Menschlich

Ich setze Jacob in die Babytrage vor meinem Bauch. Er ist erst sechs Wochen alt, aber ich staune über sein Gewicht; es ist, als wäre er allein seit letzter Nacht ein Pfund schwerer geworden. An diesem warmen Herbsttag steht die Sonne hoch am Himmel, aber ich nehme für alle Fälle eine Jacke mit, die über uns beide passt. Als ich den Weg vom Parkplatz einschlage, kommt mir jeder Schritt vertraut vor. Ich gehe an den Zelten vorbei und beginne mit dem Anstieg zur Ausgrabungsstätte. Als wir dort ankommen, halte ich wie jeden Tag am Picknicktisch inne, um alle zu begrüßen. Jacob steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nach kurzer Zeit kommt Caitlin uns begrüßen und nickt, um mir zu vermitteln, dass sie über einiges reden muss. Anais, die ihren hüpfenden Gang seit letzter Woche noch perfektioniert hat, nimmt mir Jacob ab, sodass Caitlin und ich uns ungestört unterhalten können.

Caitlin überreicht mir ein Hochglanzfoto. Es ist der erste Entwurf für die Museumsbroschüre. Mir stockt der Atem, als ich die Nahaufnahme der Skelette sehe: den anatomisch modernen Menschen, der direkt in die Augen meiner Neandertalerin blickt. Darüber steht in Großbuchstaben: Die Liebenden. Ich habe ihren Anblick immer als äußerst intim empfunden und stets den Wunsch verspürt, ihre Privatsphäre zu schützen. Jetzt sind sie so deutlich und aus großer Nähe abgebildet, dass ich kaum hinsehen kann. Gerade will ich den Mund öffnen, obwohl ich nicht weiß, was ich sagen soll, da kommt Caitlin mir zuvor.

»Guy möchte, dass du eine Einleitung schreibst«, sagt sie.

»Ich?«

»Ja, du.«

»Die Liebenden.«

»Er möchte, dass wir sie so nennen.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, ob das stimmt.«

»Das kommt wohl darauf an, welche Art von Liebe man meint«, erwidert sie. »Aber er möchte, dass du eine erste Kurzfassung schreibst. Das wird dann die Basis dafür, wie wir den Medien und der Öffentlichkeit unsere Funde präsentieren. Deine Deutung wird richtungsweisend sein.« Sie lässt die Broschüre sinken und sieht mich an. »Das betrachtet er als große Ehre.«

Mit einem ironischen Lächeln, das ich wohl vor Kurzem noch als geschürzte Lippen interpretiert hätte, lässt sie mich stehen und geht zu dem Tisch zurück, an dem sie Artefakte katalogisiert hat. Ich spüre, wie ihre unbeholfene Freundlichkeit in mir nachwirkt. Obwohl wir so unterschiedlich sind, habe ich sie ins Herz geschlossen. Außerdem verdanke ich ihr fast schon zu viel. Was werde ich schreiben? Die Aufgabe, meine Neandertalerin der Welt vorzustellen, überwältigt mich. Wie können ein paar Sätze eine Spezies beschreiben, die über ein Jahrhundert lang verkannt wurde? Allein beim Gedanken daran wird mir leicht schwindelig. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Jacob zu stillen, zehrt an meinen körperlichen Kräften – und vielleicht auch an meinen kognitiven Fähigkeiten.

Da höre ich, wie eine Dose knackend geöffnet wird.

»Andy?«

»Rose?«

Ich gehe zum Picknicktisch und umarme ihn.

»Wo ist denn der Dritte im Bunde?«

Anais bringt Jacob zu uns, und dann beginnen wir den nächsten Abschnitt unserer täglichen Routine. Morgens kümmere ich mich allein um Jacob. Nach dem Mittagessen bringe ich ihn zur Ausgrabungsstätte und unterhalte mich mit allen, bis Jacob für sein Nickerchen mit Andy bereit ist. Auf diese Lösung kamen wir, als Andy mich darauf hinwies, dass Jacob und er recht ähnliche Tagesabläufe haben.

»Ist Simon schon zurück?«, fragt Andy, während er sich langsam in die Hängematte sinken lässt, die Simon in seinem Zelt angebracht hat. Sie ist so gespannt, dass Andys Rückenmuskeln gedehnt werden.

»Nein, aber morgen kommt er für ein verlängertes Wochenende.«

Als Andy es sich bequem gemacht hat, lege ich ihm Jacob behutsam auf den Bauch. Zum Schutz vor der kühleren Oktoberluft bekommen sie eine Decke.

»Nicht zu schwer?«

»Wie viel wiegt er mittlerweile – acht Pfund?«

»Neun.«

»Alles Muskeln. Hat er von mir.« Andy zwinkert mir zu. »Hältst du meine Dose?«

Er rutscht in der Hängematte hin und her, bis es beide bequem haben. Ich lege noch eine zweite Decke über sie und gebe Andy die Dose, aus der er auch in der Horizontalen trinken kann. Jacob schmiegt sich an seinen warmen Bauch und steckt sein Fäustchen in den Mund. Als ich sehe, wie beiden die Augen zufallen, überkommt mich eine Welle der Liebe. Mein Baby hat sich an die Moderne angepasst und schläft zum Zischen der Kohlensäure ein.

Ich habe nur etwa eine Stunde für konzentriertes Arbeiten, dann wachen sie wieder auf. Zwar kommt Simon bald, aber am Nachmittag muss Jacob häufig gestillt werden, und ich habe Mühe, alles miteinander zu vereinen. Jetzt befestige ich das Seil um meine Taille noch etwas enger und zwänge mich durch die Plastikplane in die Höhle. Im warmen Licht der Lampe fühle ich mich wie zuhause. Ich streife die Knieschoner über und nehme den Pinsel aus dem Kasten.

Am Tag zuvor habe ich eine Erhebung gefunden, die in derselben Tiefe und im selben Quadranten liegt wie das Becken meiner Neandertalerin: so als wäre es dort hingefallen, oder bewusst dort platziert oder an ihr befestigt worden. Die ganze Nacht habe ich darüber nachgedacht, was es wohl sein könnte. Jetzt fange ich an, die Erde wegzupinseln. Schon bald sehe ich die Umrisse und rücke meine Kopflampe zurecht. Es ist nur etwa acht Zentimeter lang und leicht gebogen. Ich kann mir nicht denken, was das sein soll: Schmuck? Ein Stück von einem Horn? Wenn es ein Werkzeug ist, habe ich so etwas noch nie gesehen.

Behutsam blase ich den Staub weg und arbeite weiter. Staub und Erde, die aus der Höhle stammen, müssen sorgsam durchgesiebt und geprüft werden. Was werde ich schreiben? Ich betrachte kurz die beiden Skelette und lasse meine Gedanken schweifen, während ich weiterpinsle.

Als Wissenschaftlerin darf ich sie nicht einfach so als Liebende betrachten, aber irgendwas an der Bezeichnung hallt bei mir nach. Wir mögen uns den Neandertalern überlegen fühlen und können uns vorstellen, sie ausgelöscht zu haben, aber wie kam es zu Sex mit ihnen? Das ist doch die eigentlich interessantere Frage. Ich kann verstehen, dass Guy diese Gedanken provozieren will. Unsere DNA ist der Beweis dafür, dass es tatsächlich passiert ist. Und da mir all das durch den Kopf schwirrt, brauche ich etwas länger als üblich, um zu begreifen, was ich gefunden habe.

Es ist ein Stück Knochen. Ich neige mich vor und blase behutsam den Staub weg. Um es besser sehen zu können, benutze ich meine Lupe. Der Knochen ist gekrümmt, als wäre er deformiert. Schon bald erkenne ich an der Form, dass es eine kleine Speiche ist, der Unterarmknochen eines Babys, das wahrscheinlich so alt war, wie Jacob jetzt ist. Der Knochen ist gut erhalten. Da er recht breit und gedrungen ist, denke ich, er könnte von einem Neandertaler stammen, aber ganz sicher bin ich mir nicht.

Von meiner Position aus, am Beckenknochen der Neandertalerin, blicke ich zu ihrem Schädel. Sie ist meine ständige Gefährtin, und doch schaut sie jemand anderen an. Sie liegt auf der Erde und blickt in die Augen von … wem? Ihrem Sohn, einem Partner, vielleicht gar einem Feind – erwiesen ist nur, dass es ein anatomisch moderner Mensch war –, der sich entweder neben sie gelegt hat oder neben sie gelegt wurde. Ihre Armknochen sind so zu ihm ausgestreckt, als wollte sie ihn umarmen oder umarmt werden. Seine Arme sind ebenfalls zu ihr ausgestreckt. Ihre Anordnung gibt mir die Gewissheit, dass sie sich kannten. Dass sie oder die Menschen, die sie begruben, nicht das Gefühl hatten, sie wären verschieden.

Was haben wir verloren? Ich werfe einen Blick zur Plastikplane, um mich zu vergewissern, dass niemand kommt. Von den Zelten dringt nur Andys leises Schnarchen zu mir. Ich neige mich vor und stütze meine Hände auf die Klötze, die ich zum Schutz der Skelette rund um sie positioniert habe. Dann nähere ich mich ihrem Schädel und drehe meinen Kopf, um ihr in die Augenhöhle zu schauen.

Einen Moment lang fühle ich gar nichts. Ich warte, und langsam wird mir warm. Diese Felswände haben sie geschützt. Jetzt geben sie die Hitze des Tages ab; es könnte auch ihre Körperwärme gewesen sein. Die Neandertalerin hatte eine ähnliche Haut wie ich. Ihr Blut glich dem meinen. Wir beide hatten ein Herz in uns schlagen. All die Unterschiede zwischen uns verschwinden. Ich weiß, hätte ich jemals das Glück gehabt, ihr zu begegnen, hätte ich ihr in die Augen geblickt und sie erkannt. Und vielleicht hätte sie mich erkannt. Wir gleichen uns so sehr.