Die Familie versteckte sich und wartete darauf, dass das erste Bison der kleinen Herde den Fluss überquerte. Sie befanden sich an einer seichten Stelle, wo das Wasser in einer Art Tümpel zusammenlief, bevor der Fluss sich verengte und das Tal steiler wurde. An der Furt waren die Felsen flacher, sodass alle Tiere mühelos hindurchkonnten. Die kleinen Bisonherden nutzten die Furt oft, um von ihrem Winterquartier zwischen den Bäumen zu den offenen Wiesen auf den Hängen zu gelangen. Dazu betraten sie den Fluss auf der einen Uferseite, brachen durch das dünner werdende Eis und schwammen in dem Versuch, nicht abzutreiben, so schnell sie konnten durch das kalte Wasser. Wenn die Bisons das andere Ufer erreicht hatten, wurden sie gezwungen, sich voneinander zu lösen, denn sie mussten durch eine Art Felstunnel einzeln an Land.
Mädchen schob ihren Speer in die Achselhöhle. Jagen hieß warten. Dies war das Jagdgebiet der Familie, so lange ihre Schattengeschichten zurückreichten, doch es gehörte nicht nur ihnen. Alle Tiere im Umkreis jagten hier oder überquerten hier den Fluss. Die Stelle eignete sich gut zum Trinken und Spielen, aber sie war auch gefährlich. Es war überall gefährlich, wo es Nahrung und frisches Wasser gab.
Da: Knack. Ein Geräusch. Wo? Mädchen zog ihre Oberlippe hoch, damit der Wind an der empfindsamen Stelle auf ihrem Zahnfleisch vorbeistrich. Sie spürte einen wärmeren Luftzug. Doch was war das? Sie spitzte die Ohren und wandte den Kopf nach rechts. Der Schreck über das Knacken stach ihr in den Nacken.
Dies war das Land, in dem sie geboren war, und sie kannte es wie ihren eigenen Körper. Sie hatte an keinem anderen Ort gelebt. Da sie von Große Mutter abstammte, war ihr Geist mit all den Erinnerungen der Jagden gefüllt, an denen auch Große Mutter und davor deren Mutter teilgenommen hatte. Dazu hatte Mädchen noch die Geschichten, die ihr in ihren Träumen von den anderen Familienmitgliedern übermittelt wurden. Jede Wölbung, jede Senke und jede Biegung des Landes lag in den Tiefen ihres Geistes, aber nicht nur dort. Auch ihr Körper barg diese Erinnerungen. Von einem Fall war in ihrem Kinn eine Kerbe zurückgeblieben, wie ein Loch im Pfad. An ihrem Finger hatte sie eine wulstige Narbe von einem scharfen Stein, die aussah wie der Felsgrat einer Klippe. Wenn sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten, sahen sie aus wie die Gräser, die die Bisons fraßen. Ihr Körper nahm die Form ihrer Umgebung an.
Jetzt tauchte das schmale Maul eines Bisonkalbs zwischen den nackten Zweigen auf. Das Wäldchen war von der Kälte immer noch braun und knorrig. Bislang hatten sich nur wenige Knospen gebildet. Mädchen sah einen Kopf, einen zarten Körper und staksig schwache Beine. Das würde ein leichter Fang werden.
Sie hörte, wie Große Mutter leise mit der Zunge schnalzte. Die alte Frau hielt sich der Sicherheit wegen etwas abseits, passte aber gut auf. Niemals würde sie zugeben, dass sie nicht mehr jagte. Stattdessen hatte sie auf Mickerling gezeigt, ihre Augen mit den Händen abgeschirmt, um zu erklären, dass jemand auf ihn achten musste, und sich dann zwischen den Wurzeln eines Baumes versteckt. Sie beobachtete und gab ihnen mit der Zunge Signale. Zweimal schnalzen für eine Bisonkuh, einmal für das kleine Kalb. Da sie nur einmal geschnalzt hatte, wusste Mädchen, es war entschieden. Das Kalb zu töten, hieß auch, das junge Tier würde niemals trächtig werden und sich fortpflanzen. Kurzfristig bekamen sie dadurch Fleisch, langfristig aber hieß das, die Herde würde wahrscheinlich aussterben. Die einzelnen Tiere einer so kleinen Herde konnten nicht mehr ersetzt werden.
Mädchen atmete langsam ein, um ihren Körper mit Luft zu füllen. Sie blickte zu Er und zog ihre Oberlippe hoch. An ihrer empfindsamen Haut spürte sie, wie sein Herz schneller schlug; es war der Puls seines Körpers, der die Gefahren der Jagd erahnte. Er schnüffelte und warf ihr ebenfalls einen Blick zu. Kannte er ihr Geheimnis? Konnte er ihre Hitze riechen? Sie löste den Blick von ihm.
Da kam die Bisonkuh aus dem Wäldchen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg über den schmalen Uferpfad. Es war kalt, und ihr Atem bildete Dampfwolken. Eis hing an ihren Zotteln. Nur wenige Tiere hatten sich dieses Jahr so weit vorgewagt. Die Kuh musste einen kleinen Umweg machen, um eine Stelle zu erreichen, wo das Eis unter ihren Hufen zerbrach. Es schmolz später als in anderen Jahren. Alles an Land musste sich darum herumbewegen.
Mit rutschenden Hufen schloss das Kalb zu seiner Mutter auf. Die Kuh sah sich gründlich um, glitt in das eiskalte Wasser und wandte sich zu dem Kalb, das ein kleines Stück weiter stromaufwärts in den Fluss trat. Kaum hatten seine Hufe den schlammigen Flussboden verlassen, musste es gegen die Strömung kämpfen, um voranzukommen. Der Fluss war immer noch stark genug, um seinen Körper unter Wasser zu drücken und zu verschlucken. Eine dicke Eisscholle prallte gegen sein Hinterteil und drohte es unterzutauchen, aber seine Mutter hielt es mit dem Maul fest. Sie zog es durch die stärkste Strömung, und beide schafften es auf die andere Seite.
Jetzt bemühte sich das Kalb mit seinen spindeldürren Beinen, das Ufer hinaufzukommen. Die Kuh stapfte aus dem Wasser und schüttelte sich. Die ersten Fliegen, die in der wärmenden Sonne herumschwirrten, stürzten sich auf ihr dichtes Fell. Als sie durch den Schlamm trottete, blieb der an ihren Beinen hängen. Der harte Winter zeigte sich an ihren sich deutlich abzeichnenden Rippen und dem knotigen Rückgrat. Das Kalb schob sich so nah an seine Mutter heran, dass seine Nase fast ihren Schwanz berührte. An seinem ängstlichen Blick war zu sehen, dass es am liebsten wieder in ihren Bauch zurückgekrochen wäre, wenn es die Möglichkeit gehabt hätte.
Etwas weiter das Ufer hinauf verengte sich der Pfad und zwang sie, einzeln durch einen engen Tunnel zwischen hohen Felswänden hindurchzugehen. Es war eine Falle mit nur einem Ausgang: dem anderen Ende. Genau diese Form des Landes gab der Familie Nahrung. Manches Fleisch bekommt zu essen.
Mädchen hockte auf dem hohen Felsvorsprung, blickte hinunter, hielt den Atem an und ließ ihren Körper gleichsam zu Stein erstarren. Wieder fühlte sie, wie Ers Herzschlag sich beschleunigte, genau wie ihrer, als die Bisonkuh durch den Tunnel voranging. Mädchen wartete, bis das größere Bison vorbei war, und holte tief Luft.
Brüllend ließ sie sich vor dem Kalb in den engen Tunnel fallen. Die Felswände ragten hoch über ihr auf. Ihr Brüllen hallte dazwischen wider, während ihr Körper in wilde Bewegung ausbrach. Sie schwenkte die Arme über dem Kopf, wirbelte wild scheuchend die Luft umher, riss den Mund auf und fletschte die Zähne. Sie wirkte doppelt so groß wie sonst.
Das Kalb riss die Augen auf und blökte entsetzt, seine schwarze Zunge zitterte. Die Kuh erkannte die große Gefahr, konnte sich aber in dem engen Tunnel nicht umdrehen. Sie wusste genau, es wäre dumm, rückwärts an Mädchen heranzurücken und ihr wehrloses Hinterteil einem Speer auszusetzen. Aus dieser Richtung konnten sowohl Wölfe als auch die Familie angreifen. Stattdessen stürzte die Kuh vorwärts, um aus dem Tunnel zu kommen. Dort konnte sie sich umdrehen und mit gesenkten Hörnern wieder auf Mädchen zustürmen. Mädchens einzige Chance lag in dem Zeitraum zwischen ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr. Sie musste das Kalb zu Er treiben, der am Fluss wartete, bevor die Kuh es zurückschaffte. Krumm würde sein Bestes geben, um die Bisonmutter abzulenken und aufzuhalten, aber Mädchen wusste, Fehler durften sie sich nicht erlauben.
Wenn das Kalb erstmal verwundet war, konnten sie alle auf einen hohen Baum klettern und warten, bis der Zorn der Kuh nachließ und das Kalb starb. Oder wenn die Kuh blind vor Zorn wurde, konnten sie sich auch auf sie stürzen. Sie versuchten, die Gelegenheit bestmöglich zu nutzen, aber gleichzeitig Abstand zu dem Tier zu halten, das sie mühelos töten konnte. In dieser Hinsicht ähnelte ihre Art, Bisons zu jagen, der der Wölfe. Der Unterschied lag in der Wahl des Angriffspunkts. Die Familie konnte nicht so schnell rennen wie die Wölfe, daher nutzten sie den Vorteil der engen Furt.
Das Kalb blökte zweimal und stieg auf die Hinterbeine. Es wich vor Mädchen zurück, hin zum Eingang des Tunnels, wo Er lauerte. Mädchen brüllte und spuckte, und ihr Gebrüll wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Das Kalb war klein genug, um sich in dem engen Tunnel umdrehen zu können. Wenn es das tat, konnte sie ihm von hinten den Speer in den Leib rammen. Doch das Kalb drehte sich nicht um und wich auch nicht mehr zurück, sondern blieb wie angewurzelt stehen. Als Mädchen erneut brüllte, schnaubte das Tier. Es verdrehte die Augen und senkte den Kopf. Sie bemerkte den sauren Geruch seines leeren Magens. Es war verrückt vor Hunger und ging auf Mädchen los.
Ihr Bruder sah, was passierte, und stürzte in den Tunnel auf das Hinterteil des Kalbs zu. Er war schnell, aber nicht schnell genug. Er würde es nicht schaffen, bevor das Tier mit dem Kopf gegen Mädchen rammte. Denn das war eindeutig seine Absicht. Seine dünnen Beinchen stampften auf dem kalten Schlamm. Der Kopf war gesenkt. Selbst ein Kalb hatte genug Kraft, um Mädchen die Rippen und Beine zu brechen.
Mädchen sah das Kalb auf sie zukommen. Sie wusste, die Bisonkuh würde sich umdrehen und jeden Augenblick von hinten heranstürmen. Das kleinere Bison mit dem dichten Fell auf dem Schädel reichte ihr bis zur Brust, es stieß heiße Atemwolken aus und war nur ein, zwei große Schritte von ihr entfernt. Die Felswände zu beiden Seiten waren zu hoch, um hinaufzuspringen. In diesem Augenblick wurde alles um Mädchen herum langsamer, so als hätte sich die Luft in etwas Zähflüssiges verwandelt, das jede Bewegung aufhielt. Sie hatte Zeit genug zu bemerken, dass sich ihr Körper wie zweigeteilt anfühlte. Ein Teil in ihr fing schon an, die nackte Felswand hochzuklettern, um zu fliehen. Wenn sie Glück hatte, Haltegriffe fand und schnell war, konnte sie vielleicht weiterleben und jagen. Der andere Teil in ihr blieb an Ort und Stelle und riskierte es, das Kalb von vorn mit dem Speer anzugreifen, dann drüberzuklettern und am Ende des Tunnels in Sicherheit zu gelangen. Obwohl ihr klar war, dass sie nur einen Körper hatte, spürte sie, wie sie beide Handlungen gleichzeitig ausführte. Fast schon erwartete sie, eine zweite Ausgabe ihrer selbst den Tunnel hinunterrennen zu sehen.
»Arruu«, drang es an ihr Ohr. Sofort schnellten ihre beiden Hälften wieder zusammen. Der warnende Ruf kam von Große Mutter. Mädchen riss den Kopf herum und blickte hinter sich. Da sah sie die Bisonkuh. Das große Tier stürmte durch den engen Felstunnel direkt auf sie zu.
Mädchen schmeckte förmlich die wilde Wut der beiden Tiere. Diese Wut würde sie befeuern und ihnen mehr Kraft verleihen. Die Hufe von vorne oder hinten würden ihren Körper mühelos zerschmettern. Die Spitze eines Horns in ihrer Brust würde sie verbluten lassen.
Das große Bison jagte ihr mehr Angst ein, aber sie erinnerte sich, dass der Winterfrost ein Stück aus der Felswand gebissen hatte. Als sie sich auf diesen Unterschied konzentrierte, verloren sich ihre Instinkte. Sie begann, auf die Kuh zuzurennen. Da war eine leichte Erhebung, von der aus sie hoffte, noch rechtzeitig auf die Felswand klettern zu können. Aber die Kuh war zu schnell. Sie stürmte heran, um Mädchen den Weg zu blockieren.
Mädchens Gedanken rasten. Sie wusste, die beiden Hälften ihres Geistes hatten sich irgendwie verbunden. Sie musste wieder zum Kalb zurückrennen. Es zu töten war nicht mehr ihr Ziel, doch wenn ihr nur die Flucht blieb, dann lieber dort, wo mit weniger Widerstand zu rechnen war. Mädchen blieb stehen. In dem kalten, tiefen Schlamm fand sie nur schwer Halt, doch sie grub ihre Fersen hinein und drehte sich um.
»Aruu!«, brüllte sie voller Furcht: tief, guttural, eindringlich. Die Kuh würde ihre Angst spüren. Und sie hörte das große Tier durch den Tunnel donnern. Krumm oder Er hörte sie nicht. Jetzt nahmen Mädchens Ohren nur noch die Geräusche ihres Kampfs wahr. Ihr eigenes Keuchen, das feuchte, wütende Schnauben des Bisons, den schmatzenden Schlamm: All das war so laut, dass sich ihre Sicht trübte. Sie roch den beißenden Gestank ihrer eigenen Angst. Und dann spürte sie den heißen Atem des Bisons im Tunnel. Es war schon ganz nah.
Auf einmal stellten sich ihr alle Haare auf. Das Bison hatte den Kopf gesenkt und zielte mit den Hörnern auf sie. Mit Schaum vor dem Maul und einem spitzen Horn auf jeder Seite seines massiven Schädels schnaubte es drohend. Mädchen blieb keinerlei Fluchtweg. Dies war der Augenblick, dem sich alle einmal stellen mussten: Jetzt ging es um Leben und Tod. Keine Zeit mehr für bewusste Entscheidungen. Sie handelte rein instinktiv. Mit drei großen Schritten würde das Bison bei ihr sein. Der dicke Kopf würde ihre Brust zerschmettern. Hufe stampften, Schlamm spritzte, und heiße, wirbelnde Wut erfüllte die Luft.
Vor Mädchens Augen bewegte sich ein schmaler Streifen Himmel. Sie hatte den Arm gehoben und vors Gesicht gedrückt. Das Bison legte den massigen Schädel schräg. Mädchen konnte deutlich eines seiner tief liegenden, dunklen Augen sehen. Ein langer Speichelfaden hing ihm aus dem Maul. Das breite Hinterteil senkte sich, die Beine stemmten sich gegen den Schlamm und stampften. Noch ein Satz, und das Bison würde seinen Kopf gegen Mädchens Brust rammen.
Es richtete den Kopf zum Angriff nach vorn. Damit aber verschwand Mädchen aus seinem Sichtfeld. Das Bison hatte seine Augen zu beiden Seiten des Kopfes, um besser wahrnehmen zu können, wenn sich Fleischfresser von hinten näherten. Es konnte sogar eine Stelle hinter seinem eigenen Schwanz sehen, doch wie ein Pferd konnte es nicht erkennen, was direkt vor ihm war. Mädchen verschwand im Raum zwischen den Augen des Bisons. Der riesige Schädel berührte schon fast ihre Brust. Mädchen spürte eine letzte, heiße Atemwolke auf ihrer Wange. Dann griff das Bison an.
Erst in diesem Augenblick sah Mädchen Krumm. Er sprang in den Tunnel, auf den Rücken der Kuh. Mit der einen Hand packte er ein Horn, klemmte sich das andere in die Armbeuge und riss den Kopf zur Seite. Beide prallten hart gegen die Felswand. Mädchen wurde jäh zurückgestoßen. Sie sah Hufe und Hörner, Fell und Speichel, und dann wurde alles schwarz.