Rosa Striche

Ich hatte Stunden am Handy verbracht, um abzuchecken, ob ich Gelder zur Ausweitung der Grabungen auftreiben könnte. Zwar arbeitete ich für eine Universität, aber deren Finanzverwalter waren nicht gewillt, mir mehr als eine höchst mickrige Summe zur Verfügung zu stellen. Damit konnte ich Andys und meine Lebenshaltungskosten, einen ständig wechselnden Aushilfsstudenten und die wichtigsten Werkzeuge abdecken. Wenn ich das und dazu das Wetter und die Arbeitsbedingungen berücksichtigte, würden die Ausgrabungen grob geschätzt in drei Jahren beendet sein. Meine innere Uhr allerdings tickte wesentlich schneller.

Dann hatte ich ein vielversprechendes Gespräch mit Tim Spalding, einem Kurator am Museum für Frühgeschichte in New York. Ich war ihm schon ein paar Mal begegnet, und er war mit meiner bisherigen Arbeit vertraut. Jetzt war er interessiert und meinte, er wollte gerne persönlich mit mir über das Projekt reden. Außerdem schien er genauso wie ich daran interessiert, die Vorgänge zu beschleunigen. Er sagte, das Museum sei ins Hintertreffen geraten und ruhe sich auf vergangenen Erfolgen aus. Die Kuratoren müssten der Einrichtung wieder zu neuem Glanz verhelfen, indem sie nach großen Entdeckungen Ausschau hielten. Sie hatten gerade erst einen neuen Direktor eingestellt, der einige Innovationspläne und Ideen zur Zusammenarbeit mit anderen Ländern hatte. Tim bat mich, sofort ins Flugzeug zu steigen und mich am nächsten Tag mit ihm zu treffen. Aufgeregt sagte ich zu und verstummte dann, damit er die Möglichkeit hatte, mir anzubieten, die Reisekosten zu übernehmen. Doch ich erntete nur Schweigen. Also holte ich tief Luft und erklärte, ich würde da sein.

Als ich das Gespräch beendete, wurde mir klar, wie knapp die Zeit war. Ich musste nach Hause, einen Arzt aufsuchen und, wenn ich die Bestätigung hätte, Simon von meiner Schwangerschaft erzählen. Dann war da noch das Problem mit dem Geld, genauer gesagt: mit dem Mangel an Geld. Nach kurzem Zögern entschied ich, dass Kreditkarten für genau diese Umstände erfunden worden waren. Ich rief Simon an, und kaum hatte er sich gemeldet, verkündete ich: »Manhattan ruft.«

»Das Getränk oder die Stadt?«

»Könnten wir uns vielleicht dort treffen?«

»Ich gebe doch Seminare. Meine Studenten würden sich fragen, wo ich abgeblieben bin.«

»Ich treffe mich mit Leuten vom Museum für Frühgeschichte.«

»Was? Das klingt, als könnten Andy und du euch bald wieder Cocktails genehmigen.«

»Bitte doch jemanden, für ein paar Tage deine Seminare zu übernehmen.«

Simon überlegte eine Weile. »Es geht das Gerücht, dass zwei Fakultäten zusammengelegt werden sollen. Also besser nicht.«

»Möglicherweise finanziert das Museum mein Projekt.«

»Dann sind gleich mehrere Cocktails angesagt.«

»Ich hätte dich gerne bei mir«, sagte ich.

»Ich wünschte, ich könnte kommen.«

»Ich auch.«

Nachdem Andy und ich es uns in unseren Campingstühlen bequem gemacht hatten, erzählte ich ihm vom kurzfristigen Treffen mit den Verantwortlichen vom Museum. »Könntest du auf die Höhle aufpassen, während ich in New York bin? Ist das okay für dich?« Ich hatte Sorge, dass ein Außenstehender kommen und versuchen würde, Anspruch auf die kostbaren Funde der Ausgrabungsstätte zu erheben. »Kein Problem«, erwiderte Andy, der den Grund für meinen besorgten Ton missdeutete: »Ich werde mich schon nicht einsam fühlen, versprochen.«

Seine Frau war zwei Jahre zuvor gestorben, und das Ausmaß seiner Trauer traf mich manchmal unerwartet. Ich fühlte mich schrecklich, als er das jetzt sagte, weil mir dabei klar wurde, dass ich vor Urzeiten Verstorbenen mehr Bedeutung beimaß als jetzt lebenden Menschen. »Bist du sicher?«, hakte ich nach.

»Ich komm schon klar.«

»Denkst du oft an sie?«

»Dazu habe ich keine Zeit, aber sie fehlt mir. Nachts, die Wärme eines anderen Körpers, du weißt schon …« Er verstummte.

»Komisch, dass du das sagst, schließlich teilen wir uns doch ein Zelt.« Ich versuchte, ihn zum Lächeln zu bringen.

»Ich hätte lieber jemanden, dem nicht jeden Morgen übel wird. Bin ich zu wählerisch?«

Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Lass niemanden auch nur in die Nähe der Höhle.« Ich wollte nicht, dass andere Schatzsucher dort rumschnüffelten.

»Wenn sich jemand blicken lässt, knurre ich und fletsche die Zähne.«

Ich umarmte ihn. »Danke.«

»Du wirst das großartig machen.« Er erwiderte meine Umarmung und blickte dann theatralisch hoch zum Himmel. »Bitte, lieber Gott, lass Rose so erfolgreich sein, dass ich ein eigenes Zelt kriege.«

Mein Flug ging schon ganz früh am Morgen von Avignon aus. Am Flughafen kaufte ich einen Schwangerschaftstest. Den Besuch beim Arzt würde ich später in meinen Terminkalender quetschen. Als die Maschine in der Luft war, schloss ich mich auf der Toilette ein, öffnete die Schachtel und pinkelte auf die Filzspitze des Testgeräts, das seltsamerweise aussah wie ein durchsichtiger Textmarker. Ich setzte mich auf die Toilette, schloss die Augen und zählte langsam bis sechzig. Dämpfe von den blauen Chemikalien in der Toilettenschüssel stiegen mir in die Nase, die Motoren dröhnten, und als ich von der Kabine nebenan die Spülung hörte, fragte ich mich, ob ich wohl selbst hinausgespült werden konnte. Ich stellte mir vor, wie ich in den Abfluss gesaugt und in die kalte Luft außerhalb des Flugzeugs katapultiert würde. Irgendwo über dem stahlgrauen Wasser des Atlantiks würde ich einige Sekunden über den Wolken schweben … und dann fallen.

Als ich bis sechzig gezählt hatte, machte mein Magen einen nervösen Purzelbaum. Ich öffnete die Augen und betrachtete das Testgerät. Es hatte ein kleines, durchsichtiges Fensterchen in der Mitte, das zwei deutliche rosa Striche zeigte. Wieso rosa? Klischeehafter ging es doch gar nicht. Und was bedeuteten zwei Striche? Ich suchte in der Schachtel nach dem Beipackzettel, entdeckte aber, dass ich den weggeworfen hatte. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, schob ich meine Hand durch das runde Loch, hinter dem sich der Abfalleimer befand. Glücklicherweise lag der Zettel mit der Anleitung ganz oben auf dem Müllhaufen. Ich überflog ihn – zwei Striche bedeutete »positiv«.

Natürlich hatte ich es in gewisser Weise längst gespürt. Wir Wissenschaftler arbeiten viel mehr mit Ahnungen, als wir jemals zugeben würden. Aber es sind die harten Fakten, die eine Idee in etwas Konkretes verwandeln. Andy würde sagen: Das ist der Moment, wo die Scheiße real wird. Meine Hände begannen zu zittern, dabei konnte ich es mir nicht leisten, mich von Gefühlen überwältigen zu lassen. Schließlich würde das Baby ja nicht sofort aus mir herausploppen. Was das alles wirklich bedeutete, konnte ich mir noch überlegen, wenn ich mich mit Simon in Verbindung setzte. Jetzt hingegen wollte ich mich auf das Meeting konzentrieren. Ich erhob mich, warf den Test weg und strich mein T-Shirt glatt. Ich zwängte mich aus der Kabine, dachte daran, mir einen Brandy zu bestellen, und lachte auf, weil ich mich ertappt hatte. Von nun an würde ich mich mit etwas anderem stärken müssen.

Vor der Landung ein letzter Besuch der Toilette: Ich kämmte mir die Haare und trug Lippenstift auf. Schon bald stand ich verbindlich lächelnd in der Schlange der Zollabfertigung. Das Gepäckkarussell ließ ich links liegen. Eine meiner eisernen Regeln beim Reisen lautete, nie mehr bei mir zu haben, als ich tragen konnte. Draußen wartete schon ein Fahrer, der ein Schild mit meinem Namen in die Höhe hielt. Während der Fahrt zog ich mir Schuhe mit kleinem Absatz an.

Als ich dem Assistenten durchs Museum folgte und das Klackern der Absätze auf dem glänzenden Boden hörte, gratulierte ich mir zur Wahl meiner Schuhe. Der Assistent drehte sich um und wies in einen Raum, wo zu meiner Überraschung vier Personen an der langen Seite eines Konferenztischs saßen, jede mit einem Glas Wasser vor sich. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs stand ein Stuhl, der wohl für mich gedacht war; es sah aus, als sollte ich gleich gefeuert werden. Die Anwesenden unterhielten sich, standen aber auf, als sie mich eintreten sahen. Auf den ersten Blick erkannte ich nur Tim Spalding, den Kurator, mit dem ich telefoniert hatte.

»Dr. Gale, wie schön, Sie wiederzusehen. Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Ich freue mich auch, Sie wiederzusehen, Mr. Spalding«, antwortete ich.

»Nennen Sie mich doch bitte Tim.«

Seine Hand war trocken, sein Griff fest. Ich entzog ihm meine Hand und warf kurz einen Blick darauf. Ich hatte noch Schmutzränder unter den Fingernägeln. Zwar hatte ich mir die Finger geschrubbt, mir aber nicht besonders viel Mühe dabei gegeben. Alle Archäologen an Ausgrabungsstätten haben dreckige Fingernägel. Andererseits fühlte es sich unter dem majestätischen Deckengewölbe des Konferenzraums so an, als wäre das Graben in der Erde ganz weit weg.

Tim schienen meine Fingernägel nicht aufzufallen. »Sie sitzen hier«, erklärte er und wies auf den einzelnen Stuhl an der Längsseite. Ich stellte meine Laptoptasche ab. Eigentlich hatte ich erwartet, mit ihm in einem Büro zu reden. Als ich das letzte Mal eine so einschüchternde Sitzordnung erlebt hatte, musste ich meine Doktorarbeit verteidigen. Jetzt überkam mich ähnliche Nervosität.

»Dr. Gale, ich habe mir die Freiheit genommen, dieses Komitee zusammenzustellen. Wir alle haben Termine verschoben, um hierherzukommen.« Tim stellte die anderen vor. Als Erstes kam eine Paläoarchäologin namens Maya Patel, mit der ich ein paar Jahre zuvor in einem Gremium gewesen war. Dann eine Frau namens Caitlin Alfonso, eine recht bekannte Primatenforscherin, von der ich bislang nur gehört hatte. Ihr Aussehen passte zu ihr, denn wie Jane Goodall hatte sie graue Haare, die zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden waren. Die letzte Person hatte ein bisschen abseits gewartet, während die anderen vorgestellt wurden. Sie trat einen forschen Schritt vor, als Tim sagte: »Und dies ist Guy Henri.«

Der Mann streckte die Hand aus. Ich ergriff sie und spürte, wie meine Schwielen, die vom Graben mit der Handschaufel herrührten, sich in seine Handfläche bohrten. Er zuckte leicht zusammen; ich senkte den Blick. Sein Daumen schob sich über meinen. Seine Haut wirkte rosig und frisch, der Daumennagel war ein perfekt manikürtes Oval. Ich roch etwas Zitroniges mit einer würzigen Note, ein Geruch, der viel zu geschmackvoll war, um von einem Allerwelts-Rasierwasser zu stammen. Er betrachtete ebenfalls unsere so wenig zusammenpassenden Hände.

»Rosamund Gale.« Ich entzog ihm meine Hand.

»Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«

»Sie sind Franzose.« Ich lächelte, weil ich erkannte, dass Tim seinen Namen am Telefon englisch ausgesprochen hatte, so dass er eher an einen Teilzeit-Fitnesstrainer erinnerte, der behauptete, sein Astralkörper bestünde nur aus Muskeln. Aber das hier war Guy Henri, der bekannte Kurator aus Paris. Mit Museumspolitik hatte ich mich noch nie abgegeben, aber von Guy hatte selbst ich schon gehört. Er war für einen Anbau des Museums in Arles verantwortlich, der wie eine riesige, an das triste, modernistische Betongebäude angeklebte Glasscherbe wirkte. Damit war das Museum bekannt geworden und hatte so viele Touristen angelockt, wie Arles noch nie zuvor gesehen hatte. Doch der Anbau hatte auch seinen Preis. Da die konservative französische Regierung sich aus der Finanzierung regionaler Kulturprogramme herauszog, war Guy mit einem Ölkonzern eine bis dato beispiellose Partnerschaft eingegangen und hatte die Firma als Sponsor für den Neubau gewonnen. In der Welt der Archäologen wurde dies als amerikanisches Modell betrachtet, als erster Schritt, öffentliche Räume für kommerzielles Gewinnstreben zu vereinnahmen. Meine französischen Freunde waren der festen Meinung, Guy wäre der Barbar, der dem Tür und Tor geöffnet hätte.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie ans Museum für Frühgeschichte berufen wurden«, sagte ich.

»Sie kennen meine Arbeit in Arles?«

»Aber natürlich.«

»Mein Aufgabengebiet hier umfasst in etwa das Gleiche.«

»Einen Sponsor einzuladen, seinen Namen auf die Tür zu meißeln?«, gab ich zurück.

Er lachte leicht und wirkte gänzlich unbesorgt. »Meine Liebe, wir sind in New York. Hier müssen sich die Reichen nicht hinter einem Unternehmen verstecken. Sie meißeln selbst ihren Namen ein, und zwar in Lebensgröße. Das wahre Problem liegt darin, dass aus dieser Institution eine staubige Krypta für Artefakte geworden ist. Ich will sie in ein Zentrum für Bildung und Diskussion verwandeln. Die Öffentlichkeit wird mit einer dynamischen Einrichtung in Kontakt kommen, die so wichtig ist wie die öffentlichen Bibliotheken im neunzehnten Jahrhundert.«

»Carnegie hat die Bibliotheken finanziert«, erwiderte ich. »Mit privatem Geld.«

»Mit einer Vision für das Wohl der Öffentlichkeit. Wir könnten der Beginn der nächsten amerikanischen Revolution sein.« Guy zog zufrieden die Mundwinkel hoch. Ich erkannte bereits, wie er sich das Ganze vorstellte. Meine Theorien über die Neandertaler waren kontrovers genug, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Guy brauchte. Er hatte die Verbindungen, um eine Sammelausstellung mit Artefakten zu organisieren, die in französischem Boden gefunden worden waren. Er mochte Tür und Tor geöffnet haben, doch jetzt forderte er mich auf hindurchzutreten.

Tim wirkte angesichts des Schlagabtauschs zwischen mir und Guy verunsichert. War der ein gutes Zeichen oder nicht? In dem Bewusstsein, dass er irgendwas vom Subtext verpasst hatte, wies er auf meinen Stuhl: »Aber jetzt sind Sie an der Reihe, Rose.«

Ich setzte mich, schluckte hart und nahm mir die Zeit, etwas Wasser aus dem Glas zu meiner Rechten zu trinken. Ich stöpselte meinen Computer ein und nutzte die Stille, um kurz nachzudenken. Maya Patel würde ebenso wie Tim verstehen, wie bedeutsam mein Fund war. Guy wusste, dass meine Theorien umstritten waren, doch wie viel verstand er tatsächlich davon? Die Primatologin würde ebenfalls mehr Kontext brauchen. Mit gesenktem Blick bemühte ich mich, allen Mut zusammenzunehmen.

»Vielleicht erzählen Sie uns als Erstes, warum wir Ihnen Geld geben sollten?« Damit brach Guy das allgemeine Schweigen und signalisierte seinen Führungsanspruch.

»Die letzten Jahre habe ich mit einer eingehenden Prüfung aller archäologischen Spuren verbracht, die wir von den Neandertalern haben«, setzte ich an. »Ich verglich sie mit ähnlichen Spuren von anatomisch modernen Menschen, die zur selben Zeit lebten. Wir wollten besser verstehen, warum die Neandertaler verschwunden sind. Wie Sie wissen, wird ihr Aussterben normalerweise mit der angeblichen Überlegenheit der anatomisch modernen Menschen erklärt. Es wird allgemein postuliert, der Homo sapiens habe nicht nur über größere kognitive Fähigkeiten und eine höher entwickelte Kultur verfügt, sondern auch über die Fähigkeit, Neuerungen einzuführen, und aus diesem Grund habe er überlebt und der Neandertaler nicht. Unsere Prüfung war ein Versuch herauszufinden, ob diese Annahmen tatsächlich der Wahrheit entsprechen.«

Nun, da ich mich in meiner Komfortzone befand, lief ich mich warm. Die steinerne Umgebung wirkte auf mich nicht kühl und einschüchternd, sondern stärkend. Alle vier Gesprächspartner hatten sich vorgeneigt und hörten aufmerksam zu. »Wir haben die meisten Studien geprüft, die innerhalb der letzten zehn Jahre angefertigt wurden. In dieser Zeit hat sich unser Bild von den Neandertalern beträchtlich geändert, vor allem wegen der neuen DNA-Spuren, die unser Verständnis für ihre biologische Beschaffenheit erheblich erweitert haben. Wir verglichen anatomisch moderne Menschen und Neandertaler, die zur selben Zeit lebten, und fanden heraus, dass die archäologischen Aufzeichnungen nur wenige Unterschiede bei den kognitiven und technischen Fähigkeiten zwischen den beiden Gruppen aufwiesen. In beiden Bereichen ist es nicht korrekt, die Neandertaler als unterlegen zu bezeichnen.«

Maya Patels Finger schoss in die Höhe. »Dürfte ich, Dr. Gale?«

»Ja, nur zu.«

»Ich habe Ihre Abhandlung gelesen und war fasziniert. Aber – verzeihen Sie – falls die Neandertaler in technischer oder kognitiver Hinsicht tatsächlich nicht benachteiligt waren, könnten Sie mir erläutern, warum sie Ihrer Theorie nach ausgestorben sind?«

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte ich. Mir war bewusst, dass sie mit Bedacht formuliert war. Wahrscheinlich hatte ich Maya auf meiner Seite.

»Das müsste dann auch eindeutig dargelegt werden.« Guy presste Daumen und Zeigefinger beider Hände zusammen; in seinem glänzenden Manschettenknopf fing sich das Licht.

»Ich möchte nicht behaupten, ich hätte die definitive Antwort«, sagte ich und wandte mich direkt an Guy. »Wenn Sie eine Beteiligung der Öffentlichkeit möchten, schlage ich vor, die Debatte über die Neandertaler dringend voranzutreiben. Es ist unwahrscheinlich, dass es für ihr Aussterben einen einzigen Grund gibt. Sie hatten eine stabile Kultur, die über zweihunderttausend Jahre existierte, viel länger, als die der modernen Menschen überdauerte oder vermutlich überdauern wird. Davon abgesehen aber waren die Neandertaler durch ihr Leben in kleinen Verbänden anfällig für Krankheiten, Klimaveränderungen, Inzest und vor allem für Gewalt und Verdrängung durch die anatomisch modernen Menschen. Ihnen fehlte das Sicherheitsnetz einer großen Gruppe, aber es waren großartige Lebewesen.«

»So großartig, dass sie ausstarben?«, konterte Guy skeptisch. »Und genau darum dreht sich doch alles.«

»Wir sind lange davon ausgegangen, dass der anatomisch moderne Mensch sich vor allem durch die Größe seines Gehirns von den anderen abhob. Studien zeigen jedoch, dass die Gehirne von Neandertalern möglicherweise noch größer waren als unsere, obwohl Hirngröße und kognitive Fähigkeiten nicht zwingend in einem direkten Zusammenhang stehen, wie wir früher annahmen. Die physischen Beweise zeigen, dass wir es mit einem Gehirn zu tun haben, das ähnlich wie unseres funktioniert haben könnte, zum Beispiel bei der Herstellung von Werkzeugen. Wichtiger jedoch ist, dass das Gehirn des anatomisch modernen Menschen sich in den vergangenen fünfzigtausend Jahren nicht wesentlich verändert hat.«

»Säße jetzt ein Neandertaler hier auf meinem Stuhl, würde er Ihnen Gelder zukommen lassen?« Tim versuchte, die Atmosphäre aufzulockern.

»Was ich sagen will«, – ich zwang mich zu lächeln –, »ist, dass unser Gehirn sich seit der Zeit der Neandertaler nicht entscheidend verändert hat. Wir lassen die Software des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf Hardware laufen, die zum letzten Mal vor fünfzigtausend Jahren ein Upgrade bekommen hat. Wenn das Gehirn des anatomisch modernen Menschen im Wesentlichen unverändert ist und die Neandertaler ziemlich ähnlich lebten wie die modernen Menschen damals, wäre es realistisch davon auszugehen, wir könnten mit einem Neandertaler kommunizieren, der hier auf Ihrem Stuhl sitzt. Dennoch bleibt die Frage: Hätte er eine so vorstehende Stirn wie Sie, Tim?«

Tim brach dankenswerterweise in Gelächter aus.

»Verzeihung«, ich nickte Tim freundlich zu, »ich untergrabe meine eigene Position mit einem Scherz. Wesentlich ist jedoch, dass die Vorstellung vom grunzenden, primitiven Neandertaler nicht nur veraltet, sondern schlichtweg falsch ist. Und darauf sollte sich die öffentliche Debatte konzentrieren.«

»Sie waren also so intelligent wie wir?« Guy zog eine gepflegte Augenbraue in die Höhe.

»Davon bin ich zumindest überzeugt.«

»Und doch waren wir in der Lage, sie alle zu töten.«

»Manche starben durch die Hand anatomisch moderner Menschen, das ist gesichert. Aber andere müssen einfach freundlichen Umgang mit ihnen gehabt haben. Wir wissen zum Beispiel, dass sie gemeinsame Nachkommen hatten.«

»Sex ist interessant«, bemerkte Guy grinsend. »Fast so interessant wie Krieg.«

Caitlin, die Primatologin, richtete sich auf und sagte nüchtern zu Guy: »Wenn wir auf meinem Forschungsgebiet einmal ein bestimmtes Verhalten beobachten, neigen wir dazu, es der gesamten Population zuzuschreiben. Wenn ein Gibbon einen anderen ermordet, dann geht die wissenschaftliche Gemeinschaft oft davon aus, dass die gesamte Spezies mörderische Absichten hegt. Doch eine sorgfältige Beobachtung der einzelnen Angehörigen der Spezies zeigt, dass es bei ihnen so unterschiedliche Verhaltensweisen gibt wie bei den Menschen.«

»Ganz sicher gilt das auch für anatomisch moderne Menschen, die zufällig auf Neandertaler gestoßen sind«, fügte ich nickend hinzu. »Manche waren wohl friedlich, andere nicht. Das hing von den Individuen und den Umständen ab.«

»Aber das alles ist nur Theorie«, warf Guy ein. »Wo sind die Beweise?«

»Es gilt als wissenschaftlich gesichert, dass größere Beutetiere in einem Gebiet dezimiert wurden, sobald anatomisch moderne Menschen dort auftauchten. Ich habe keinerlei Zweifel, dass es zwischen anatomisch modernen Menschen und Neandertalern Kämpfe um Territorien und Ressourcen gab. Wegen ihrer niedrigen Populationsdichte stellten Gewalt, Verdrängungswettbewerb, Krankheiten und so weiter für die Neandertaler größere Gefahren dar. Sie konnten dem Druck neuer Nachbarn kaum standhalten. Aber ich bin mit Caitlin einer Meinung, dass es wahrscheinlich auf beiden Seiten eine Vielzahl von Reaktionen auf Kontakt gab, von Gewalt über Sex bis zu Freundschaft. Zugleich bin ich mir aber auch sicher, dass die anatomisch modernen Menschen von damals ein bestimmtes Narrativ über Neandertaler kommunizierten, das sie selbst gut aussehen ließ. Und diese Geschichte erzählen wir immer noch weiter. Dabei sollten wir genau diese Geschichte in Frage stellen.«

Endlich sah ich, dass bei Guy eine Art Schalter umgelegt wurde. »Also: Sex oder Gewalt – was ist die spannendere Geschichte?«

»Beides ist ziemlich fundamental«, bemerkte Maya.

»Aber wir sind ein Museum«, gab Guy kopfschüttelnd zurück. »Wir müssen Ideen ohne endlos lange Erläuterungen übermitteln. Wir brauchen eine Botschaft, die die Öffentlichkeit mit nur einem Blick erfassen kann.«

Da wusste ich, was zu tun war. Mit einem Tastendruck erweckte ich den Computer zum Leben. Auf dem Monitor: das Foto, das Andy von den beiden Skeletten geschossen hatte. Schlagartig wurde es still im Konferenzraum. Bislang hatten wir die zwei Schädel nur so weit ausgegraben, dass man ihre Profile sehen konnte, doch die Umrisse waren deutlich erkennbar. Die beiden Schädel lagen zusammen in der Erde. Sie sahen einander an, ihre Augenhöhlen auf gleicher Höhe, als hätten sie sich in den letzten Sekunden ihres Lebens in die Augen geschaut. Die Neandertalerin lag auf der linken Seite, deutlich erkennbar an der Überaugenwulst, an der fliehenden Stirn und dem nach hinten herausragenden Schädel. Beim anatomisch modernen Menschen war der Schädel runder, und das Kinn ragte weiter hervor. Doch beide schienen geradewegs durch ihre Unterschiede hindurchzusehen. Ihre Verbindung wirkte stark, als hätten sie sie noch im Tod aufrechterhalten.

Maya schlug sich die Hand vor den Mund und seufzte kurz auf.

»Oh, mein Gott«, flüsterte Guy und äußerte sich damit als Erster. »Sie sehen aus wie ein Liebespaar.«

Das Komitee wies mir eine große Summe zu. Tim bestätigte noch mal den groben Zeitplan, den wir am Telefon besprochen hatten. Bis Ende August sollten die Ausgrabungen abgeschlossen sein. Caitlin fragte, ob das realistisch sei, schließlich gehörten die Artefakte dem französischen Staat. Das tat Guy mit der Bemerkung ab, Frankreich brauche dringend Geld. Bis ich meine Ergebnisse veröffentlichen würde, hätte er die Verhandlungen abgeschlossen und eine vorläufige Ausstellung organisiert. Wir könnten einen Kasten mit den beiden Skeletten in dieser Position und Fotos von der Ausgrabungsstätte zeigen. Die weiteren Einzelheiten rauschten an mir vorbei, weil mir dämmerte, dass ich es geschafft hatte. Jetzt machte ich mir keine Gedanken mehr um meine Schwielen, während ich allen die Hände schüttelte. Maya umarmte mich sogar, und Tim schien begeistert, nach so langen Jahren des Austauschs endlich mit mir zusammenzuarbeiten. Guy kam ebenfalls zu mir, um mir die Hand zu geben, doch ich beugte mich vor und küsste ihn auf beide Wangen. Er sah mich an. »Das wird eine ganz große Sache, Rose.« Nach allem, was ich bisher von ihm kannte, war mir klar, dass dies sowohl eine Ermutigung als auch eine Drohung war.

Als ich mich zum Gehen anschickte, kam Caitlin zu mir und legte mir eine spröde wirkende Hand auf den Arm. »Kommt der Zeitplan denn hin?«, fragte sie und blickte auf meinen Bauch.

»Inwiefern?«, fragte ich, gleichzeitig geschockt und in die Enge getrieben.

»Sie werden unter großem Druck stehen.«

»Selbstverständlich.« Ich musterte ihre besorgte Miene. »Aber wieso zerbrechen Sie sich den Kopf darüber?«

Darauf antwortete sie nicht, sondern sah mich nur durchdringend an und nickte dann. »Ich werde Sie unterstützen.« Damit ging sie und ließ mich verwirrt zurück. Konnte Caitlin etwa direkt in meine Gebärmutter sehen? Es gefiel mir nicht, dass sie meinte, ich bräuchte Hilfe oder wirkte schwach. Doch in diesem Augenblick schlug Tim mir leicht auf den Rücken und begleitete mich hinaus, daher hatte ich keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Kurz darauf saß ich schon im Taxi.

Als ich ins Hotelzimmer kam, warf ich mich sofort aufs Bett. Ich hatte Übernachtungen in einem Hotel nie etwas abgewinnen können, es sei denn, es war jemand dabei, mit dem man gerne Sex hatte. Simon fehlte mir. Ich pfiff auf die Zeitverschiebung, denn jetzt musste ich ihn einfach anrufen.

»Große Neuigkeiten«, verkündete ich, kaum dass er sich meldete.

»Hallo?« Simon wirkte desorientiert.

In London war es mitten in der Nacht. »Wegen des Projekts. Der Ausgrabungen.«

»Ist das irgendeine Sex-Hotline?«

»Ich hab das Geld.«

»Das ist ja wunderbar!«

Wahrscheinlich rieb er sich jetzt die Augen. Ich stellte ihn mir in unserem Bett vor, inmitten hoffnungslos verdrehter Laken.

»Das Meeting ist also gut verlaufen. Obwohl ich daran nie gezweifelt habe. Hast du Blubberwasser, um darauf anzustoßen?«

Das ließ mich verstummen.

»Bist du noch dran, Rose?«

»Ich kann jetzt nichts trinken.«

»Wieso, herrscht in Manhattan Sektknappheit?«

»Ich bin schwanger.«

»Oh.« Nun meinte ich zu hören, wie Simon hochfuhr. Ich wusste genau, wie er jetzt aussah: Seine Augenbrauen, der eindrucksvollste Teil seines Gesichts, waren sicher bis zum Haaransatz hochgezogen. Ich hörte, wie seine Stimme sich veränderte und ein Lächeln zu mir sandte. »Bessere Neuigkeiten gibt’s ja gar nicht.«

Kurzes Schweigen trat ein, als Simon sich sammelte und überlegte, was er als Erstes fragen sollte. Schließlich entschied er sich für: »Wie weit bist du?«

»Anfang vierter Monat.«

»Also kommt es im …«

»Irgendwann Anfang September.«

Wieder schwieg er, wahrscheinlich um zu begreifen, dass sich sein Leben schlagartig geändert hatte. »Das hast du also mit den Neuigkeiten gemeint. Dabei dachte ich, du meinst dein Meeting.«

»Du denkst immer nur an meine Arbeit.«

»Ich bin so glücklich, Rose, wirklich. Du weißt, wie sehr ich mir das immer gewünscht habe. Obwohl ich dachte, wir wären schon zu alt.«

»Ich wäre schon zu alt«, berichtigte ich ihn.

Er erkundigte sich, ob ich irgendwelche Veränderungen an mir bemerkt hätte. Ich erzählte ihm die Schauergeschichte, wie ich Andy eines Morgens fast vollgekotzt hätte. Meine Brüste wären erkennbar größer geworden, obwohl mein Bauch noch flach wäre, und meine Brustwarzen wären auf sehr ansprechende Weise dunkler geworden. Als ich ihm das erzählte, musste ich wieder an Caitlins Bemerkung bei meinem Aufbruch denken. Wenn man es noch nicht sah, was hatte sie dann gemeint?

»Weißt du, worauf ich mich am meisten freue?«, fragte Simon.

»Aufs Windelnwechseln?«, riet ich.

»Aber natürlich. Ich kann’s kaum erwarten.«

»Mir ist alte fossilisierte Scheiße lieber als frische.«

»Rate noch mal.«

»Gutenachtgeschichten?«

»Nein«, sagte er. »Am meisten freue ich mich auf das, was das für uns bedeutet.«

»Wie meinst du das?«

»Wir werden viel mehr Zeit miteinander verbringen.«

»Das stimmt.«

»Weil du nicht mehr ständig von Land zu Land und von Höhle zu Höhle rasen wirst.«

»Was werde ich denn sonst machen?«

»Du wirst endlich zu Hause sein.«