»Rose?«
Rasend vor Zorn stand ich am Stubenwagen, da hörte ich etwas. Eine Stimme, die ich nicht einordnen konnte. Sie kam aus der Wohnung, war irgendwo hinter mir. Ich hielt Jacob mit beiden Armen ausgestreckt vor mir, und er brüllte. Hatte die schmalen Schultern hochgezogen. Meine Haut war schweißbedeckt, meine Zähne waren fest zusammengebissen. Ich dachte nur daran, das Brüllen zu stoppen.
»Ich nehme ihn.« Eine Stimme drang durch meine Wut. Ich spürte eine kühle Hand auf meiner Schulter. Die Wohnung wirkte dunkel. War es Tag oder Nacht? Ich drehte mich um. Vor mir stand Caitlin.
Sanft, aber entschieden sagte sie: »Du ruhst dich jetzt aus.«
Ich ließ das Baby los und erlaubte, dass sie es nahm. Eine Welle der Erleichterung durchströmte mich. Ich ließ mich aufs Bett fallen. Während meine Atmung gleichmäßiger wurde, nahm ich irgendwo in den Tiefen meines Bewusstseins wahr, dass mein Baby mit dem Weinen aufgehört hatte. Ich war so unendlich dankbar, dass es nicht mehr in meiner Obhut war, dass es weg von mir war – und weg von dem, was ich hatte tun wollen. Was ich vielleicht getan hätte. Mein Körper fühlte sich schwer an. Ich sank in tiefen Schlaf.
Nach einer Ewigkeit schrak ich auf und blickte mich um. Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich auch sie wieder. Caitlin. Kurz zuvor war ich noch sicher gewesen, ich hätte nur geträumt, dass sie da war. Sie saß auf dem Schaukelstuhl in der Ecke des Zimmers, in dem ich geschlafen hatte. Vorne auf ihrem T-Shirt war ein schmutziger Streifen, als wäre sie an der Ausgrabungsstätte gewesen. Die grauen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmt. Sie sah mich an, lächelte aber nicht. Sanft hielt sie das Baby im Arm und gab ihm eines der Fläschchen mit der abgepumpten Muttermilch, die ich im Kühlschrank aufbewahrte. Vermutlich hatte sie es gerade richtig aufgewärmt, denn Jacob hatte die Augen leicht verdreht und trank begierig davon.
Caitlin nickte. Damit bedeutete sie mir, ich könnte ruhig weiterschlafen. Jacob trank die ganze Flasche, und ich schaute dabei zu. Caitlin hielt ihn fest im Arm und ließ ihn danach geschickt ein Bäuerchen machen. Ich sah, wie ihr grauer Pferdeschwanz hin- und herschwang. Sie legte Jacob auf den Schreibtisch, den wir zum Wickeln nutzten, machte ihn sauber und legte ihn zurück in seinen Stubenwagen.
Ich saß auf der Bettkante. Meine Beine zitterten, und ich hatte Tränen in den Augen. Verlust lag in der Luft, vielleicht der, den ich fast hätte ertragen müssen. Die Decke im Schlafzimmer wirkte niedriger, fast so als würde sie gleich auf meinen Schädel drücken. Die Wände um mich herum neigten sich zu mir und verschwammen. Der Boden hob sich an. Ich stützte mich mit der Hand auf den Bettrahmen und stand mühsam auf. Caitlin blieb an der Tür. Sie sah mich prüfend an, als suchte sie nach irgendwelchen Anzeichen.
»Wieso bist du gekommen?«, fragte ich sie.
»Ich wollte dir Bescheid sagen«, antwortete Caitlin leise. »Dass an der Ausgrabungsstätte alles gut läuft.«
Ich starrte sie direkt an. »Das stimmt doch nicht, oder?«
Von hinten fiel das Licht aus der Küche auf sie, sodass ich ihren Umriss sehen konnte: sowohl die ältere Frau, die sie jetzt war, als auch noch etwas anderes – die jüngere Frau von einst. Einen Augenblick trat der jüngere, etwas größere Körper vor, eine kräftige Gestalt mit straffer Haut über scharfkantigen Wangenknochen. Ein roter Haarschopf und blasse Haut. Sie wirkte so stark und muskulös, als könnte sie alles vollbringen. Dann schwand die Vision, und es war wieder nur Caitlin, die an der Tür stand und mich anschaute.
»Nein, das stimmt nicht«, sagte sie.
»Warum bist du gekommen?«, fragte ich noch einmal und ging auf sie zu. Es gab so vieles, das sich nicht in Worte fassen ließ. Ich war nahe genug, dass ich Tränen in ihren Augen glitzern sah. Ich hörte, wie sie rau und stockend atmete.
»Ich habe dir etwas angesehen …«
»Dass ich verrückt werde.«
»… das ich auch bei mir erlebt habe. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr getan habe, um dir zu helfen, Rose.«
»Ich bin so müde.«
Sie presste sich die Hand auf den Mund. Aus einem ihrer Augen löste sich eine Träne.
»Fast hätte ich …«
»Ich weiß. Ist schon gut.«
»Woher wusstest du das?«
»Weil ich mein Baby verloren habe.«
Da erlaubte ich mir endlich zu weinen, weil mich Traurigkeit durchströmte und gleichzeitig Erleichterung, dass sie noch rechtzeitig gekommen war. Ich legte die Arme um sie und zog sie an mich. Die Wärme aus meinem Körper verschmolz mit ihrer. Ich ließ los. Ich weinte, und als ich mich ein bisschen beruhigt hatte, bemerkte ich, dass auch sie weinte. Ihre Schultern zuckten. Ich drückte sie noch fester an mich. Trotz meiner Erschöpfung spürte ich, dass ihre Trauer viel größer war als meine.
»Was ist passiert, Caitlin?«
Kaum hörbar flüsterte sie: »Ich war allein.«