Das Land der Familie hatte eine klare Grenze, die zwar durch nichts Sichtbares angezeigt wurde, aber dennoch nicht nur eingebildet war. Die Entfernung vom Lager betrug in jede Richtung etwa eine Tagesreise. Es war durchaus möglich, dass jemand das Land betrat, ohne es zu bemerken, es sei denn, er hatte eine scharfe Nase und roch die Markierungen, die Dachse und Wölfe gesetzt hatten. Aber Mädchen wusste genau, wo sich die Grenze befand. Für sie war es die Gemarkung der Familie.
Zwar durfte Mädchen nicht länger bleiben, doch ohne die Familie war es schwierig zu wissen, was sie tun sollte. Wenn sie bei den anderen war, wachten alle morgens hungrig auf und verbrachten den Tag damit, ihre Bäuche zu füllen. Sie entschied nicht bewusst, sondern rein instinktiv, wohin sie ging. Auch wenn Große Mutter die Richtung vorgab, lenkten doch die Jahreszeiten ihre Bewegungen, die Tiere zeigten ihnen den Weg, und das Wetter entschied, wie schnell sie vorankamen. Aber nichts von alldem geschah jetzt. Ohne Familie hatte Mädchen nichts und niemanden, dem sie folgen konnte. Sie hockte sich an den Fluss und wartete auf die Morgendämmerung. Als grau der Tag anbrach, wurde ihr der Ernst der Lage klar. Im fahlen Licht des Morgens begannen sich hellgrüne Triebe durch den Waldboden zu drücken, doch die Farben wirkten gedämpft, und die Wolken hingen tief. Der Nebel löste sich in einen leichten Nieselregen auf, der auf sie niederging, während sie sich unter die Felsen nahe der Furt kauerte. Es gab nichts Tröstliches.
Als es heller wurde, setzte sie sich in Bewegung. Es hatte aufgehört zu regnen; wahrscheinlich verließ die Familie jetzt die Hütte, daher konnte sie es nicht riskieren, so nah beim Lager entdeckt zu werden. Das würde Große Mutter als Bedrohung betrachten. Mädchen folgte dem Fluss mit der Strömung bergab. Diesen Weg nahmen sie auch zum Fischsprung, daher beschloss sie, bis zur Grenze ihres Landes zu laufen. Sie würde sie überqueren und dort bleiben. So konnte sie in der Nähe der Familie sein, ohne Große Mutter herauszufordern. Allein war sie noch nie so weit weg gewesen.
Mädchen blieb oft stehen, um sich auszuruhen. Wann immer sie einen schönen runden Felsen oder einen bequem aussehenden Baumstamm sah, hockte sie sich mit ihrem kräftigen Körper hin und rieb sich die Füße. Ihre Muskeln waren eher für kurze Strecken, große Sprünge und kräftige Tritte gedacht. Es ermüdete sie, lange zu laufen.
Sie setzte sich auf einen großen Felsen, nahm einen Fuß in die Hand und betrachtete ihre Wade. Sie war rund und geschwungen, und die glänzende Haut spannte sich wie das beste Leder darüber. Sie musste an Große Mutter denken, die oft ihre kräftigen Oberschenkel getätschelt und »Fettbeißen« gesagt hatte, was als Ermutigung gedacht war und hieß: »Behalte nur weiter so viel Fleisch an deinen Knochen.« Wenn sie sich ausruhten, hatte Große Mutter auch oft ihren Kopf getätschelt und »Harz« gemurmelt, was hieß: »Behalte deinen Kopf an dein Fleisch geklebt.«
Für Mädchen fühlten sich ihre Beine an wie Baumstämme. Ein mächtiger Muskel verlief über jeden ihrer beiden kräftigen Oberschenkel, darunter kam ein rundes Knie. Dann folgte eine geschwungene Wade, die bis zu einem robusten Fußgelenk verlief. Während Mädchen sich die Füße rieb, machte sie sich Sorgen, dass diese Gelenke schmaler werden könnten. Ihr Körper brauchte jeden Tag große Mengen von Nahrung, um zu überleben. Ohne die Familie würde sie nicht jagen und Fleisch essen können. Schon bald würden ihre Beine aussehen wie die dürrsten Zweige am Baum, die beim leisesten Windhauch zerbrachen. Mädchens Aussehen war sehr wichtig. Nur die stärksten und eindrucksvollsten jungen Frauen bekamen die Gelegenheit, Große Mutter zu werden. Die anderen konnten bei ihren Familien bleiben oder in andere wechseln, um dort Kinder zu gebären, aber die Macht einer Großen Mutter bekamen sie nicht. Und ein gutes Zeichen für die Stärke – und damit den Wert – eines Körpers waren die Beinmuskeln.
Mädchen wusste, dass sie zu viel an die Zukunft dachte. Das war gefährlich. Zum Überleben musste sie ihren Geist auf das richten, was unmittelbar um sie herum geschah. Sie zwang sich, ihre Sinne nach außen zu lenken: zog die Oberlippe hoch, um Körperwärme zu erspüren, und richtete ihre Nase in den Wind, um Witterung aufzunehmen. Der Leopard folgte ihr nicht, obwohl sie das befürchtet hatte. Er beobachtete sie schon eine ganze Weile. Nun, da sie allein war, sah er vielleicht die Gelegenheit, etwas zu fressen zu bekommen, obwohl er wusste, dass sie keine leichte Beute war.
Als Mädchen die Luft einsog und keinerlei Spuren vom Leoparden roch, war sie fast enttäuscht, dass er nicht da war. Ein Leopard beobachtet seine Beute und wartet geduldig auf eine Möglichkeit zuzuschlagen. Er kann das Verhalten der Beute deuten. Er ahnt voraus, wo sie sein wird, und wartet auf einem Baum. Wenn er sich auf sie stürzt, dann oft aus einer Höhe von mindestens drei Metern. Er zielt auf den Nacken, um dort mit seinen großen Reißzähnen zuzustoßen. Wenn die Beute nicht sofort tot ist, legt er sich auf sie und schnürt ihr mit dem mächtigen Maul die Luft ab. Er wartet, bis sie erstickt und sich nicht mehr rührt, dann frisst er sie. Mädchen wusste, dies wäre ein schneller und sicherer Tod. Die Vorstellung war tröstlich. In gewisser Weise fühlte sie sich schon halb tot. Jemanden aus der Familie zu verbannen war, als würde ein Körperteil abgetrennt.
Gegen Ende des Tages kam Mädchen an eine Stelle, wo das Flusstal schmaler und felsiger wurde. Ein paar Jahre zuvor hatte Große Mutter auf einen Pfad gezeigt, der durch eine Kluft in den Felsen hinauf zur sinkenden Sonne führte. Sie hatte die Handflächen aneinandergelegt, um zu zeigen, dass dort oben ein kleiner Bergsee lag. Jetzt bahnte sich Mädchen einen Weg hinauf und entdeckte, was ihre Mutter angedeutet hatte. Es war ein kleiner, von Quellen gespeister See, der das leuchtende Blau ihrer Augen hatte. An einem kleinen Kiesstrand ging sie in die Knie und schöpfte mit der Hand Wasser. Es verschaffte ihrer Kehle Linderung.
Hier war das Land felsig. Die Flanke des Berges endete in einem großen Plateau, das einen weiteren Blick bot, als Mädchen ihn sonst auf dem Land ihrer Familie hatte. Jetzt konnte sie durch die Bäume hindurchsehen, und dadurch fühlte sie sich schutzlos, als wäre ihre Schädeldecke abgehoben worden. Wie ein Vogel hatte sie die Möglichkeit, die endlos scheinende Weite von oben zu überblicken. Was hieß, dass die Vögel sie ebenfalls sahen.
Aber Mädchen wusste, dass es kein Zurück gab. Jetzt war sie wirklich weg, also hockte sie sich ans klare Wasser und blickte hinauf zum tief hängenden Mond. Er zeigte sich bereits am Himmel, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Der Mond war groß und rund und kam ihr bedrohlich vor. Die Familie glaubte, dass er aus dem kältesten Eis bestand. Man konnte nicht auf der Oberfläche laufen, weil sonst die Fußsohlen festfroren und die Kälte innerhalb weniger Herzschläge durch den ganzen Körper strömte. Auf dem Mond war nur Ödnis, es gab keinerlei Wiesen, wo die Bisons weiden konnten. Es gab keinen Fluss, keine Furt, keine donnernden Hufe, keine süßlich stinkende Bisonscheiße. Auf dem Mond würde man sich nie warm fühlen.
Mädchen schaute sich um und betrachtete die scharfkantigen Felsen und die seidenglatte Oberfläche des Wassers. Momentan lag keinerlei Bedrohung in der Luft. Sie vermutete, dass es hier oben zu karg war, um andere Fleischfresser anzulocken. Als es Nacht wurde, zeichnete sich der Mond deutlich vor dem Himmel ab, was bedeutete, dass er jetzt die beherrschende Macht in diesem Land war. Das Licht des Mondes und der Sterne erstreckte sich über den ganzen Himmel. Mädchens Körper glänzte vom Schweiß der Reise. Ihre Muskeln brannten schmerzhaft. Sie wollte sie abkühlen, damit sie schlafen konnte. Also zog sie am Riemen um ihre Taille und streifte ihren Umhang ab.
Dann watete sie ins Wasser, bis sie knietief darin stand. Es war kalt, aber klar. Eine gute Quelle aus den Tiefen des Berges speiste den See. Mädchen schloss die Augen, hob die Hände zum Berg und spürte, wie er an ihrer Haut zog.
Nachdem sie tief Luft geholt hatte, tauchte sie unter. Vor lauter Kälte stockte ihr der Atem. Als sie wieder auftauchte, brüllte sie sich den Schreck aus dem Leib. Dann tauchte sie wieder unter, aber diesmal langsamer. Unter Wasser war es ruhig und still. Sie tauchte auf und sog tief die frische Luft in sich ein. Sie schwamm nicht, ließ sich aber treiben. Da es flach war, legte sie ihren Kopf zurück. Mit dem Hinterteil im Sand hob sie die Füße.
Als ihre Zehen an der Oberfläche auftauchten, betrachtete sie die Felsen, die den See umgaben. Sie wusste, dass es die Berge schon länger gab als die Familie. Auch die Bäume hier lebten schon länger und waren weiser als sie. Das ganze Gebirge war bereits seit Ewigkeiten da, und der Mond und die Sterne hatten mehr gesehen, als sie sich vorstellen konnte. Sie würde sich schneller verändern als der Fels, und das fühlte sich richtig an. Das waren seltsame Gedanken, doch es gab einen Grund, warum sie so frei umherschweifen konnten. Jetzt war sie kein Teil der Familie. Zum ersten Mal hatte sie keine Pflichten zu erledigen. Kein Bison zu jagen. Keine Zweige im Nest auszuwechseln und kein Feuer anzufachen. Und noch etwas durchströmte sie: ein seltsames Gefühl von Freiheit. Obwohl das nicht unbedingt angenehm war. Ihr Sinn dafür, wie die Zeit verging, war ihr verloren gegangen. Um die Leere zu füllen, beschlichen sie neue Gefühle und Gedanken. Sie gruben neue Pfade in ihrem Gehirn, wie Würmer, die sich durch die Erde bohren und alles umwälzen.
Mädchen ließ sich treiben und betrachtete das unbekannte Land des Mondes. Sie empfand nichts als tiefste Einsamkeit. Unwillkürlich musste sie an den Tod des Bisonkalbs denken und wünschte sich, jemand würde ihr ebenfalls diese Gnade erweisen.
Erst nachdem sie aus dem See gewatet und sich ihren Umhang übergeworfen hatte, kam der dunkle Himmel auf sie nieder und umschlang sie. Angst überfiel sie. Nachts war sie noch nie allein gewesen. Ein paar größere Felsen am See sahen aus wie furchterregende wilde Tiere. In den Bergwänden gab es dunkle Spalten, die wirkten, als wollten sie sie verschlucken. Sie fragte sich, ob sie jemand in der Dunkelheit beobachtete, und ein Gefühl beschlich sie, als ob überall fremde Wesen lauerten, die sie nicht sehen oder riechen konnte. Wenn sie es nicht auf sich nahm, so spät noch ein Feuer zu machen, würde die ungeheure Nacht um sie herum nicht kleiner werden.
Nur eines wirkte freundlich auf sie. Etwa fünf Meter vom Bergsee entfernt stand eine hohe Kiefer. Es war der größte Baum im Umkreis und hatte das nahe Wasser offensichtlich zum Wachsen genutzt. Vielleicht war auch unter ihr irgendwann ein Körper vergraben worden. Mädchen schlich zu dem mächtigen Stamm und legte ihre Arme darum. Ihre Hände konnten sich nicht berühren. Sie schloss die Augen und schnüffelte. Der würzige Geruch war durchdringend und warm. Spürte sie etwas im Baum? Mädchen fragte sich, ob es etwas von der Familie war. Aber da war doch … ein Geräusch. Ein Zweig knackte in der Dunkelheit. Was war das? Sie war nicht allein.
Durch die Finsternis schlich sich ein warmer Körper heran. Genau wie sie kam er vom Pfad, war ihr wahrscheinlich gefolgt. Sie rührte sich nicht und zog ihre Oberlippe hoch. Ihr erster Impuls war, auf den Baum zu klettern, aber möglicherweise handelte es sich um ein Tier, das ebenfalls klettern konnte. Sie stand neben einer Wurzel und hatte die Arme um den Stamm geschlungen. Es war schwer, ihre Sinne hier auf etwas Einzelnes zu richten. Alles war neu. Alles war anders. Ihre Sinne waren überschwemmt.
Sie roch den Atem einer Raubkatze und den säuerlichen Geruch nach Fisch auf Schnurrhaaren: Der Leopard musste sie gefunden haben. Vielleicht lauerte er schon über ihr im Baum und bereitete sich auf den Sprung vor? Am liebsten wäre sie weggerannt, wusste aber, dass das dumm war. Ein Raubtier hat den starken Drang, fliehende Beute zu jagen. Für einen anderen Plan hatte sie keine Zeit mehr, denn etwas Weiches strich an ihrem Bein entlang. Sie schrie auf und zog blitzartig den Fuß zurück.
Da unten bewegte sich etwas, aber wo genau? Ihre Augen huschten über die nächtlichen Schatten. Jetzt war es hinter dem Baum. Sie sah sich nach einem Stein um, der ihr als Wurfgeschoss dienen könnte. Ihr Speer lag am See, also zu weit weg. Konnte sie sich einen abgebrochenen Ast schnappen? Sie kannte sich hier nicht aus. Nichts war nah genug. Ihr Atem ging schnell und zittrig. Dann hörte sie, wie sich ein Kiesel verschob – und mit einem Mal einen Laut: wie ein Zirpen. Aus einer Kehle, die kleiner war als die eines Leoparden. Es war eine Katze. Wildkater war gekommen.