachte ihr Herz zum Schmelzen.

»Ich habe dir eine Menge Fragen gestellt und nicht wirklich die Antworten abgewartet. Jetzt würde ich dir gern zuhören, wirklich zuhören. Unter welchen Umständen würdest du wieder mit mir nach Hause kommen? Und warum, Midge, warum denkst du, ich liebe dich nicht? Warum konnte all das passieren? Ich werde nicht laut werden, ich werde mich nicht streiten. Ich möchte es nur verstehen.«

Anfangs brachte Midge kein Wort heraus. Ihre Gedanken hatten sich so lange ungeteilt im Kreis gedreht. Sich nun öffnen zu können war beängstigend. Erschreckend sogar. Was um alles in der Welt würde er von ihren kleinlichen, boshaften Überlegungen halten? Aber sie hatte schließlich nicht viel zu verlieren.

Also erzählte sie ihm alles, was sie seit den Anfangstagen ihrer Ehe belastet hatte: ihre schuldbeladene Überzeugung, ihn ausgenutzt zu haben, dass er sie nur geheiratet hatte, weil er verwirrt war, aber zu sehr Gentleman, um zuzugeben, dass er es bedauerte. Sie berichtete ihm, dass für sie jede hübsche junge Frau, die sie an Audra erinnerte, eine Bedrohung darstellte und dass sie immer das Gefühl hatte, anders zu sein als diese. Versuchte zu erklären, wie würdelos sie sich vorkam, als Frau mit fünfundvierzig Jahren noch immer eifersüchtig und sich ihrer Liebe nicht sicher zu sein, wobei sein grenzenloser Charme, seine Freude am Flirten und sein unglaublich gutes Aussehen es ihr nicht einfacher gemacht hatten. Wie abscheulich sie sich während ihrer Schwangerschaft und wie nutzlos und dumm sie sich danach gefühlt hatte, verschwieg sie genauso wenig wie ihre übergroße Angst, durch diese unerwünschten Eigenschaften seine Wertschätzung zu verlieren.

Während die Augustsonne das Haus umkreiste und der Fleck gelber Wärme auf dem Teppich von einer Seite des Zimmers auf die andere zog, erzählte sie ihm alles so ausführlich wie möglich. Als sie fertig war, saß er still da und nickte und sah aus, als würde er nachdenken. Er hielt ihre Hand, wie sie erst jetzt bemerkte.

»Du sollst wissen, dass ich bei allem, was du mir erzählt hast, sehr genau hingehört und es, wie ich glaube, in mich aufgenommen habe«, sagte er. Sie nickte. So fühlte es sich an. »Mir ist, als hättest du mir eine traurige Geschichte über einen anderen Mann erzählt, der, von Trauer gequält, überstürzt geheiratet hat, um das später zu bedauern, als ihm klar wurde, dass er diese Frau, wenn er seine Sinne beisammengehabt hätte, nie geheiratet hätte. Und dieser Irrtum führte dann für beide zu allen möglichen Problemen.«

Midge nickte wieder. So ließ es sich zusammenfassen.

»Darf ich – wobei ich deine Version der Ereignisse voll und ganz akzeptiere, meine Liebe – darf ich anmerken, dass ich in diesen Charakteren weder dich noch mich wiederfinde. Darf ich dir sagen, wie es für mich gewesen ist?«

Midge schauderte es. Das war nun ganz ehrlich das Letzte, was sie hören wollte, aber wie konnte sie ihm die Gelegenheit verwehren, seine Wahrheit offenzulegen, wo sie selbst sich ihm gerade offenbart hatte? »In Ordnung«, sagte sie kleinlaut.

»Den Prolog zu dieser Geschichte kennst du«, begann er. »Es gab einen Mann, der außer sich vor Kummer war. Er hatte seine Frau verloren, die er sehr geliebt hatte, genau, wie du sagtest. Aber in dieser Außer-sich-vor-Kummer-Phase befand er sich, bevor er das fremdartige und reizende Geschöpf namens Margaret Fawcett kennenlernte. Als er – ach lassen wir das, als ich dich kennenlernte, Midge, war ich nicht mehr außer mir. Natürlich litt ich noch, aber ich war wieder Herr meiner selbst. Manchmal war ich noch ein wenig benommen, weshalb ich nicht sehr aufmerksam war. Ich bekam einiges nicht mit.

Der verbliebene Schaden hätte vermutlich noch einer sehr langen Heilungsphase bedurft, hätte ich dich nicht kennengelernt. Das Licht kam zurück in meine Welt. Was in mir gefroren war, begann zu schmelzen. Und ich mochte dich. Mochte dich sehr. Du warst eine freundliche, intelligente attraktive Frau mit grenzenlosem Mitgefühl für andere, und unsere Gespräche wurden nie langweilig. Du warst jemand, den ich unter allen Umständen gemocht hätte, Midge. Im Lauf der Zeit kamen wir uns näher, und aus Mögen wurde Lieben. Hatte ich dich vorher attraktiv gefunden, entdeckte ich jetzt deine Schönheit.«

Midge zog die Augenbrauen hoch. Schönheit?

Er nickte. »Wir wurden intim, als wir noch nicht verheiratet waren, und ja, das störte mich. Ich bin altmodisch, weißt du. Aber hätte ich dich geheiratet, nur um mich als Gentleman zu erweisen? Du liebe Güte, Midge, wenn du das denkst, hast du mich leider auf ein Podest gestellt. Niemals hätte ich dich geheiratet, wenn ich das nicht gewollt hätte. Und nein, du bist nicht Audra. Aber versteh doch, das ist keiner. Christie Dawson-Hobbs war nicht Audra, keine der Frauen, derentwegen du in Sorge warst, waren sie. Aber keine von ihnen ist auch du. Du und Audra, ihr seid sehr verschieden, aber ihr habt eins gemeinsam, ihr seid beide einzigartig und nicht ersetzbar. Die Liebe ist nicht endlich – das weißt du! Meine Vergangenheit mit Audra hält mich nicht davon ab, auch dich zu lieben. Ich habe dich geheiratet, weil du die einzige Frau warst, mit der ich mir damals ein gemeinsames Leben vorstellen konnte, und ich wollte dieses Leben! Will es noch immer.« Seine Miene war angestrengt im Bemühen, die richtigen Worte zu finden, sein Innerstes zu offenbaren, und Midge hätte sich ihm am liebsten gleich in die Arme geworfen. Aber sie blieb steif sitzen, es gab noch mehr zu sagen.

»Wenn es eines gibt, was ich bedauere, dann, dass wir zu früh geheiratet haben«, fuhr er fort, »weil du in all den Jahren offenbar nicht das Gefühl hattest, auf einem festen Fundament zu stehen. Aber ich wusste damals nicht, dass du das so empfandst. Das gehörte zu den Dingen, die ich nicht mitbekommen habe wegen meiner Benommenheit. Heute wünschte ich mir, wir hätten noch ein Jahr gewartet, dann hättest du dich davon überzeugen können, dass ich nicht außer mir war und nicht aus Pflichtgefühl um deine Hand angehalten habe. Das ist das Einzige, was ich ändern würde.«

Midge sah ihn stirnrunzelnd an. »Aber warum hast du dann keine Gelegenheit zum Flirt ausgelassen? Das hat sich bis heute nicht geändert. Ich nahm immer an, du verhältst dich aus Unzufriedenheit mit mir so, weil ich Audra nicht das Wasser reichen kann.«

»Oh nein, Midge, da liegst du völlig falsch. Ganz ehrlich weiß ich selbst nicht, warum ich mich so verhalte. Audra hat gern geflirtet, verstehst du. Oh, sie war mir treu ergeben, und es war alles harmlos, aber sie flirtete. Und ich flirtete auch. Aber das ließ uns nie auch nur einen Moment aneinander zweifeln. Als wir uns kennenlernten, waren wir beide noch sehr jung, weißt du. Wir führten jene junge, sorglose, bezaubernde Ehe, von der du dachtest, ich würde gern immer noch so leben. Es war ein Muster, das ich gelernt hatte, mehr nicht. Mir ist nicht bewusst gewesen, wie anders du in dieser Hinsicht warst, was dieses Flirten in dir auslöste. Jetzt komme ich mir wie ein Narr vor, aber das war einfach ein blinder Fleck. Wieder etwas, das womöglich anders gewesen wäre, wenn wir mit dem Heiraten gewartet hätten. Dann wären die Stellen in mir, die noch immer taub waren, wahrscheinlich aufgetaut, und ich wäre sensibler für dich gewesen. Es tut mir leid, dass ich das nicht gespürt habe.«

Midge bebte am ganzen Leib, als sie ihn ansah. Hatte er sie wirklich geliebt? Es nie bedauert oder sein Verlangen auf eine andere gerichtet? Hatte sein Herz immer ihr gehört? Einen verblendend schönen Augenblick lang glaubte sie ihm und verstand, dass sie geliebt wurde. Dann fiel ihr Percy ein, und der Moment schlüpfte ihr wieder durch die Finger. Sie hatte es zerstört, hatte völlig grundlos diese schrecklichen Dinge getan. »Aber Percy, der süße Percy …«, flüsterte sie und begann zu weinen.

»Sch, sch«, sagte er, wischte ihr mit seinem Handrücken über die Augen und hielt sie fest, als wollte er ihr Kraft geben. »Es kommt noch mehr. Fünf Jahre lang lebte ich mit dir, Midge Camberwell, und du warst für mich alles, was ich mir von einer Ehefrau wünschte. Ich habe nie eine so liebevolle, so leidenschaftliche, so intelligente Frau gekannt, und du hast meinen Töchtern dein Herz wie eine Seerose geöffnet. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen, unser gerüttelt Maß an Streitereien und unerklärlichen Stimmungsschwankungen, aber ich dachte ernsthaft – und vielleicht macht mich das wahrhaftig zum unaufmerksamsten Menschen in Surrey –, dass dies in einer Ehe normal ist. Wir erlitten auch eine schreckliche Tragödie, als wir unseren Sohn verloren.

Und dann warst du plötzlich eines Tages verschwunden. Und ich erfuhr, dass wir unseren Sohn gar nicht verloren hatten, sondern dass du ihn weggebracht und vor mir versteckt und ein ganzes Gebäude aus Lügen um jenen Tag in Esher errichtet hattest. Sieh mich an, Midge.«

Sie sah ihm ängstlich in die Augen. »Das war schrecklich«, meinte er leise. Sie nickte. Es war fast eine Erleichterung, ihn das sagen zu hören. »Du hast etwas Schlimmes getan, Midge. Etwas sehr Schlimmes.« Sie nickte wieder.

»Eine Weile hielt ich das für unverzeihlich. Dessen war ich mir ganz sicher. Ich war wie ein wütendes Tier und fragte mich ständig, wie ich mit einer derart grotesken Wende der Ereignisse umgehen sollte. Aber du kennst mich ja, Midge? Ich bin nicht der Typ, der in Zorn gerät und dann allem gegenüber blind ist. Tief drin wusste ich immer, dass du keine böse Frau bist. Warum also hast du es getan? Was war mein Anteil daran? Habe ich dich irgendwie dazu getrieben? Ich sprach mit Elf, und er gab mir was zu lesen – über postpartiale Störungen bei Frauen. Weißt du noch, als Delphine …?«

Midge hielt die Luft an. »Oh, Delphine! Ist sie wirklich sicher, Kenneth? Ist es wirklich vorbei, wie Mutter meinte?«

»Voll und ganz, Gott sei Dank. Aber lass uns jetzt erst auf uns konzentrieren, Liebling. Ich hoffe, ich habe Gelegenheit, dir diese Geschichte an einem anderen Tag zu erzählen.

»Erinnerst du dich, als wir uns wegen Delphine über die Kriegsfolgen unterhalten haben, unter denen die zurückgekehrten Soldaten leiden? Dass sich einige ihrer ungewöhnlichen Verhaltensweisen mit den Auswirkungen der traumatischen Erlebnisse auf das Nervensystem und das Gehirn erklären lassen? Das fand ich faszinierend, wie du weißt. Es führte mich zu der Überlegung, was das für ein Gefühl sein muss, wenn die eigene Persönlichkeit durch äußere Umstände verändert wird, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Nach allem, was ich im Krieg erlebt habe, fällt es mir nicht schwer nachzuvollziehen, wie das geschehen kann.«

Sie neigte sich ihm zu und küsste ihn – sie konnte nicht anders.

Er lächelte, drückte ihr einen Kuss auf den Hals, ließ sich ansonsten aber nicht ablenken. »Nicht ganz so einfach ist es für mich, eine Frau zu verstehen, mir auszumalen, wie es sein mag, wenn der Körper – und ich könnte mir denken, auch das Gehirn – für eine Weile fremdbestimmt wird! Aber du glaubst doch wohl nicht, dass ich mir die Mühe mache, leidende Soldaten zu verstehen, aber nicht meine eigene Ehefrau? Wohl kaum. Ich sage dies nicht, weil ich ein Gentleman bin, Midge, aber es kommt mir auch nicht leicht über die Lippen: Ich habe lange und intensiv nachgedacht und halte dich immer noch für die wunderbare Frau, in die ich mich verliebt habe, und gehe davon aus, dass es für das, was du getan hast, viele Gründe gab, die sich zum Teil deiner Kontrolle entzogen. Natürlich musst du dafür die Verantwortung übernehmen. Aber Verantwortung ist nicht gleichzusetzen mit Selbstgeißelung, meine Liebe. Letzteres hilft keinem von uns weiter. Also bin ich hier, um mein Flehen zu bekräftigen. Ich möchte nach wie vor, dass du nach Hause kommst. Das ist meine Geschichte, Midge.«

Midge begriff gar nichts mehr. Die Sonne fiel ihr jetzt direkt ins Gesicht und trocknete ihre Tränen so schnell, wie sie fielen. Als Kenneth sie in seine Arme zog, schmolz sie dahin. Sie spürte sein Herz rasen, die Verletzlichkeit unter seiner Stärke. Er hielt sie lange schweigend fest, und sie glaubte fast, so einschlafen zu können, denn es war so friedlich, am Ende der Worte angekommen zu sein, am Ende dieser langen, dunklen Straße, auf der sie unterwegs gewesen war.

»Du musst … du bist der bemerkenswerteste, hochherzigste Mensch auf der Welt«, seufzte sie.

»Zweifellos.«

Sie wollte lächeln, aber … »Percy«, flüsterte sie.

Er nickte und lehnte sich zurück. »Percy«, bestätigte er. »In Reading sagtest du, einer deiner unmöglichen Wünsche sei es, dir selbst zu vergeben. Nun, das ist vermutlich wirklich unmöglich, ich weiß es nicht. Aber Liebling, ich habe dir noch etwas zu erzählen, sofern du es hören möchtest. Ja? Also, ich habe das Kinderheim gefunden, wo du ihn abgelegt hattest, und es gelang mir zu erfahren, wo er untergekommen ist. Ich ging unter einem fadenscheinigen Vorwand dorthin und habe ihn gesehen. Er ist ein wunderschöner Junge und glücklich. Es brach mir erneut das Herz, unser Kind zu sehen, ohne Ansprüche auf ihn geltend machen zu können. In dieser Hinsicht möchte ich dich nicht belügen, Midge.

Wie verhält man sich in einer Situation wie dieser? Darauf habe ich keine Antworten. Aber können wir das bitte zusammen beschließen? Wir wissen jetzt wenigstens, wo er lebt und dass es ihm gut geht. Die Familie, bei der er aufwächst, ist wohlhabend und offenherzig, und er bekommt dort bestimmt das Beste von allem. Es wäre nicht rechtens, ihn dort herauszureißen, Midge. Aber wenigstens ist er nicht tot! Er leidet nicht. Das ist mehr, als wir vorher hatten.«

Sie nickte. »Aber so viel weniger, als du verdienst.« Sie hatte immer gewusst, dass Percy nicht tot war, allerdings nicht gewusst, wo er war, wie er lebte, ob er glücklich war … Sie seufzte.

»Ich habe überlegt, ob wir den Leuten nicht sagen sollten, wer wir sind«, fuhr er fort. »Wobei wir ihnen natürlich versichern, dass wir nicht versuchen werden, ihn zurückzubekommen, sie aber bitten könnten, uns gelegentlich ein Foto zu schicken und hin und wieder über seine Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Ohne das mit dir abzusprechen, könnte ich gar nichts unternehmen, Midge, aber sofern wir uns dafür entscheiden, denke ich, dass wir es mit vernünftigen Menschen zu tun haben.«

»Und später, wenn er volljährig ist, könnten wir ihn vielleicht auch eines Tages treffen«, meinte Midge grübelnd. Ihre ganze Welt begann sich wieder zu drehen. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Aber leicht würde es sicherlich nicht werden nach einem so dunklen und verzweifelten Durcheinander.

»Einfach ist das nicht, Liebling.« Er lächelte, als würde er ihre Gedanken lesen. »Aber ich denke, im Moment zählt nur, dass wir eine Entscheidung darüber treffen, was wir wollen, und dann danach handeln. Wir werden zu Percys neuer Familie gehen und mit ihr sprechen. Das verspreche ich. Irgendwie werden wir einen Weg finden, der uns weiterbringt.«

»Vermutlich hat mein Gefühl, dass unsere Hochzeit irgendwie unlauter war«, teilte sie ihm schließlich flüsternd mit, »den Ton unserer ganzen Ehe bestimmt. Auf dieser Grundlage war es nicht schwer, so weiterzumachen und noch weitere Unredlichkeiten anzuhäufen. Wie konnte ich nur einen so großen Wirrwarr anrichten? Wie konnte ich dich so sehr missverstehen?«

Er lächelte traurig. »Du hattest vorher noch nie eine Liebesbeziehung, oder, Liebling? Gewiss nicht mit einem so komplizierten Kerl wie mir«, frotzelte er. »Was wusstest du schon?«

»Offenbar sehr wenig«, murmelte Midge. »Nun, eigentlich gar nichts. Aber Kenneth, was ist mit Blue und Merrigan? Und all denen, die sonst noch Bescheid wissen? Elf? Unsere Freunde? Du magst mir verzeihen, aber können sie das auch? Ich kann doch nicht einfach in unsere Welt zurückkehren und so weitermachen, als wäre nichts passiert? Oh, die lieben, lieben Mädchen. Ich habe mich so sehr bemüht, für sie alles richtig zu machen, aber in der wichtigsten Sache habe ich ihnen großes Leid zugefügt.«

»Ja«, sagte er und sah ihr unverwandt in die Augen. »Das hast du. Aber das ist geschehen. Wirst du es wieder tun? Das bezweifele ich sehr. Du kennst unsere Mädchen, Midge. Ihre Herzen sind mehr als groß. Sie lieben dich. Sie vermissen dich. Sie wünschen sich dich mit aller Macht zurück.«

»Und Elf?«

»Denk doch an seinen Beruf, Liebling. Er meinte außerdem zu mir, dass er wohl kaum eine Meinung zu Eheproblemen haben könne. Er lebt in einem Schuppen am Ende des Gartens. Er ist sehr weise, unser Elf, hat aber viel zu große Angst, diese Weisheit zu nutzen, um sein Leben zu verändern. Aber du bist da anders, Midge, und ich auch. Wir beide mühen uns ab, springen ins kalte Wasser, machen Fehler, versuchen, sie zu korrigieren, und machen sie nur noch schlimmer. Aber genau das macht gelebtes Leben aus.«

»Sind wir so, Liebling? Couragiert?«

»Ja«, sagte er bestimmt. »Denn dieses Gespräch war nichts für Zartbesaitete! Und was unsere Freunde betrifft … die Wahrheit habe ich nur den wenigsten erzählt. Nur Delphine und die Greenbows wissen Bescheid. Und Tab. Und ich brauche dir wohl nicht zu versichern, dass sie dich alle trotzdem lieben.«

Midge starrte ihn an. Systematisch demontierte er nach und nach jeden ihrer Einwände. »Und wo, glauben sie alle, halte ich mich auf?«

»Ich habe erklärt, dass du aufgebrochen bist, um dich um eine entfernte Cousine zu kümmern, die krank geworden ist. Ich wollte nicht, dass alle es erfahren – Menschen, die es womöglich nicht verstehen können. Du siehst also, Liebling, es gibt überhaupt keinen Grund, warum du nicht nach Hause kommen und wieder bei uns sein und einen Elektroherd bestellen kannst.«

Midges Anspannung, Erleichterung, Fassungslosigkeit und Hoffnung entlud sich in einem heftigen Lachanfall. Sein mangelnder Ernst hatte sie immer belustigt und gequält. »Oh, Kenneth. Der verdammte Herd! Diese ganze Renovierungswut –, es tut mir so leid. Ich denke, ich habe damit versucht, uns einen Neuanfang zu ermöglichen.«

»Nun gut!« Er ergriff ihre Hand und sah ihr in die Augen.

Und in diesem Moment spürte sie, wie ihre Liebe zu ihm sich veränderte, so wie zuvor die Wahrnehmung seiner Liebe zu ihr. Sie hätte schwören können, dass sie spürte, wie sie sich hier und jetzt verlangsamte und vertiefte. Ihre alte Liebe war ein Waldbrand gewesen, diese neue könnte eine Eiche sein.

»Du hast einen guten Anfang gemacht«, ergänzte Kenneth ernsthaft, »aber jetzt sitze ich auch mit im Boot für den Neuanfang. Lass es uns angehen, Midge. Gib uns jetzt nicht auf. Ich will dich zurück. Die Mädchen wollen dich zurück. Aber das Wichtigste an der ganzen Sache ist die Frage, ob auch du es willst. Ob du dich dafür entscheidest, es auch zu wollen. Willst du, Midge?«