16

Kurz bevor die Sonne am Himmel erschien, wachte Mädchen auf, verließ die Hütte und ging schweigend hinunter zur Feuerstelle. Sie hockte sich davor, hielt die Hände über die Asche und spürte die Wärme vom Vorabend. Dann neigte sie sich vor und blies auf die noch glimmenden, mit Asche bedeckten Scheite, worauf eines heiß und grellrot aufglühte. Sie holte tief Luft und blies noch einmal. Darauf züngelte eine Flamme an den Zweigen und der Rinde, die sie darüber gelegt hatte. Knackend fingen sie Feuer. Die Wärme berührte ihre Haut. Ein neuer Tag begann.

Schon bald erschien das leuchtende Rund der Sonne am Himmel und überzog ihn mit Farben. Mädchen beobachtete, wie sie den Felsgrat hinaufwanderte und dahinter verschwand. In ein paar Tagen würde sie sogar die Bergspitze küssen. Dann war es Zeit, sich auf den Weg zum Fischsprung zu machen. Beim Gedanken an das orangefarbene Fleisch lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Mit diesem Gefühl war jede Entscheidung überflüssig, es blieb allein der Drang aufzubrechen. Sie würde zum Treffpunkt gehen. Sie würde in Fisch schwelgen. Ihr Bauch würde voll sein.

Mädchen erhitzte Wasser in einem Ledersack, um Bisonfleisch aufzutauen. Wenn sie heißes Wasser in die gefrorene Vorratskammer goss, konnte sie ein paar Stücke von dem Fleisch lösen, das sie nach der Jagd gespeichert hatten. In nächster Zeit würde es mehr als genug zu essen geben. Statt sich von Traurigkeit ablenken zu lassen, bewegte sie den Speichel in ihrem Mund. Sie konnte ihren sonstigen Anteil verdoppeln und essen, wann immer sie Hunger hatte. Das war ihr bislang nur selten möglich gewesen.

Vorsichtig bewegte sie ihre Hand und sah mit Erleichterung, dass ihre Muskeln unversehrt waren. Zwar hatte der Leopard sie heftig gebissen und dabei ein Stück Fleisch abgerissen, aber die Wunde war nicht so schlimm, wie sie gefürchtet hatte. Bevor Mädchen am Abend zuvor in die Hütte gekrochen war, hatte sie sich gezwungen, ihre Wunden zu behandeln. Dazu hatte sie Senfsamen eingeweicht und gekocht. Diese wurden so lange gekaut, bis sie eine Paste ergaben. Als Nächstes hatte sie einen leeren Schildkrötenpanzer mit Wasser gefüllt und ihre Wunde ausgespült. Mit einem scharfen Stein hatte sie das lose Fleisch abgeschnitten. Um ihre Schmerzensschreie zu dämpfen, hatte sie auf ein Stück Fleisch gebissen. Das Blut stillte sie mit der weichen Seite eines gefalteten Lederstücks. Dann bestrich sie die Wunde mit Senfsamenpaste, bis ihr Arm wieder unversehrt aussah. Sie musste stöhnen, so sehr hatte es gebrannt. Um ihren Unterarm hatte sie fest ein Stück ganz dünn geschabtes Leder gewickelt, wie eine zweite Haut. Ihre Finger konnten sich wie sonst bewegen. Sie schwollen nicht an, was ein erstes Anzeichen fürs Absterben gewesen wäre.

Nun hockte Mädchen am Feuer, bewegte langsam ihre Finger und aß ihren Anteil. So würden ihre Beine wieder kräftiger werden. Schon bald hätten sie Muskeln wie Baumstämme und dicke, runde Knie. Sie würde die Große Mutter sein, die sich alle wünschten.

Da kam Mädchen ein seltsamer Gedanke: Vielleicht passte Große Mutter ja auf sie auf. Aber das verdrängte sie sofort. Große Mutter hatte immer gesagt, Tote könnten die Lebenden auf der anderen Seite der Erde nicht sehen. Dennoch hatte sie ein ganz besonderes Gefühl. Vielleicht musste sie sich mit ihrer Mutter verbunden fühlen, wenn sie wach war, weil sie sie im Schlaf nicht mehr spüren konnte.

Da kam Wildkater, rieb sich an Mädchens Beinen und forderte mit zusammengekniffenen Augen seinen Anteil. Wie immer kam er gerade zur rechten Zeit. Mädchen lachte und gab ihm ein dickes Stück. Er riss die Augen auf, weil es so groß war. Vorsichtig, da er im Laufe der Jahre so viele Tritte von der Familie abgekommen hatte, schnappte er es sich und flitzte davon, um es im Schutz der Büsche zu verschlingen.

Schon bald war er fertig und kam zum Holzstapel am Feuer zurück, weil er hoffte, ein Eichhörnchen zu schnappen. Obwohl Mädchen sich sicher war, dass er die Abwesenheit der anderen bemerkte, änderte das nichts an seinen Instinkten. Er verhielt sich genauso wie immer.

Erst jetzt dachte Mädchen an das eine Familienmitglied, das sich noch in der Hütte befand: Mickerling. Sie stieg wieder den Pfad hinauf und schob das Fell zurück, das am Eingang der Hütte hing. Eine Zeitlang konnte sie im Dunkeln nichts erkennen, nur den Atem des Jungen hören. Nach einer unruhigen Nacht verarbeitete er jetzt schlafend die Schrecken des Vortages. Seine Schlafposition brachte sie normalerweise zum Lachen: Er lag mit angezogenen Beinen auf dem Bauch, sodass sein Po in die Luft ragte. So hatte sie noch nie ein Kind schlafen sehen. Als sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, konnte sie die Umrisse seines Körpers ausmachen. Sein Rücken wirkte schmal und weich. Seine Haut war überraschend nackt; im Licht vom Eingang konnte man nur ein paar feine Härchen wahrnehmen. Sie fragte sich, ob er am Rücken noch mehr Haare bekommen würde. Sie hoffte es, weil er so besser jemanden zur Paarung anlocken konnte.

Mickerling seufzte im Schlaf. Abgesehen von praktischen Überlegungen hatte sie sich kaum Gedanken um ihn gemacht. Wie alle in der Familie hatte sie ihren Teil zu seiner Erziehung beigetragen. Wer kochte, achtete auch darauf, dass er aß; wer schlief, zog ihn an sich; beim Jagen sorgten sie dafür, dass er in Sicherheit war, und im Verlauf des Jahres brachten sie ihm alles Notwendige bei. Die Familie wusste, dass ihre Nachkommen sich von denen der anderen Tiere unterschieden. Dachse konnten ihre Jungen im Nest lassen, während sie sich auf Nahrungssuche begaben, aber ein Kind durfte nicht unbeaufsichtigt bleiben. Rehkitze konnten nur wenige Stunden nach der Geburt laufen, während ein Baby über ein Jahr lang auf den Rücken geschnallt werden musste. Es war viel Arbeit, so langsam großwerdende Nachkommen aufzuziehen, doch die Mühen zahlten sich am Ende aus. Nun aber, da die anderen nicht mehr dabei helfen konnten, für Mickerling zu sorgen, war Mädchen ganz auf sich allein gestellt.

Sie erinnerte sich nur noch undeutlich an den Tag, als sie Mickerling in der Nähe des Treffpunkts am Fluss hatten herumstreunen sehen. Keiner von ihnen wusste, wohin er gehörte. Die Familie, die ihn mitgebracht hatte, lebte weiter stromaufwärts an einer Gabelung des Flusses. Sie hatten in die Richtung gezeigt, um auszudrücken, dass sie ihn auf dem Weg zum Treffpunkt gefunden hatten. Vielleicht war er mit einem Erwachsenen unterwegs gewesen, der durch Krankheit, ein Raubtier oder einen Unfall ums Leben gekommen war. Große Mutter hatte so gut sie konnte Witterung aufgenommen und nachgeforscht. Aber sie hatte nichts herausgefunden.

Mickerlings Gliedmaßen waren merkwürdig dünn. Seine Brust war so lang wie ein Bein. Mädchen hatte sich mittlerweile an sein Aussehen gewöhnt, aber am Anfang hatte sie befürchtet, seine hervorquellenden Augen würden ihm aus dem Kopf springen. Seine Stirn war flach, sein Kinn ragte hervor. Sie bezweifelte, dass er bei diesem Aussehen jemanden zur Paarung finden würde. Als er größer wurde, versuchte er, seine Schwäche durch Einsatzbereitschaft wettzumachen. Zwar schien er sich langsamer zu entwickeln, aber sobald er eine machbare Aufgabe sah, übernahm er sie. Deshalb bekam er von der Familie zu essen. Mickerlings Bestreben, sich nützlich zu machen, erhielt ihn am Leben.

Wieder seufzte der Junge und senkte sein Hinterteil auf das Fell, auf dem er schlief. Da hörte Mädchen etwas: ein Rasseln, wie von trockenen Bohnen in einer Schote. Sie erstarrte. Das war unverkennbar eine Schlange. Ohne sich zu rühren, suchte sie die dämmrige Hütte mit den Augen ab. Wenn sie auf eine Schlange trat, würde diese sie beißen.

Zu dieser Jahreszeit musste man besonders auf Schlangen achten, da es morgens noch kalt war und sie über Nacht auskühlten. Erst beim ersten Sonnenstrahl fingen sie wieder an, sich zu bewegen. Einmal, als Mädchen und Er noch klein waren, hatte Er eine rasselnde Giftschlange gefunden, die er für tot hielt, weil sie sich nicht rührte. Er hatte sie sich um den Hals gelegt und so getan, als wäre es ein Riemen für seinen Spielzeugspeer. Er hatte sogar ihre schuppige Nase geküsst. Als er keine Lust mehr hatte, damit zu spielen, hatte er sie auf einen Felsen gelegt, der sich von der Sonne langsam aufwärmte. Mädchen erinnerte sich noch, wie erschrocken Er gewesen war, als die Schlange von der Wärme aufgeweckt wurde und sich ins Unterholz schlängelte.

Jetzt hatte es Mädchen ebenfalls mit einer Schlange zu tun, die aufgewacht war: Das Rasseln verriet es ihr. Langsam schob sie das Fell vor dem Eingang noch mehr beiseite, um Licht in die Hütte zu lassen. Die Schlange konnte sich sogar direkt vor ihren Füßen zusammengerollt haben. Dann hätte sie sie beim Eintreten nur knapp verfehlt. Aber auf dem Boden konnte sie nichts entdecken. Mädchen blickte zu den Kiefernzweigen und betrachtete sie sorgfältig. Die Haut dieser Schlangenart war gemustert wie Baumrinde, sodass sie zwischen den Stützästen der Hütte nur schwer zu erkennen war. Normalerweise waren sie nicht länger als ein Arm, aber das war unwichtig, weil ihr Gift so stark war. Ein Biss von einer ausgewachsenen Schlange konnte einen Körper niederstrecken.

Mickerling lag auf dem Bauch. Einen Augenblick spielten Mädchens Augen ihr Streiche. Sie fragte sich, ob Große Mutter ihm eine Kette gebastelt hatte, als Mädchen nicht da war, denn da war etwas um seinen Hals. Eigentlich wusste sie, dass es die Schlange war, doch ihr Geist suchte verzweifelt nach einer anderen Erklärung. Wenn Mädchen sich zu ihnen stürzte, biss die Schlange vielleicht zu, um sich zu verteidigen. Das konnte auch passieren, wenn Mickerling sich aufsetzte. Sie wollte ihn schon warnen, doch selbst das konnte die Schlange alarmieren. Sie hatte sie schon mit ihrem ersten Rasseln gewarnt. Schlangen warnten selten ein zweites Mal.

Mädchen tat das Einzige, was ihr in den Sinn kam: Sie hielt die Luft an. Dabei fühlte sie sich schwach und unfähig. Mickerling hatte nur noch sie, und sie hörte lediglich auf zu atmen. Als sie sah, wie er nackt, mit der Schlange um den Hals, im Nest lag, übertrug sich seine Hilflosigkeit auf sie. Es war schrecklich, an einem Schlangenbiss zu sterben. Man quälte sich tagelang, die Haut wurde schwarz, und der ganze Körper schwoll an, weil man von innen abstarb. Vor lauter Angst hämmerte ihr das Herz, denn sie wusste, wenn er leiden musste, war das ihre Schuld. Sie hatte nur eine einzige Chance, eine zweite würde sie nicht bekommen.

Sie wartete und beobachtete die Schlange. Sie lag auf Mickerlings Rücken, dicht am Fell. Es sah aus, als wollte sie darunter kriechen, um es dunkel und warm zu haben, doch das Fell war so fest um Mickerling gewickelt, dass sie keine Öffnung fand. Als sie sich weiterschlängelte, musste Mädchen sich große Mühe geben, nicht vor Schreck aufzukeuchen. Es bestand die Gefahr, dass Mickerling von der Bewegung der Schlange aufwachte. Aber er rührte sich nicht. Seine weichen, dunklen Wimpern lagen weiterhin still auf seinen Wangen. Die Schlange versuchte, unter das Fell zu schlüpfen, gab es aber schließlich auf. Sie wand sich weiter, und schon bald hörte man das Rasseln jenseits von Mickerlings Körper. Die Schlange verschwand in den dichten Kieferzweigen.

Rasch verließ Mädchen die Hütte und holte ihren Speer. Sie ging ein Stück um die Hütte herum und entdeckte, dass die Schlange auf der anderen Seite herausgekommen war. Sie schlängelte sich auf die Felswand, als Mädchen mit dem Speer zustach. Sie nagelte den Kopf am Felsen fest und zertrümmerte ihn mit einem Stein.

Später, als Mickerling aus der Hütte auftauchte und sich die Augen rieb, rief Mädchen ihn hinunter ans Feuer. Dort hielt sie einen Stock hinein, um den ein Stück Fleisch gewickelt war, das langsam gar wurde. Zwar blickte er Mädchen kaum an, als er herunterkam, aber er schob ihren Oberkörper nach hinten, um sich auf ihren Schoß setzen zu können. Dann legte er seinen Kopf an ihre Brust und atmete tief ein und aus, als wäre das ganz normal. Offenbar konnte er seine Zuneigung zu Große Mutter mühelos auf Mädchen übertragen. Vielleicht lag es daran, dass sie älter war als er, vielleicht betrachtete er die beiden Frauen als ein- und dieselbe, vielleicht aber auch war es wieder eine seiner merkwürdigen Verhaltensweisen. Er war in vielerlei Hinsicht einfach anders.

Mickerling streckte die Hand aus, schlug zweimal die Finger gegen den Daumen und wartete. Mädchen legte ihm ein Stück abgekühltes Fleisch in die Hand. Er griff zu, und dann hörte sie, wie er schmatzend kaute. Ein beruhigendes Geräusch. Ein Teil in ihr beneidete ihn um seine Geborgenheit. Er wusste, woher sein Fleisch kommen würde. Er wusste, wer ihn beschützen würde. Sie wünschte, für sie wäre das auch so.

Mädchen wies Mickerling an, eine Weile zu spielen, damit sie zusammenstellen konnte, was sie für den Weg zum Treffpunkt brauchen würden. Jetzt konnte sie die besten Wasserbeutel und die besten Speere für sich wählen. Sie konnte mehr Fleisch als sonst in weiches Leder wickeln und auf dem Rücken transportieren. Sie konnten auch zusätzliche Felle mitnehmen, um es warm zu haben. Wenn sie erst mal am Treffpunkt wären, würde sie eine Schutzhütte aus frischen Kiefernzweigen bauen.

Mickerling hockte sich auf die Erde und spielte mit etwas. Als sie zerstreut den Blick zu ihm wandte, sah sie verblüfft, dass er ihre Muschel hatte. Sie fuhr sich mit der Hand an den Hals und merkte, dass sie wohl abgefallen war. Wieso bemerkte sie das erst jetzt? Sie stürzte sich darauf. Vielleicht erschreckte sie Mickerling, aber sie spürte Wut. Es war nicht seine Muschel. Sie fragte sich, ob er sie ihr im Schlaf gestohlen hatte.

»Ne.« Sie entriss sie ihm.

Mickerling erschrak wegen der Schärfe des Worts und ihrer Bewegung. Er riss die Augen auf und starrte sie schockiert an. Und dann verzog er das Gesicht und fing an zu weinen. Mit einem Schlag war sie für ihn so wichtig geworden wie die Sonne. Die Wut in ihrem Gesicht erfüllte Mickerling mit Hitze. Er heulte und schluchzte so heftig, dass es kaum auszuhalten war. Sie hielt sich die Ohren zu, um den Lärm zu dämpfen.

»Schsch«, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch vergeblich. »Krähenkehle«, sagte sie und drückte ihre Finger gegen den Daumen, um ihm zu zeigen, dass er so viel Lärm machte wie eine grässliche Krähe. Aber er heulte immer weiter und gab unverständliche Laute von sich. Das ganze Lager hallte von den Geräuschen aus seiner Kehle wider. Für Mädchens Stimme blieb keinerlei Raum mehr.

Schwerfällig ließ sie sich auf einem der Baumstämme am Feuer nieder. Mit gesenktem Kopf hielt sie sich weiterhin die Ohren zu und wartete darauf, dass das Heulen aufhörte. Wie hatte Große Mutter es geschafft, dass er leise war? So hatte sie den Jungen noch nie heulen hören. Nach einer Weile jedoch verstummte er. Sie sackte vor Erleichterung zusammen und nahm die Hände von den Ohren.

Als sie eine Berührung an ihrem Rücken spürte, schrak sie zusammen. Erst dann erkannte sie, wie gefährdet sie gerade gewesen waren. Da sich alle Sinne nach innen gerichtet hatten, hätte sich ohne weiteres ein Tier anschleichen können. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis das geschah. Schließlich waren sie nur noch zu zweit.

Aber es war Mickerling, der sie berührte. Er hatte Schluckauf, seine geröteten Augen quollen noch mehr hervor als sonst, und seine schmalen Wangen wirkten aufgebläht. Ganz kurz senkte er den Blick. Sie schnalzte leise. Das nahm er als Erlaubnis, sich wieder auf ihren Schoß zu setzen. Seufzend ließ sie es zu. Jetzt hielt er etwas anderes in den Händen: die Hörner. Sie hatte vergessen, sie beim Aufwachen aufzusetzen. Obwohl vergessen es vielleicht nicht ganz traf. Eigentlich hatte sie nie daran gedacht, sie aufzusetzen. Jetzt nickte sie, um ihm zu zeigen, dass alles gut war. Er drückte ihr die Hörner auf die Stirn. Sie verknotete den dünnen, von Große Mutter weich gekauten Riemen unter ihrem dicken Haarzopf, der ihr bis auf den Rücken ging.

Als sie den Kopf hob, sah Mickerling sie bewundernd an. Mit seinen dünnen Fingern strich er ihr eine Haarsträhne zurück und schob ein Horn zurecht, sodass es gerade saß. Ein Ausdruck von Stärke und Stolz zeigte sich auf seinem Gesicht. Er hob die Hand und zeigte ihr seine Handfläche. Sie drückte ihre Handfläche dagegen. Seine Finger reichten nur bis zum mittleren Gelenk ihrer Finger. Seine Haut war dunkel und glatt wie Schiefer, ihre war hell und rau wie Granit. Sie drückten noch fester ihre Handflächen gegeneinander. Er wies auf ihren Hals und dann auf die Muschel, als wollte er fragen, ob er ihr helfen sollte, sie wieder umzubinden. Große Mutter hatte sie Mädchen geschenkt, als sie in Mickerlings Alter war.

Die Muschel hatte etwa die Größe einer Walnuss, und man konnte ein Rauschen hören, wenn man sie ans Ohr drückte. Große Mutter hatte es Mädchen gezeigt. So erkannte Mädchen, dass sie zu den Schattengeschichten passte. Sie wusste, dass die alte Frau weit weggegangen war, bis zu dem Ort, wo das Wasser schmeckt wie schweißbedeckte Haut. Es gab schlimme Geschichten über das Meer, aber auch gute: Es fließt eine ganze Weile immer weiter ins Nichts, bis der Untergrund zu einem Land abfällt, das dem größten Fisch gehört. Wenn der Fisch taucht, bildet das Wasser eine große Welle. Diese Welle setzt sich vom Land des großen Fisches fort bis zum Ufer, wo sie rauschend den Sand aufwühlt. Manchmal strömt sie so heftig heran, dass das Wasser schäumt wie in den Stromschnellen.

Mädchen zeigte Mickerling, wie man sich die Muschel ans Ohr drückt. Er lauschte auf das Rauschen der Wellen, die sich am Ufer brechen. Als er die Augen schloss, spürte er vielleicht das Schäumen der Brandung, den feinen Sand zwischen den Zähnen und den Geruch nasser Felsen. Es war nicht nur das Rauschen; vielleicht konnte er das Meer auch schmecken, riechen und fühlen, wie ein Echo aus der Vergangenheit. Es war etwas, das durch sein Blut strömte. Mit der Muschel am Ohr sah er aus, als wäre er dort.

Später in der Nacht warf Mickerling sich im Schlaf unruhig hin und her und streckte sein Hinterteil in die Luft. Als sie die Augen einen Spalt öffnete, konnte sie seinen Haarschopf sehen, der so schwarz war wie Moos, seinen breiten Mund und die weißen Zähne. Dann wachte er auf und rutschte näher zu ihr, um zu sehen, ob sie schlief. Er wusste nicht, ob er Ärger bekommen würde, wenn er sie weckte. Sein sanfter Atem strich über ihre Wange. Er roch nach Pfefferminze, weil er die merkwürdige Angewohnheit hatte, Grünzeug zu essen. Das machte Wildkater auch. Manchmal ertappte sie ihn dabei, dass er Gras kaute. Aber Mickerling aß noch viel mehr Grünzeug. Er schnüffelte an seltsamen Pflanzen, leckte sich über die Lippen und stopfte sich das Kraut in den Mund, bevor sie es verhindern konnte. Sie befürchtete, dass dies ihn irgendwann umbringen würde. Bislang hatte er Glück gehabt.

Als Mädchen ihm den Rücken rieb, wurde er wieder müde. Sie befahl ihm, in die Kiefernzweige am Eingang zu pinkeln; wenn man das tat, schreckte man in der Nacht die Tiere ab. Danach aß er einen kleinen Streifen Trockenfleisch, trank einen Schluck Wasser und gähnte. Zum Einschlafen schmiegte er sich an sie. Sie beobachtete, wie sich sein Bauch langsam hob und senkte. Die kleinen Hände hatte er unter seine weiche Wange gesteckt. Seine Lippen erschlafften. Aber Mädchen fand noch keine Ruhe. Sie legte sich auf den Rücken und starrte blinzelnd in die Dunkelheit. Morgen würde ein arbeitsreicher Tag werden: Die Reise zum Fischsprung musste vorbereitet werden. Sie kniff die Augen zu, konnte aber einfach nicht einschlafen. Obwohl Mickerling direkt neben ihr lag, fehlte ihr die Wärme der Familie.