Mädchen war bis zu den Schienbeinen blutüberströmt, und ihre Hände glänzten rot vor der weißen Eisdecke. Obwohl sie um Krumm trauerte, hatte sie doch Hunger. Ihr Bruder Er hielt den Huf der Bisonkuh fest, damit Mädchen den ersten Schnitt machen konnte. Sie platzierte ihren Steinzahn, einen Faustkeil, den Große Mutter hergestellt hatte, an den Hufansatz, wo das Fell begann. Sie lehnte sich darauf, drückte die Klinge in den Pelz und schlitzte ihn auf. Das Werkzeug war scharf, der Schnitt sauber. Sie zog das Fell hoch bis zum Knie des Bisons, wo rot das erste Fleisch leuchtete. Vorsichtig schnitt sie die Sehne an der Rückseite des Beins ab und achtete darauf, sie in einem Stück zu lösen, da sie eingeweicht, getrocknet und geflochten werden sollte, um als Riemen genutzt zu werden.
Als nächstes schnitt sie mit dem Faustkeil hoch bis zur Brust. In der Herzgegend war das Fell besonders dick. Mädchen keuchte und schnaufte vor lauter Anstrengung. Das meiste Fleisch, das sie verzehrten, wurde vorher gekocht, aber es war Brauch, die ersten Bissen von einem frischen Kadaver roh zu essen. Die Wärme des Fleischs erfüllte sie mit Freude. Mädchen würde jedem von ihnen ein Stück abschneiden, bevor sie das Fleisch weiterverarbeiteten.
Ihr Bruder spannte das Fell mit beiden Händen, damit sie leichter schneiden konnte. Als er Mädchens starke, blutverschmierte Hände sah, spürte er einen Stich im Herzen. Er schnüffelte und bewunderte ihre kräftigen Rückenmuskeln. Sie hatte ihren Umhang abgestreift, und ihre nackte Haut kam ihm vor wie das weichste Leder, das er je gesehen hatte.
Als Mädchen geboren wurde, war sie eine winzige dunkelrosa, zusammengekrümmte Kreatur gewesen. Sie hatte ganz anders gerochen, als sie jetzt roch, und er hatte sich kaum für sie interessiert, obwohl er ihr manchmal das Essen gestohlen hatte. Einmal, als sie nur wenige Jahre alt war, hatte sie in ihrem kleinen Fäustchen ein Stück getrockneten Baumsirup gehalten, eine besondere Leckerei. Er hatte aufs Feuer gezeigt, damit sie dort hinsah. Als sie das tat, hatte er ihr lachend das Stück Sirup entrissen und war damit weggegangen, weil er dachte, sie könnte nichts dagegen machen. Er lutschte gerade daran und starrte in die Bäume, als ein winziger Fuß aus dem Unterholz hervorschnellte und ihn zum Stolpern brachte. Ehe er sich’s versah, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Er spuckte den Dreck aus, den er im Mund hatte, und blickte auf seine Hand. Kein Sirup mehr. Die meisten Kinder wären geblieben, um ihn aufzuziehen, aber Mädchen war wohl eher darauf erpicht, die Beute zu sichern. Er hatte sie nicht mal fliehen sehen.
Jetzt war Mädchen groß und stark geworden. Ihre Gliedmaßen waren schnell, und ihre Gedanken schienen ihrem Körper vorauszueilen. Alle in ihrer Nähe wollten sie schützen, woran man merkte, sie war wichtig. Mit ihren Instinkten würde Mädchen eindeutig eine der besten Jägerinnen werden. Der Jagdinstinkt war eine Eigenschaft wie rotes Haar oder eine große Nase: Entweder man hatte ihn oder man hatte ihn nicht. Allerdings konnte man diese Fähigkeit auch durch sorgfältiges Beobachten und Zuhören verbessern. Mädchen konnte die Geschichten von Große Mutter mit dem verbinden, was sie beobachtete. Sie hatte die seltene Gabe, alles was sich veränderte, und alles, was gleich blieb, zu berücksichtigen.
Jetzt spürte Er, wie ihm vor lauter Vorfreude auf das Fleisch das Wasser im Mund zusammenlief. Und dieses Gefühl, sein verzehrender Hunger und die Lust zu essen, vermischte sich mit dem Anblick seiner arbeitenden Schwester. Als er schnüffelte, wurden seine Sinne überwältigt vom Kadaver, dem Rauschen des Flusses, dem Dampf, den das tote Tier in die kalte Luft abgab. Dem Fleisch. Gleich würde er essen. Während er zusah, wie sich Mädchens Muskeln unter ihrer Haut bewegten, wie ihre Arme fuhrwerkten und ihre Beine sich spannten, vermischte sich alle Ehrfurcht, aller Respekt vor ihrer Stärke und Tüchtigkeit mit seinem Appetit. All seine Begierden und der starke Drang eines Körpers, sich zu füllen, kamen zusammen. Mädchen wurde der Inbegriff all dessen.
Er sah nur noch Mädchen, aber dann hörte er einen dumpfen Aufprall. Vor seinen Augen blitzte ein helles Licht auf, und sein Kopf wurde zurückgeschleudert. Er verlor das Gleichgewicht und fiel aufs Eis. Als er die Augen öffnete und sich aufsetzte, sah er, dass Mädchen ihn überrascht und besorgt anblickte. Dann drehte sie sich um und schaute hinter sich.
Es war Große Mutter, die auf dem Eis stand. Sie hatte Er ertappt, wie er Mädchen anstarrte. Vielleicht hatte sie seine Gedanken gespürt, denn sie hatte einen Stein auf ihn geworfen, um ihn zu warnen. Jetzt hatte sie noch einen Stein in ihrer knorrigen Hand, bereit, Er damit zu bewerfen. Sofort senkte Er den Blick. Er rieb sich die Stelle an der Stirn, um zu zeigen, dass sie wehtat, und auch, um zu sagen, dass ein zweiter Stein nicht nötig war. Auch wenn Große Mutter alt war, konnte sie immer noch großartig werfen. Mädchens Aufgabe war es, am Treffpunkt beim Fischsprung eine neue Familie zu finden. Seine war es, sie nicht anzurühren.
Ein anderes Geräusch. Diesmal kam es von Mickerling. Der kleine Junge hatte sich so weit dem Kadaver genähert, wie er es wagte. Mit gesenktem Blick blieb er nun einen Schritt vom Huf des Bisons entfernt stehen und starrte so intensiv darauf, als könnte ihm dieser Huf die Erlaubnis erteilen, ihn anzufassen. Da wandte Er dem Jungen den Rücken zu.
Mädchen sah, dass Mickerling sich immer noch als Neuankömmling betrachtete, weil ihm die Finger zitterten. Er war noch nicht mal einen vollen Kreislauf der Jahreszeiten bei ihnen und wusste nicht genau, wo sein Platz war. Nach der Jagd war er sich unsicher, ob und wann er etwas abbekommen würde. Vor lauter Unruhe roch sein Atem ziemlich übel. Er starrte unentwegt durchdringend aufs Eis. Mädchen schnalzte mit der Zunge und hielt ihm das Fleisch direkt unter die gesenkten Augen, damit er es sehen konnte. Zuerst reagierte er nicht, sondern schien ungläubig auf ihre Hand zu blicken, als bildete er sich die dicken Finger mit den schartigen, blutüberströmten Nägeln nur ein.
Dann aber kam Leben in ihn. Er umklammerte mit beiden Händen das Fleisch und bohrte seine Schneidezähne hinein. Knurrend riss und zerrte er daran, bis sich ein Bissen davon löste. Mädchen wusste nicht mal, ob er ihr entzücktes Lachen hörte, das die Luft über dem Eis kurz kräuselte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Bissen Fleisch, das in seinen Mund glitt. Der Saft kam an seine Zunge. Es war eines der besten Fleischstücke, aus der fetten Herzgegend, und davon hatte er bislang nie kosten dürfen. Er schloss die Augen und nahm die Wärme in sich auf.
Und weil Mickerling die Augen geschlossen hatte und Mädchen ihn so entzückt beobachtete, sah keiner von beiden Er kommen. In dem einen Augenblick schwelgte Mickerling noch im Geschmack des Bluts, im nächsten jedoch setzte er sich hart auf sein Hinterteil. Überrascht riss er die Augen auf. Mädchen zuckte zurück. Viel zu nah stand Er an dem Jungen. Mit grimmiger Miene entriss er Mickerling das Stück Fleisch. Der Junge duckte sich, schirmte mit den Händen die Augen ab, weil die Erinnerungen an einstige Misshandlungen noch frisch waren, und drehte den Kopf weg, um den nächsten Schlag nicht kommen zu sehen.
Aber Er schlug ihn kein zweites Mal. Mickerling war der Mühe nicht wert. Da es Fleisch im Überfluss gab, überließ Er dem Jungen ein Rippenstück, das er mit seinem Faustkeil abbrach. Das war immer noch ein gutes Stück, und Mickerling senkte klug den Kopf und grunzte dankbar. Dann trollte er sich, um im Schutz eines Felsens zu essen.
Mädchen wollte Er schon finster anstarren, hielt aber inne, als sie sah, dass Große Mutter langsam näher kam. Die beiden unterbrachen ihr kleinliches Gezanke und senkten die Köpfe, als sie heranschlurfte.
»Hom«, brummte sie und schnaubte.
Jetzt duckte sich Mädchen und senkte noch mehr den Blick, als die alte Frau zu ihr kam. Es war Brauch, dass Große Mutter entschied, wie sie jagen würden und wie das Fleisch verteilt werden sollte. Vor den Winterstürmen, die dieses Jahr besonders lang und hart gewesen waren, wäre es jedenfalls so gewesen. Doch in diesem Frühling war Große Mutter sichtlich geschrumpft. Es schien, als hätte Mädchens Körper runde Muskeln und Brüste bekommen, um den Raum auszufüllen. An der Haltung von Große Mutter war zu erkennen, dass sie an Mädchens Verhalten Anstoß nahm. Sie hatte die Augen leicht zusammengekniffen und blickte Mädchen über ihre breite Nase hinweg an.
Mädchen musste zeigen, dass sie immer noch wusste, wo ihr Platz war. Wenn sie die Autorität der alten Frau in Frage stellte, konnte das zum Kampf führen. Und das war das Letzte, was Mädchen wollte: mit der alten Frau kämpfen, die sie liebte und aufgezogen hatte. Zwar war Große Mutter im Alter milder geworden, doch konnte sie manchmal immer noch wütend aufbrausen. Das war der Grund, warum sie so lang über die Familie hatte bestimmen können. Sie war in der Lage, alle Gefühle beiseitezuschieben, um, wenn nötig, ihre Stellung zu behaupten. Daher bemühte sich Mädchen jetzt, sich so klein und unbedrohlich wie möglich zu machen. Sie schlang die Arme um die Rippen und drückte ihre Brüste nach unten. Aber da Mädchen jetzt die Hitze hatte, wusste sie, dass Große Mutters Misstrauen vielleicht noch größer war.
Möglicherweise fand Große Mutter, Mädchen hätte sich benommen, als wäre es ihre Jagd gewesen. Von ihrer Zuflucht zwischen den Baumwurzeln aus hatte sie vielleicht nicht gesehen, was im engen Tunnel geschehen war. Glaubte sie, Mädchen hätte Krumm befohlen, sich auf die Bisonkuh zu stürzen?
»Ne, boh.« Mädchen schnaubte wie ein Bison und schwenkte den Kopf hin und her, um zu zeigen, dass sie demütig und eingeschüchtert war. Das Bison zu töten, das Blut des Kalbs zu trinken und die ersten Schnitte zu machen gebührten demjenigen, der die Jagd anführte. Ohne nachzudenken, hatte sie das Vakuum gefüllt und diese Aufgaben übernommen.
Große Mutter blieb neben den Hufen stehen und starrte Mädchen finster an. Mickerling kam, um Mädchens Hand zu ergreifen, aber sie schob ihn rasch weg. Dies ging den Jungen nichts an. Mädchen erfasste den Körper ihrer Mutter mit einem Blick und spürte, wie ihr Inneres erzitterte. Sie fragte sich, ob der Berg wackelte oder das Eis brach, aber es waren nur die Vorboten ihrer Handlungen, die sich ihren Weg bahnten. Sie spürte ihre Lippen zittern, und dann erst wusste sie, was als Nächstes kommen würde. Langsam ging sie zu der alten Frau und kniete sich mit gesenktem Kopf vor ihre Füße. Dass sie Kopf und Nacken direkt in Reichweite eines anderen Körpers brachte, hieß: Du kannst alles mit meinem Körper machen, was du willst.
Mädchen starrte auf das Eis und die Füße ihrer Mutter. Die alte Frau hatte Bisonfelle um die Fußsohlen gebunden, die sie vor der beißenden Kälte schützen sollten. Ihre Haut war so dünn, dass sie fast durchscheinend wirkte, und hing schlaff an ihrem Körper. Ihre Fußnägel waren so dick wie Baumrinde. Die Schwielen an ihren Zehen und Fersen erinnerten eher an Stein als an Haut. Mädchen hatte diese Füße schon freundlich erlebt, aber sie hatte auch viele Tritte von ihnen abgekommen. Jetzt spürte sie die Hand von Große Mutter auf ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen und hielt den Atem an. Die Hand drückte gegen ihr dichtes Haar.
»Hom«, brummte Große Mutter und schnaubte.
Sie presste ihre Hand fest auf Mädchens Kopf und behielt sie dort, sandte mit dem Druck die Botschaft, dass die Entscheidung noch ausstand. Dann, nach einer Weile, setzte sich die alte Frau und schnalzte einmal mit der Zunge. Sie wollte, dass Mädchen sie fütterte.
Mädchen setzte sich in Bewegung. Sie nahm ein Stück vom fettesten Fleisch aus der Herzgegend. Als Erstes steckte sie der alten Frau ein Stück vom weichsten, weiß marmorierten Fett in den Mund. Als Nächstes kaute sie ein Stück Fleisch vor und achtete darauf, den Saft nicht auszusaugen. Sie kniete neben Große Mutter und half ihr zu essen. Vergebung wurde zuerst im Magen gespürt.
Das Gleichgewicht in der Familie mochte gestört sein, aber Mädchen war jung. Sie wusste noch nicht, dass sie sich etwas Unmögliches wünschte. Es war ein neues Gefühl, so frisch wie das warme Fleisch, das sie kaute. Obwohl Große Mutter offensichtlich schwach war, wollte Mädchen, wie so viele ihrer Art, dass alles beim Alten blieb. Während sie die gebrechliche Frau fütterte, erlaubte sie sich einen Anflug von Hoffnung. Sie wollte den anderen zeigen, dass sie noch nicht die Verantwortung übernahm. Sie würde noch jung bleiben. So durfte sie vielleicht – trotz ihrer Hitze – in der Familie bleiben.