Krumm fehlte ihnen noch mehr, als sie mit der mühsamen Arbeit anfingen, den Kadaver zu zerlegen und das Fleisch zu der nahe gelegenen Höhle bei ihrer Frühlingshütte zu bringen. Mädchen befürchtete, dass sie auf dem Weg hin und zurück von Fleischfressern angegriffen werden könnten. Ihr Bruder wollte beim Kadaver eine Schutzhütte aufstellen und dort lagern, aber Große Mutter war dagegen, da ihnen zu dieser Jahreszeit das Eis wegschmelzen konnte. Sie entschied, dass das Fleisch zur Höhle gebracht wurde, und zeigte dies, indem sie sich sofort in Marsch setzte. Mädchen versuchte, ein lautes Stöhnen zu unterdrücken, obwohl sich Trauer und Erschöpfung wie eine schwarze Kugel in ihrer Brust zusammenballten. In der Höhle konnte sie sich wenigstens ausruhen. Sie würden innerhalb der sicheren Felswände das Fleisch in einem großen Fest zurechtschneiden und essen.
Im Lager verstaute Mädchen das Fleisch, das sie nicht sofort verzehren würden, in ihrem Vorratsspeicher. Sie hatten dafür Gruben gegraben, die bis tief in den gefrorenen Boden reichten. Mickerling und Krumm hatten sie mit Steinen ausgekleidet. Jetzt verstaute Mädchen das Fleisch in den Gruben, legte mehr Steine darauf und goss Wasser aus einem Ledersack darüber. Das Fleisch würde schnell gefrieren und so lange haltbar sein, wie es kalt blieb. Sollten sie etwas davon essen, würden sie heißes Wasser darüber gießen und es auftauen. Wenn sie Fleisch auf einem Baum lagerten, wickelte Mädchen sorgfältig große Blätter um den Stamm, damit die Eichhörnchen nicht daran hochklettern konnten. Allerdings würden sie es dennoch immer wieder versuchen. Dies war ein Grund für Große Mutters Treffsicherheit. Sie konnte sie aus einer Entfernung von zehn Bisonschritten mit einem Stein am Kopf treffen.
Krumm hätte mit wurfbereitem Speer auf sie aufgepasst, jederzeit bereit, Alarm zu schlagen, während Er das Tier zerlegte und Mädchen die Fleischstücke zur Höhle brachte. Krumm wäre mit Große Mutter und Mickerling zum Lager zurückgegangen und hätte die Umgebung geprüft, während sie in der Höhle arbeiteten. So hingegen mussten sie selbst immer wieder ihre Arbeit unterbrechen und sich umschauen, während sie das Fleisch für die Dörrgestelle in Streifen schnitten, das Hirn auskochten, um Fett herzustellen, und die Sehnen ablösten, um sie einzuweichen. Es hielt sie auf.
Später würden sie am Feuer essen und sich mit Schatten Geschichten erzählen. Sie vermissten Krumm nicht, weil er etwas Bestimmtes gesagt oder getan hatte, sondern wegen der Arbeit, die er übernommen hatte, damit sie satt und in Sicherheit waren. Ihre Trauer galt nur praktischen Dingen. Ein Körper summierte sich auf die Arbeit, die er im Laufe seines Lebens verrichtete. Über den Tod eines Familienmitglieds hinwegzukommen hieß, sich zu überlegen, wie man nun all die Arbeit neu unter sich aufteilte. Und ein großes Bison mit so wenigen Mitgliedern zu zerlegen war schwer.
Doch das Wetter war auf ihrer Seite. Noch am Mittag war es schneidend kalt. Sorgfältig zerlegte Er den Kadaver und tauchte die Stücke sofort in einen eisigen Tümpel am Rand des Flusses, sodass sich keine Würmer und Fliegen einnisten konnten. Zuerst schnitt er die Vorderbeine ab und dann die Hinterbeine. Er tauchte sie kurz ein und reichte sie an Mädchen weiter. Sie hievte sie sich auf die Schulter und begab sich auf die kurze Strecke zur Höhle. Als Nächstes trennte Er die Hüftgelenke ab und löste das Becken aus. Dabei schaute er sich immer wieder um und hielt Ausschau nach Gefahren. Abgesehen von den Würmern und Fliegen waren die größte Bedrohung – die sie vom Essen abhalten oder ihnen schaden konnten, bevor sie es konnten – andere Fleischfresser. Im ganzen Tal würden alle Tiere von ihrem Erfolg wissen. Neuigkeiten verbreiteten sich über die Bäume. Selbst die leichteste Brise trug die Gerüche einer erfolgreichen Jagd über weite Entfernungen mit sich.
Als die Familie noch mehr Mitglieder hatte, stellte die Verteidigung der Jagdbeute kein so großes Problem dar. Selbst wenn alle angeschlagen und erschöpft waren, reichten ein paar Wachen mit einem Speer in der Hand aus, um mögliche Angreifer abzuschrecken. Die meisten Fleischfresser waren alt und klug genug, um keine Familie zu attackieren. Alle Tiere der Umgebung waren mit den Bedingungen vertraut, die bestimmten, wer zu fressen bekam. Das Essen musste mehr Energie bringen, als die Jagd kostete. Als die Familie noch mehr Speerträger hatte, war dies für die anderen Tiere mit einem Blick zu erkennen.
Aber jetzt hatte die Familie nur noch wenige Mitglieder. Der Verlust von Krumm brachte sie in eine gefährliche Lage. Mickerling und Große Mutter waren schwach, obwohl sie das niemals zugegeben hätten. Mädchen hatte genau dies im Kopf, als sie sich der Höhle mit einer großen Fleischkeule auf dem Rücken näherte. Sie konnte das knackende Feuer hören und den Rauch sehen, der aus der Höhle drang, doch sie nahm das Fleisch von der Schulter und legte es auf den Boden, um sich auszuruhen. Besser, sie tat das, bevor Große Mutter und Mickerling sie sahen. Sie wollte nicht, dass sie sich Sorgen wegen ihrer Erschöpfung machten.
Sie hockte sich auf einen Felsen und stieß schnaubend Luft aus. Ihr Körper verströmte Wärme. Während sie zusah, wie die Dunstwolke sich in der Luft auflöste, stellte sie sich vor, sie hätte in ihrer Brust ein loderndes Feuer. Wenn es heiß brannte, würde Rauch aufsteigen, und ihre Muskeln würden vor lauter Kraft bersten. Aber manchmal brannte es nur schwach, und genau so fühlte sie sich jetzt. Sie hatte kein Holz mehr, das sie in die Flammen werfen konnte.
Da knackte hinter ihr leise ein Zweig. Argwöhnisch legte sie den Kopf schräg. Das Geräusch kam daher, dass ein Zweig unter weichen Sohlen zerbrach, was auf ein Raubtier schließen ließ, das sich anschlich. Dann spürte sie es: den Herzschlag eines Tiers, das in der Nähe des Baums war, dabei befand sich Er doch noch am Fluss. Was war es also?
Sie hob witternd die Nase. Da der Wind aus der anderen Richtung kam, konnte sie es kaum riechen. Sie zog die Lippen zurück, um die Wärme zu spüren. Der Körper war leicht: kein Bär, keine große Raubkatze. Und wo war er? Ihre großen Augen erhaschten einen Blick von einer Schwanzspitze im Unterholz. Da. Sie zuckte. Mädchens Kopf fuhr herum. Der Schwanz war geringelt. Die Ohren hatten schwarze Spitzen. Sie lachte auf, so erleichtert war sie. Es war Wildkater. Sie drückte die Hand auf die Brust, um ihr wild pochendes Herz zu beruhigen.
Wildkater kam hinter dem Busch hervor, um sich zu zeigen. Er sah sie an und krauste sie Nase, als stänke sie. Vielleicht stimmte das auch, aber das war es nicht, was er ihr vermitteln wollte. Damit gab er ihr zu verstehen, dass er Fleisch wollte. Er hatte Mädchen das beigebracht, indem er zuerst die Nase krauste und ihr dann Zuneigung zeigte, wenn sie ihn wie gewünscht fütterte. Einen Großteil des Tages verbrachte Wildkater versteckt in Schatten und Unterholz. Tagsüber ließ er sich nicht oft blicken, aber wenn, dann war sein Gespür für den richtigen Zeitpunkt geradezu erstaunlich. Das war kein Zufall. Er beobachtete Mädchen ständig. Wenn sie ein Tier tötete, einen Kadaver entdeckte oder auch nur ein paar Nüsse fand, war er da und wollte seinen Anteil.
Jetzt kroch die Wildkatze zu ihr und leckte ihr mit der rauen Zunge, die sich anfühlte wie Baumrinde, über die Wange. Mit gesenktem Kopf rieb er seinen Körper an ihren. Dann sah er sie mit leicht zusammengekniffenen Augen an und bot ihr seine Nase, damit sie sie berühren konnte. Sie drückte sanft ihre eigene Nase gegen seine und spürte die feuchte Spitze. Das hatte er ihr beigebracht: sich mit der Nasenspitze zu küssen wie Katzen. Sie lächelte.
Dann griff sie nach der Keule und riss ein Stück vom ausgefransten Ende ab. Das Fleisch hatte immer noch die Wärme vom Leben. Die Wildkatze schnappte sich das Fleisch vom Boden, rieb sich noch mal an Mädchens Bein und flitzte zum Essen unter einen Busch.
Als Mädchen Wildkater kurz beim Fressen zusah, erhaschte sie einen Blick auf seine langen Fangzähne. Sie waren spitz und stark und konnten leicht eine Ader durchbohren, aber er benutzte sie nie gegen sie. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Freundschaft nur von ihrer unterschiedlichen Größe herrührte. Er hatte sie eingeschätzt und wusste, dass sie ihn an Muskelkraft übertraf. Da sein Kiefer nicht groß genug war, um sich um ihren Hals zu schließen, fand er als kluge Katze andere Wege, Essen von ihr zu bekommen.
Wenn etwas Schreckliches passierte und statt der Bisonkeule ihr Bein auf dem Weg läge, würde Wildkater das dann auch fressen? Wenn er das Maul weiter aufreißen könnte und die Zeiten hart wären, würde er davon abbeißen, wenn nichts ihn davon abhielte – wie zum Beispiel Ers Fuß oder ein gut gezielter Stein von Große Mutter? Ja, natürlich. Und so hatte ihre Freundschaft nur innerhalb der Grenzen von Hunger und Gelegenheit Bestand. Das schwächte ihre Verbindung keineswegs. Vielleicht war sie genau deshalb so lebendig.